Kapitel 2
Benebelt nahm Eileen war, wie sie Querstraße um Querstraße passierten und sich rasant immer weiter aus dem Stadtzentrum entfernten. Aufgeregt folgte ihr Herzschlag dem Tempo des Autos und sie war sich fast sicher, die Tachonadel um Längen mit ihrer inneren Pulsanzeige zu schlagen, selbst, als sie später die aufgehobene Geschwindigkeitsbegrenzung der Autobahn passierten und die rothaarige Fahrerin Vollgas gab. Die vereinzelten Verfolger hatten den Versuch, die beiden noch am selben Tag zur Rede zu Stellen, längst aufgegeben.
Erst mehrere Minuten Höchstgeschwindigkeit mussten vergehen, bevor sich Eileen langsam aber sicher beruhigte. Dann jedoch nahm sie umso klarer die erwartungsvolle Stille war, die sich zwischen den beiden Frauen aufgebaut hatte.
„Ich bin Eileen", versuchte sie also einen möglichst einfachen Einstieg zu machen.
„Freut mich, dich kennenzulernen, Eileen. Ich bin Emma", antwortete die Rothaarige sarkastisch, doch Eileen bemerkte sofort, dass sie trotz allem die leichte Belustigung nicht aus ihrer Stimme verbannen konnte. „Wärst du wohl so freundlich, mir zu erklären, was zur Hölle nochmal gerade passiert ist?"
Zaghaft lächelnd erklärte sie mit wenigen Worten, woher sie gekommen war und warum. Ungläubig lauschte Emma ihren Worten, nur um letztendlich völlig überfordert und unkreativ „Und ich dachte, mein Tag wäre schlimm gewesen" zu antworten. Betreten schwieg sie daraufhin kurz, war doch offensichtlich, dass es nicht das gewesen war, was Eileen hatte hören wollen.
„Und was hast du jetzt vor?", versuchte sie schließlich, die Konversation weiterzuführen, doch das hilflose „Ich weiß es doch auch nicht" von Eileen ließ sie erneut schweigen.
„Vielleicht kannst du zu einer Freundin gehen", versuchte Emma ihr Möglichkeiten aufzuzeigen, doch betreten schüttelte die Jüngere den Kopf.
„Alle meine Freunde und Verwandten waren auf der Hochzeit. Ich will jetzt nicht mit einem Einzigen von ihnen zu tun haben." Unterbewusst gab Eileen nämlich auch ihnen die Schuld an dieser Misere und Unwillen kam in ihr hoch, auf einen dieser Menschen jetzt zugehen zu müssen.
„Ah komm, es wird doch wohl möglich sein, vernünftig mit denen darüber zu reden. Du hast doch nicht das Gesetz gebrochen", entgegnete Emma.
„Ich habe die geschäftlichen Beziehungen zwischen meinem Vater und dessen Partner in Mitleidenschaft gezogen, eben jenem nicht aus den finanziellen Problemen verholfen, meinen Verlobten belogen und verletzt sowie meiner und seiner Familie etwas verheimlicht." Wut über sich selbst, die verfahrenen Situation und die Leichtgläubigkeit der Menschheit flammte in der jungen Frau auf.
„Warte, das ging mir jetzt zu schnell", warf Emma nun wirklich endgültig verwirrt ein. „Du bist doch 'nur' von deiner eigenen Hochzeit abgehauen, oder nicht?"
„Du hast nicht nach dem Grund gefragt", murrte Eileen. „Ich liebe Marc gar nicht. Überhaupt liebe ich keine Männer."
„Ja und? Deshalb spricht man doch nicht der Familie die Fähigkeit einer erwachsenen Konversation ab!", entgegnete Emma mit Nachdruck, bevor langsam ein Gedanken aus ihrem Unterbewusstsein ans Licht drängte.
„Warte mal, wie lange, sagtest du, weißt du das schon?"
„Circa sieben Jahre", antwortete Eileen, wobei ihre Stimme eine ganze Oktave nach oben rutschte.
„Und die Beziehung ging wie lange?" Langsam formte sich ein unschönes Bild in Emmas Kopf zusammen.
„Ungefähr fünf." Eileen wich dem stechenden Seitenblick aus, den Emma ihr zuwarf.
„Du hast fünf Jahre lang eine Beziehung geführt, die von deiner Seite aus niemals aufrichtig war? Du bist sogar bis vor den Altar getreten, bevor du kalte Füße bekommen hast?!" Obwohl sich die beiden keine Stunde kannte, ging Eileen diese unausgesprochene Anklage unangenehm unter die Haut.
Unwohl rutschte sie auf dem Sitz herum und klemmte einmal mehr den Sicherheitsgurt hinter die rechte Schulter, damit er ihr nicht unangenehm in den Hals schnitt.
„Irgendwie habe ich nie den Absprung geschafft", war das Einzige, was sie dazu sagen konnte.
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Emma legte von den Informationen erschlagen den Kopf auf ihre Knie. Sie waren in der Zwischenzeit in ihrer Wohnung angekommen und hatten erst einmal das Schweigen akzeptiert, dass sich nach Eileens Aussage zwischen ihnen breit gemacht hatte. Beide saßen also Gedankenversunken auf der Couch, bis Emma schließlich die Stille durchbrach.
„Mal von dieser ganzen Sache abgesehen: Machen sich deine Eltern keine Sorgen um dich? Du bist Hals über Kopf getürmt, ohne irgendjemandem Bescheid zu geben. Wäre ich an der Stelle deiner Mutter, würde ich wahnsinnig werden", murmelte sie, den letzten Teil jedoch mehr zu sich selbst.
