»Du warst für uns einfach weg.«
Als ich in die Küche rollte, knurrte mein Magen wie verrückt. Meine letzte Mahlzeit war inzwischen über zwanzig Stunden her und auch jetzt stand ich wieder vor dem Problem, wie ich mir etwas zu Essen besorgen sollte. Aus Mangel an Alternativen nahm ich mir schließlich einfach einen Joghurt, den ich - immer noch einfach mitten in der Küche sitzend - löffelte. Ich war kein sonderlicher Fan von Joghurt, noch nie gewesen und gerade diese ungesüßten Naturjoghurts, die meine Mutter immer kaufte, mochte ich kein bisschen. In diesem Moment aber war es mir egal, mein Hunger war gestillt und Appetit hatte ich so oder so nicht.
Ein kurzer Abstecher ins Gästebad verriet mir, dass dort wie erwartet weder Zahnbürste oder Zahnpasta, noch Rasierzeug oder zumindest eine Haarbürste waren. Also würde ich wohl oder übel unrasiert und mit Mundgeruch bleiben müssen. Eine Wahl hatte ich eh nicht. Ich spritzte mir eine Hand voll Wasser ins Gesicht - allein das war sitzend schon schwer - und holte aus der Kommode im Flur eine Beanie, die ich mir über das zerzauste Haar zog, um mich zumindest ein bisschen ansehnlicher zu machen. Aus dem Wohnzimmer holte ich mir eine dünne Decke, die ich über meine Beine legte, in der Hoffnung, mich so ein wenig wärmen zu können.
In meinem Zimmer holte ich erneut mein Handy hervor und suchte wieder den Kontakt meiner Freundin heraus, die mir natürlich immer noch nicht geantwortet hatte.
Dieses Mal ohne zu zögern drückte ich auf das Symbol zum Anrufen. Egal, was jetzt kommen würde, schlimmer konnte es eh kaum noch werden.
Es tutete einige Male an, bis sie ranging.
»Tim?«
Ein Schauer lief mir beim Klang ihrer Stimme über den Rücken. Irgendetwas daran stimmte nicht. Überraschte mich das?
»Hi.« Mehr als dieses kleine Wort kam mir nicht über die Lippen. Kein Kosename, keine Nachfrage, wie es ihr ging, nichts. Ich wischte mir über die kitzelnde Wange und spürte, wie meine Finger feucht wurden. »Du hast länger nicht auf dein Handy geschaut, oder?«
Kurz schwieg sie.
»Nee, ich war nicht Zuhause, warum?«
»Ich dachte, du würdest wissen wollen, dass ich wieder aus dem Krankenhaus bin.«
Ich hörte am anderen Ende der Leitung Geräusche, Rascheln und ein leises Knacksen. Sie schien sich zu bewegen.
»Heute schon?«
Hatte ich erwartet, dass sie sich den Tag, den ich ihr für meine Entlassung genannt hatte, aufgeschrieben oder gemerkt hatte? Dass sie darauf gewartet hatte, dass ich ihr endlich schrieb?
»Gestern.«
»Oh.«
Wieder herrschte nichts als nacktes Schweigen, ich hörte meine Jana am anderen Ende der Leitung sich bewegen, sie schien irgendwo hin zu gehen.
»Tim, ich glaube ... Es ist viel passiert in den letzten Wochen. Du warst drei Monate lang weg. Es hätte sein können, dass du gar nicht mehr wieder kommst.«
Ihre Worte taten weh, denn es war klar, worauf sie hinauslaufen würden.
»Ich weiß.«
»Du hättest genauso gut tot sein können. Verstehst du, was ich meine? Du warst für uns einfach weg.«
Du hättest genauso gut tot sein können.
»Ich ... warst du mal bei mir? Im Krankenhaus?«
»Tim, ich ...«
»Warst du?«
»Nein. Ich hatte deine Eltern gefragt, ob sie das für eine gute Idee halten würden. Sie meinten zu mir, dass das keinen Zweck hätte. Tim, du hättest es doch eh nicht gemerkt.«
Warum taten ihre Worte so verdammt weh? Warum tat jeder mir weh?
»Ich ... Es ist auf dem Rückweg passiert. Als ich bei dir war.«
Kurz schwieg sie am anderen Ende der Leitung, als sie dann antwortete, klang sie ein wenig bissig, fast schon angriffslustig.
