4. Mein Schulleiter ist nicht begeistert
"Aiden", säuselte eine wohlbekannte Stimme, die bei mir Würgreiz auslöste, "Wie gut, dass ich dich sehe."
Ich überlegte für den Bruchteil einer Sekunde, ob ich nicht einfach rennen konnte. Aber das kam mir dann doch irgendwie unverantwortlich und kindisch vor. Nicht, dass ich sonderlich verantwortungsbewusst und erwachsen war, aber früher oder später würde ich mich sowieso den Konsequenzen stellen müssen.
"Der Schulleiter möchte dich sehen."
"Wo ist Olivia?", platzte ich statt einer Antwort heraus.
Sie blinzelte. "Wer?"
"Olivia."
Sie setzte ihr abscheulich perfektes Plastiklächeln auf.
"Aiden, an dieser Schule gab es nie eine Olivia."
Ich starrte sie verständnislos an, doch bevor ich ihr erklären konnte, dass Olivia sehr wohl existierte, forderte sie mich auf, mitzukommen.
Ich dackelte wie ein Hund hinter ihr her, während sie mich zum Büro des Schulleiters führte. Nicht, dass das nötig gewesen wäre, aber so, wie sie mich ansah, traute sie mir garantiert zu, dass ich weglaufen würde, wenn sie nicht da wäre, was ja eigentlich schon stimmte.
Sie öffnete die Tür - auch unnötig - und wartete, bis ich hereingekommen war.
Es gab einen kleinen Vorraum mit zwei Stühlen und einer eingestaubten Pflanze, die augenscheinlich ungefähr einmal im Jahr bewässert wurde.
Dahinter führte eine Glastür in das eigentliche Büro des Schulleiters Mr. Thorn.
Mrs. Johnson öffnete die Tür, ging zu ihm herein, wechselte einige Worte mit ihm, die ich nicht verstand und ging wieder heraus.
"Warte hier", sagte sie lächelnd und ging. Ich setzte mich auf einen der Stühle. Alles war ziemlich hässlich eingerichtet. Es roch staubig.
Gedankenverloren zupfte ich Füllung aus einem ausgefransten Loch im olivgrünen Polster meines Stuhls.
Zugegeben, ich war nicht gerade zum ersten Mal hier. Denn was neben meiner Neigung zur Rebellion oder meiner Unfähigkeit, mich auf Unterricht zu konzentrieren, gab es noch etwas, was meine Lehrer an mir störte.
Ich fehlte ziemlich oft. Ich war so gut wie nie krank und hatte auch keine Termine oder so, ich fehlte einfach. Ich war manchmal auf dem Weg zur Schule, und mittendrin sagte irgendetwas in mir, dass es doch viel besser wäre, in den Wald zu gehen, auf einen Baum zu klettern und nie wieder herunter zu kommen. Ich tat immer mein Bestes, dieser inneren Stimme zu widerstehen, aber meistens dauerte es nicht lange, bis ich mich an irgendwelchen absurden Orten wiederfand. Das lag vermutlich auch daran, dass das, was diese Stimme sagte, meistens wahr war. Sie sagte, geh heute nicht zur Schule, mach lieber etwas anderes- und ich hatte einen schönen Tag gehabt und erst hinterher erfahren, dass heute eine wichtige Klausur anstand oder ein Essay, von dem ich nichts wusste, fällig war.
Das hört sich jetzt ganz gut an- aber erklär du mal deinem Schulleiter, oder schlimmer, deiner Mutter, warum du innerhalb von fünf Monaten 43 Fehlstunden angesammelt hast.
Ehrlich gesagt war es mir ein Rätsel, wie ich nicht schon längst von der Schule geflogen war. Wahrscheinlich hatte meine Mutter ihn angefleht, mir noch eine zweite Chance zu geben.
Das hier war schon in etwa meine fünfte Chance. Sicher war ich mir nicht ganz- irgendwann habe ich aufgehört, mitzuzählen- aber wie jeder angebliche Neustart, den ich je meiner Mutter und Mr. Thorn versprochen hatte, hatte sich auch dieser mal wieder in Luft aufgelöst.
Ich blickte auf. Er saß am Schreibtisch und erledigte irgendwelchen Papierkram, der anscheinend wichtiger war als ich.
Dann aber begriff ich, dass er wahrscheinlich meine Mutter benachrichtigt hatte, um mich abzuholen. Oder um ihr mitzuteilen, dass ich wahrscheinlich nie wieder einen Fuß in dieses Gebäude setzen würde.
Meine Eingeweide verkrampften sich. Meine Mutter. Ich hatte kein einziges Mal an sie gedacht. Aber sie würde wahrscheinlich nicht gern hören, dass ich ml wieder etwas angestellt hatte.
Ich liebte sie über alles. Aber als alleinerziehende Mutter von drei Kindern hatte sie es nicht leicht. Und ich, das Problemkind, machte ihr das Leben nicht einfacher. Und jetzt hatte sie wahrscheinlich Hals über Kopf das Krankenhaus verlassen, in dem sie als Krankenschwester arbeitete und stand im Stau und machte sich Sorgen. Gott, ich hasste mich selbst dafür, ihr einen solchen Stress zu bereiten.
Ich versank weiter in Schuldgefühlen und vegetierte so vor mich hin, als plötzlich die Tür aufging. Ich schreckte hoch.
"Aiden!", rief Mum und umarmte mich. Ich konnte sie nicht ansehen. Ich war zu beschämt über die ganze Geschichte. "Was machst du denn für Sachen?"
Ich wollte ihr sagen, wie leid mir das alles tat. Ich wollte ihr sagen, dass das alles nicht meine Schuld war, wenigstens nicht alles. Aber ich brachte kein Wort über die Lippen.
Mr. Thorn bat uns herein, wir setzten uns auf die Stühle vor seinem mit Papierkram überhäuften Schreibtisch. Von dem was er sagte, bekam ich nur Fetzen mit. "Anfall", "Klassenzimmer verwüstet", "Handgreiflich geworden", "Schulausschluss". Ich verstand das wenige, was ich mitbekam, nicht ganz. Ich sollte das Klassenzimmer verwüstet haben?
Aber jedes Mal, wenn mir diese Zweifel kamen, waren sie im nächsten Moment einfach wie weggeblasen. Ich erinnere mich nicht daran, wie viel Zeit verstrich und auch nicht wirklich daran, wie ich nach Hause kam.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top