Zweiundzwanzigstes Kapitel

„Mir fällt schwer zu unterscheiden, was Wahrheit und was Lüge ist, wenn der, der mich belügt, immer die Wahrheit spricht" - Ich laufe, Tim Bendzko

Mit einem unschönen Gefühl der Machtlosigkeit sitze ich in Harrys Hose und Oberteil auf dem Bettrand und starre Löcher in die Luft.

Seine Rückkehr sehnlichst erwartend, hebe ich den Kopf, sobald ich ein Geräusch vom Flur vernehme, und als mein Lehrer das Zimmer frisch geduscht und angezogen betritt, verschlägt es mir für einen Moment die Sprache.

Seine Locken sind nass und kringeln sich wild und ich kann nicht begreifen, wie mich jemand auch im Schlabberlook so von sich überzeugen kann. Er trägt ähnliche Kleidung wie ich und sieht dabei für mein, völlig von ihm eingenommenes, Gehirn atemberaubend aus.

„Du könntest alles anhaben und ich würde dich attraktiv finden", spreche ich meine Gedanken aus und beiße mir verlegen auf die Lippe.

Nicht wissend, was er darauf sagen soll, schaut Harry mich an und als er bloß halbherzig lächelt, rutscht mir das Herz in die Hose.

„Habe ich etwas falsch gemacht?", frage ich und meine Brust zieht sich zusammen.

„Ja, wenn du es genau wissen willst", entgegnet er und lehnt sich in einigem Abstand zu mir gegen den Kleiderschrank. „Alleine das hört sich schon falsch an, aber ich muss zugeben, dass du eine Anziehung auf mich ausübst, deren Intensität ich nie erwartet hätte. Ich dachte wirklich, dass die Tatsache, dass du William bist, mich nicht dazu bringen könnte, mich auf dich einzulassen. Aber anscheinend habe ich diesen Vorsatz nach ein wenig Alkohol schnell verworfen. Das Problem ist, dass du nunmal mein Schüler bist und ich vermutlich mit verdammt unschönen Konsequenzen rechnen muss, sollte hiervon jemand erfahren. Und weil du mich ohne zu zögern mehrere Wochen von vorne bis hinten verarscht hast, ist mein Vertrauen zu dir ziemlich bröckelig."

Es ist einer der Augenblicke, in denen ich deutlicher wahrnehme, dass Harry älter ist. Obwohl sein Verhalten vermutlich mehr mit seiner Persönlichkeit als seinem Alter zusammenhängt. Ich weiß einfach zu schätzen, wie ruhig er meistens ist und wie er sich ausdrücken kann. Dass seine Reaktion gestern bei meiner Offenbarung über William anders ausgefallen ist, kann ich ihm nicht verübeln, doch jetzt ist er wieder so, wie er schon oft gewesen ist, während ich mit ihm geschrieben habe. Besonnen und darum bemüht, logisch alle Fakten aufzulisten und diese zu besprechen.

Er hat kein Interesse daran, ein riesengroßes Drama aus all dem zu machen und ein Theater zu veranstalten, bei dem niemand so richtig zu Wort kommt und bloß aneinander vorbeigeredet wird.

„Ich kann nicht mehr tun, als mich aufrichtig dafür zu entschuldigen, was ich mit dir gemacht habe. Und das habe ich bereits. Ich weiß nicht, was ich noch tun soll", erwidere ich und werfe hilflos die Arme in die Luft, nur um sie dann traurig wieder sinken zu lassen.

„Es ist schwer zu glauben, dass du dich plötzlich dazu entschieden hast, mir nun doch die Wahrheit zu sagen. Kannst du das irgendwie nachvollziehen? Niemand kann mir versprechen, dass du mich nicht auch jetzt anlügst und bloß versuchst, mich weiter in den Dreck zu ziehen."

„Welchen Grund hätte ich denn dazu?"

„Vielleicht möchtest du dir bessere Noten erpressen. Vielleicht macht es dir und deinen Freunden Spaß, das Leben eines Lehrers zu ruinieren. Vielleicht willst du mich einfach vor der ganzen Schule blamieren."