»Was willst du damit sagen? Dass das meine Schuld war?«
»Nein, ich ... Schon gut. Tut mir leid, dass ich angerufen habe.«
Ich hob das Handy ein paar Zentimeter vom Kopf weg, wollte eigentlich auflegen, als Janas Stimme mich davon abhielt.
»Tim?«
»Ja?«
»Das mit uns beiden hat keinen Sinn mehr. Ich hoffe, du weißt das.«
Ich konnte nicht antworten, konnte nichts, als stumm aufschluchzen. Vielleicht hatte ich es tief in mir drin schon geahnt, vielleicht hatte ich aber auch gehofft, dass es nicht so schlimm war. Nichts davon linderte den Schmerz, den ich in diesem Moment spürte.
»... Tim?«
»Wann ... seit wann ist es aus für dich?«
Ich wollte es wissen, egal, wie sehr es weh tat.
»Es tut mir leid, Tim. Ich ... Wir dachten, du wachst nicht mehr auf. Wir-«
»Ihr?«
»Tobi und ich.«
Dieser Schmerz übertraf nochmal alles, was ich davor gespürt hatte. Mein bester Freund und meine Freundin. Sie hatten mich für tot erklärt. Das war ihnen doch nur passend gekommen. Inzwischen konnte ich meine Schluchzer nicht mehr zurückhalten.
»Seit ... seit wann?«
»Wir sind seit zwei einhalb Monaten zusammen. Du warst drei Wochen lang unansprechbar!«
Ich konnte nicht mehr. Ohne ein weiteres Wort legte ich auf, ließ das Handy einfach fallen.
Nicht die Trennung an sich war das, was so sehr schmerzte, es war die Tatsache, dass die Menschen, die mir so wichtig gewesen waren, mich nach nur drei Wochen vergessen hatten. Es hatte keine drei Wochen gedauert, dass sie vollständig über meinen Verlust hinweggekommen waren.
Meine Freunde hatten mich nicht lange vermisst, meine Freundin noch weniger und auch meinen Eltern schien es fast schon eine Last zu sein, dass ich wieder aufgewacht war.
Ich hatte das Gefühl, dass allen, die mir etwas bedeutet hatten, meine Rückkehr eher ungelegen kam und sofort wurde ein anderer Gedanke übermächtig.
Warum war ich eigentlich noch hier, wem nutzte mein Leben etwas?
Meine Freunde hatten sich lange damit abgefunden gehabt, dass ich weg war, für sie war ich doch schon lange tot gewesen. Meinen Eltern schien meine Rückkehr mehr als nur Gleichgültig, durch den Rollstuhl hatte ich nur noch mehr das Gefühl, nur eine Last für sie zu sein. Andere Verwandte sah ich kaum oder - im Fall meiner Oma - sie erkannten mich nicht mehr. Keinen von ihnen würde mein Tod sonderlich hart treffen. Und ich selbst? Ich selbst hasste mein Leben, wie es jetzt war, doch jetzt schon, hasste die Hilflosigkeit, das Gefühl, in meinem eigenen Körper gefangen zu sein. Ich hing nicht mehr sonderlich an dem, was von meinem Leben übergeblieben war.
Viele Leute fragten sich immer, wer zu ihren Beerdigungen kommen würde, doch die letzten Tage hatten mir gezeigt, dass das nicht das war, was zählte. Zu meiner Beerdigung würden wohl die meisten kommen, meine Klassenkameraden, Freunde, Eltern, Lehrer und Verwandten, weil es sich gehörte und von ihnen erwartet wurde. Wirklich wichtig war doch, wer auch danach noch um einen trauerte, wenn man dann endgültig weg war. Wer auch nach einer Woche, einem Monat oder einem Jahr noch an mein Grab kommen würde. Nicht, weil es gerade passte, nicht, weil es erwartet wurde. Nicht nur ein Anstandsbesuch zu Weihnachten, zu meinem Geburts- oder Todestag, weil man das eben so machte. Weil er um mich trauerte, darum, dass ich nicht mehr war. Und dieser Gedanke war es, der mich schließlich dazu brachte, das letzte Bisschen, was mich hielt, auch noch zu verlieren. Denn ich wusste, mehr als nur sicher, dass niemand kommen würde.
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