„Keine Ahnung. Man, was mach ich denn bloß?", erwiderte Eileen und wurde zunehmend aufgelöster. Den Umschwung bemerkend, richtete sich Emma wieder auf und sah der Frau zum ersten Mal richtig in die Augen.
„Hör sofort auf. Jetzt wird nicht geweint. Es ist passiert und du kannst nichts daran ändern. Zerbrich dir meinetwegen später deinen Kopf über die philosophische Frage, ob du das Richtige getan hast. Jetzt beiß erstmal die Zähne zusammen und sag allen Bescheid, dass du noch lebst und es dir auch sonst soweit gut geht." Streng hielt Emma den Augenkontakt aufrecht, während sie innerlich für sich feststellte, wie ungern sie einfach die hübsche junge Frau weinend sehen wollte.
„Aber ...", setzte Eileen protestierend an, doch Emma zerschmetterte jedweden Einwand mit einem mörderischen Blitzen in den Augen.
„Kein Aber."
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Was folgte, war ein stummer Kampf. Nicht nur zwischen Emma und Eileen, die sich wortlos mit Blicken duellierten. Nein, auch innerlich kämpften in Eileen zwei Parteien gegeneinander: Vernunft und Angst. Sicher war es richtig, nach diesem völlig überraschenden Abgang alle zu informieren. Es konnte ja sonst was passiert sein, nachdem sie völlig von Sinnen aus der Kirche gerannt war. Aber andererseits konnte man sich doch wohl denken, dass sie einfach nur Abstand zu dieser Katastrophe gewinnen wollte. Gab man nach sowas überhaupt Bescheid? Wie ging man mit sowas um? War sie naiv gewesen, das Ganze einfach so hochgehen zu lassen?
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Ein grollendes „Du rufst jetzt an oder ich setz' dich vor die Tür!", entkam Emma und machte so der Wut in ihrem Bauch platz, jetzt auch noch Teil eines zweiten Trauerspiels von Leben zu sein. Steif stand sie von der Couch auf und ging in die angrenzende Küche, um sich und ihrem ungebetenen Gast ein Glas kaltes Wasser zu holen. Denn natürlich würde sie die Arme nicht aus der Wohnung werfen. Sie benutzte dieses Argument nur als Druckmittel, um Eileen aus der Reserve zu locken, denn viel mehr als das hatte sie gegen sie nicht in der Hand. Sie kannte die Frau ja faktisch gar nicht.
Mit zwei Gläsern in den Händen kehrte sie wenig später ins Wohnzimmer zurück, in dem sie eine telefonierende Eileen mit zerknautschtem Gesichtsausdruck vorfand.
„Nein, Papa, ich komme jetzt nicht zurück. Das ist meine Entscheidung." Stille folgte.
„Ja, ich ruf auch Mama an. Hab dich auch lieb. Ciao." Erleichtert stieß sie die Luft aus und warf sich rücklings auf die Couch, schon die nächste Nummer wählend.
Leise stellte Emma derweil die Gläser auf zwei Untersetzer und setzte sich an die angrenzende Seite der Wohnlandschaft, die ausgezogen auch als Bett diente.
„Hallo Mama", erklang es wenig später bedrückt.
„Ja, mir geht es gut... Wie bitte?! NEIN, ich bin bei einer Freundin." Die Lautstärke der Unterhaltung steigerte sich stetig. „MA-MAAA, ich bin nicht Suizid gefährdet. Mir geht es körperlich wirklich gut." Skeptisch beobachtete Emma den Verlauf des Gespräches über den Rand ihres eigenen Handys hinweg. Ein bestätigendes Gefühl machte sich in ihr breit. Diese Unterhaltung war wichtig, auch wenn Eileen es jetzt gerade vielleicht nicht so sah.
„Ich bitte dich lediglich, meine Entscheidung zu akzeptieren", bat Eileen jetzt mit verzweifelter Stimmlage. „Ich hab dich auch lieb. Wir sehen uns." Mit einem tiefen Seufzen richtete die junge Frau sich wieder auf und griff sogleich nach dem Wasserglas.
„Bist du jetzt zufrieden?", murrte sie Emma nach einem großen Schluck an und lehnte sich zurück, als wäre eine riesige Last auf ihren Schultern zum Ruhen gekommen und hätte ihr alle Kraft genommen, die sie zuvor noch aufrecht im Leben gehalten hatte.
„Annähernd", stimmte die Rothaarige zu und nahm ebenfalls einen Schluck von der kalten Flüssigkeit.
„Schön." Eileen ließ nun auch den Kopf auf die Lehne sinken und schloss müde die Augen.
Danach redeten sie erstmal nicht viel. Beide hatten sehr damit zu kämpfen zu verstehen, was alles an diesem doch sehr besonderen Tag passiert war. Im Stillen kamen sie überein, dass Eileen vorerst bei Emma übernachten durfte. Gemeinsam aßen sie zu Abend, richteten das Bett her und ließen den Tag mit einer mehr als dämlichen Soap im Fernsehen ausklingen.
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Gegenwart
Nachdem ihr Lachen verstummte, legte sich ein verlegener Ausdruck auf ihr Gesicht und ihre Wangen färbten sich in einem sanften Rot.
„Mein Gott, wenn ich jetzt so daran denke, ist es mir unendlich peinlich, wie blöd ich damals war."
„Und am Ende ist es doch gekommen, wie es wollte."
„Ja, ich hab das Unausweichliche nur ein bisschen weiter hinausgezögert." Seufzend legte Eileen den Kopf in den Nacken und genoss die letzte Wärme des Tages.
„Und dann ist es uns beiden um die Ohren geflogen." Glucksend schloss Emma ebenfalls genießerisch die Augen und ignorierte den Seitenblick, den Eileen ihr jetzt sicherlich zu warf.
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