„Nichts davon trifft auch nur ansatzweise auf mich zu. Ja, ich war so blöd und bin auf Nialls Idee eingegangen, aber ich habe ihm und den anderen gleich am zweiten Tag verheimlicht, dass wir noch schreiben. Ich wollte dich nicht ausrichten und irgendwann fand ich dich toll. Ich finde dich toll."

„Also wissen sie nichts hiervon?", hakt er nach und hebt die Augenbrauen.

„Eleanor weiß es", gestehe ich, denn ihn anzulügen bringt mich nur noch mehr in Teufels Küche und ich will es mir wirklich nicht mit ihm verscherzen.

Er nickt und überlegt einen Moment still.

„Ich bin mir sehr sicher, dass sie es niemals jemandem erzählen würde, wenn ich ihr nicht die Erlaubnis gebe", setze ich meinem Geständnis hinterher.

„Sehr sicher ist nicht sicher", widerspricht er.

„Wenn ich sie darum bitte, es geheim zu halten, ist es sicher. Ich kann mich auf sie verlassen. Und ich verspreche, ihr nichts von gestern Nacht zu sagen."

„Ich werde dich nicht dazu zwingen, niemandem von dem zu erzählen, was passiert ist", meint er jedoch und zerstört damit meine Vorstellung von Lehrer-Schüler-Romanzen und diesen Krisengesprächen noch ein wenig mehr. Ich weiß nicht, was ich erwartet habe. Vielleicht, dass er mich anbettelt oder mir verbietet, unser Geheimnis preiszugeben. Vielleicht, dass er mir damit droht, mich durchfallen zu lassen, oder handgreiflich wird. Doch er steht ruhig vor mir und meint das Gesagte ernst. „Ich kann nicht von dir erwarten, dass du das Verlangen, über all das zu sprechen, ewig unterdrückst und all deine Sorgen und Gedanken in dich hineinfrisst. Du hattest dein erstes Mal mit deinem Lehrer und noch dazu mit einem Mann. Wenn du das nicht irgendwie aufarbeiten kannst, begleitet dich das länger, als dir wahrscheinlich lieb ist."

„Dann werde ich es allerhöchstens Eleanor erzählen. Und die sagt es keinem weiter, ich verspreche es." Schluckend ringe ich die Hände und hasse es, dabei zusehen zu müssen, wie die schöne Stimmung des Morgens gerade gehörig den Bach hinuntergeht.

„Du kannst machen, was du möchtest, Louis. Aber sollte das hier vor Gericht gehen, hoffe ich, dass du mir nicht in den Rücken fällst. Ich werde es genau so erzählen, wie es passiert ist. Man kann mir sicherlich immer ankreiden, dass ich mit dir geschlafen habe, aber wofür ich nichts kann, ist die Art wie es dazu gekommen ist. Notfalls muss ich darauf plädieren, dass du mich alkoholisiert erwischt hast und dass ich mich regelmäßig versichert habe, ob es dir gefällt. Alles was ich will ist, dass du dann nicht versuchst, Fakten zu verdrehen und mich als den übergriffigen Lehrer darzustellen, der dich gegen deinen Willen vergewaltigt hat, weil so ist es nicht gewesen."

„Ich hatte gerne Sex mit dir und wenn du willst, gebe ich dir auch schriftlich, dass ich freiwillig mitgemacht habe", biete ich an, weshalb seine Mundwinkel sich zum ersten Mal seit Minuten ein wenig heben.

„Das sieht erst recht danach aus, als hätte ich dich gezwungen", stellt er fest und ich zucke beschämt grinsend die Schultern.

„Ich tue alles, was du willst."

„Das ehrt mich, Louis. Aber du solltest nie alles tun, was dir eine andere Person sagt, egal wer es ist. Bis zu einem gewissen Grad natürlich schon, zum Beispiel bei deinen Eltern, aber die eigenen Prinzipien über Bord zu werfen, nur um jemand anderem alles recht zu machen, ist kein guter Ansatz."

„Du bist so weise", sage ich, halb im Ernst, halb im Spaß, und trete damit die nächste Lawine los.

„Wie alt bist du eigentlich wirklich?", fragt Harry mit gerunzelter Stirn. „Einundzwanzig bist du nämlich sicher nicht."

„Ich bin neunzehn", antworte ich zögerlich und bekomme ein noch schlechteres Gewissen, als er tief durchatmet.

„Ich bin verdammte zweiunddreißig Jahre alt, Louis. Und an meinem Geburtstag nächstes Wochenende werde ich dreiunddreißig. Das geht nicht."

„Letzte Nacht und die Wochen davor, in denen wir geschrieben haben, ging es gut", setze ich dem entgegen und richte mich ein wenig auf, um nicht so eingeschüchtert auszusehen. Wenn ich selbst wirke, als wäre ich der Situation nicht gewachsen, wird auch Harry seine Zweifel nicht im Keim ersticken können. „Ist es so ein Unterschied, ob ich einundzwanzig oder neunzehn bin?"

„Es ist ein Unterschied, ob du ein einundzwanzigjähriger Unbekannter oder mein neunzehnjähriger Schüler bist."

„Mir ist egal, wie alt du bist", beziehe ich bestimmt Stellung. „Und dass du mein Lehrer bist, ist für mich auch nicht wichtig."

„Das sagst du jetzt. Was wenn dich einer deiner Schul- oder in weiterer Folge eventuell Studienkollegen damit aufzieht, dass du dich mit mir abgibst. Was wenn du blöde Kommentare abkriegst, weil du mit einem so viel älteren Mann schläfst?"

„Dann sage ich diesen Leuten, dass ich vermutlich besseren Sex habe als sie und dass sie sich nicht in mein Liebesleben einmischen sollen."

„Und wenn sie dir nachsagen, du hättest dir deinen Schulabschluss durch sexuelle Gefälligkeiten erschlichen?"

„Dann weiß ich, dass es nicht stimmt."

„Löst es keine Identitätskrise in dir aus, dass du mit einem anderen Mann aktiv geworden bist? Bei mir ist damals eine Welt zusammengebrochen."

„Nein", erwidere ich und horche einen Moment in mich hinein, um mich zu versichern, dass ich die Wahrheit sage. Doch da ist kein Schock, keine Abneigung und kein Bedürfnis, mir einzureden, dass ich mich nicht bei der nächsten Gelegenheit wieder unter Harry wiederfinden würde. Dass ich ihn nicht wieder küssen und ihn berühren wollen würde, denn ich will es. Und es ist okay für mich.

„Hast du keine Angst, dass es in der Schule komisch für dich wird? Ich möchte nicht, dass du dich unwohl fühlst."

„Ich wusste doch von Anfang an, dass du derjenige bist, mit dem ich schreibe. Es war nicht komisch für mich, ich habe mich eher darauf gefreut, dich zu sehen."

„Ich werde dir keine besseren Noten geben, nur weil wir etwas miteinander haben", stellt er klar und ich zucke erneut die Schultern, denn damit habe ich sowieso nicht gerechnet.

„Ich tue das auch nicht für einen besseren Notendurchschnitt. Ich bin hier, weil ich dich mehr mag, als mir lieb ist."

Schweigend sehen wir uns an und scheinen beide abzuwägen, wie ernst es unser Gegenüber mit uns meint und wie die Chancen für eine Zukunft stehen, in der wir keine getrennten Wege gehen müssen.

„Möchtest du denn noch zu meiner Geburtstagsfeier kommen?", bricht Harry die Stille und stellt damit die Frage, die uns beiden auf dem Herzen brennt.

Möchtest du das mit uns versuchen?

„Wenn ich noch eingeladen bin."

Wenn du es nach dem, was ich getan habe, noch versuchen möchtest.

Erwartungsvoll sehe ich ihn an und in seinen grünen Augen liegt etwas, das mir Herzklopfen beschert.

„Das bist du."

-

Was würdet ihr sagen, wenn ich eventuell ein richtiges Buch mit eigenständigen Charakteren geschrieben hätte und vorhätte, mein Glück bei Verlagen zu probieren oder es im Worst-Case-Szenario selbst zu publizieren? Würdet ihr es lesen?

Alles Liebe,
Maybe

[1684 Wörter]

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