»Bist du so weit?«
»Zur Nachbereitung empfiehlt sich Seite 117 und 118. Und denken Sie daran, dass es nach der Pause mit geändertem Raumplan weiter geht!«
Die Stimme des Lehrers ging im allgemeinen Trubel ein wenig unter und auch ich schenkte ihr keine Beachtung mehr. Ich suchte den Blick meines Freundes, der direkt neben mir saß, und wir tauschten ein leichtes Grinsen aus. Der Unterricht war zwar langweilig gewesen, aber wir hatten uns die Zeit gut vertreiben können und für mich war es einfach ein schönes Gefühl, wieder in der Schule sein zu können.
»Hey. Tim.«
Ich sah auf, als meine alten Freunde vor mir auftauchten. Rafi ließ sich halb auf meine Tischkante sinken und auch Alex grinste mich gewohnt breit an. Sogar Tobi war dabei, lächelte leicht, aber hielt sich sonst im Hintergrund.
»Hi.«
Ich versuchte ein möglichst höfliches Lächeln, bekam aber nicht aus dem Kopf, was Stegi mir gebeichtet hatte.
»Geht es dir wieder besser?«
ich wusste nichts anderes zu antworten, als nichts sagend mit den Schultern zu zucken.
»Schon. Bisschen kompliziert noch, mit dem Stoff mitzukommen.«
»Da kann ich dir leider nicht wirklich helfen. Ich bin froh, wenn ich durch das Jahr komm. Aber vielleicht kann Tobi dir gleich in Mathe was erklären? Wir haben durch die Raumwechsel eh keine festen Sitzpläne mehr. Du kannst dich zu uns hocken, wenn du willst.«
Und nicht mehr zu Stegi. Dem Loser.
Auch wenn sie es nicht aussprachen merkte ich doch genau, dass sie exakt das meinten. Ich sah mit voller Absicht nicht zu meinem Mitbewohner, bevor ich ihnen antwortete. Stegi sollte nicht denken, dass ich darüber nachdenken musste, das in Erwägung zog.
»Ich glaub, Mathe schaff ich ganz gut. Und die Lehrer nehmen gerade auch noch total Rücksicht auf mich. Zur Not hol ich mir halt Nachhilfe. Oder Stegi kann mir etwas erklären. Ich schenkte dem Kleineren ein leichtes Lächeln. Ich dachte nicht im Traum daran, jetzt einfach wieder mit meinen alten Freunden mitzugehen und ihn alleine zu lassen. Nicht nach all dem, was seit dem Unfall passiert war und erst recht nicht, nachdem Stegi mir erzählt hatte, wie sie ihn behandelten.
"Super."
Rafis Lächeln wirkte aufgesetzt und unecht.
Die drei Jungs zogen mehr oder weniger zufrieden ab, während ich mich erschöpft im Rollstuhl nach hinten fallen ließ. Stegi lächelte mir zwar lieb zu, wirkte aber selbst eher unsicher. Klar, auch für ihn war die Situation ätzend. Ich hoffte bloß, dass er nicht wirklich daran gezweifelt hatte, dass ich bei ihm bleiben und ihn den Anderen vorziehen würde.
*
"Bist du so weit?"
Stegi steckte seinen Kopf durch meine Zimmertür und grinste vorfreudig. Auch ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen, während ich nickte und mich noch eim letztes Mal in meinem Zimmer umsah. Ich hob meinen Rucksack auf meinen Schoß und bugsierte den Rollstuhl dann durch die Tür, die Stegi mir gentlemen-like aufhielt, in den Flur.
"Deine Eltern sind schon weg, oder?"
Ich nickte und merkte, dass es mich nicht ein Mal mehr störte, wie wenig Zeit sie hatten. Stegi half mir bei allem, was ich nicht alleine konnte und seine Anwesenheit war alle Gesellschaft, die ich brauchte.
Mein bester Freund hatte sich für die Ferien überlegt, dass wir dringend Mal für ein Tage von Zuhause weg mussten. Also hatten wir uns zusammengesetzt und Orte herausgesucht, an die wir wollten und die wir uns auch leisten konnten. Herausgekommen waren drei Tage Camping an der italienischen Mittelmeerküste - länger hatten wir für den Anfang nicht wagen wollen. Gerade mit dem Zelten wussten wir noch gar nicht, wie das mit dem Rollstuhl klappen würde - auch wenn uns versprochen wurde, dass zumindest die Toiletten barrierefrei wären.
Stegis Auto war absolut nicht geeignet für Leute wie mich - und dennoch das Einzige, das wir hatten. Mit der Hilfe meines besten Freundes schaffte ich es, vom Rollstuhl auf den Beifahrersitz zu klettern und Stegi verstaute ihn im Kofferraum, während ich versuchte, im Navi die Route einzustellen.
Da Stegi als Einziger von uns fahren konnte und durfte, legten wir mehrmals Pausen ein. Dadurch verzögerte sich unsere Ankunft zwar ziemlich, aber keiner von uns hatte es sonderlich eilig. Wir hörten Musik, redeten oder schwiegen einfach und dabei war es so schön, dass ich es fast schon schade gefunden hätte, als wir ankamen - wenn da nicht die Aussicht auf drei weitere Tage mit meinem besten Freund gewesen wären, die bestimmt auch absolut toll werden würde. Klar, Zeit mit Stegi zu verbringen war wirklich nichts besonderes mehr für mich. Er wohnte bei uns und wir sahen uns jeden Tag. Aber im Alltagsstress ging gerade dadurch auch diese Zeit irgendwie verloren, sie war nichts besonderes mehr, sondern zur Routine geworden. Aber genau das würde sich die nächsten Tage ändern. Dass ich hier, noch mehr als Zuhause, absolut auf Stegi angewiesen war, störte mich nicht. Es gab niemanden, dem ich mehr vertraute, als ihm.
Als wir ankamen blieb ich der Einfachheit halber im Auto sitzen, während Stegi an der Rezeption alles klärte und sich die Nummer unseres Stellplatzes geben ließ. Dann fuhren wir durch die Schranke, die den Campingplatz absperrte, durch die schmalen Straßen zu der genannten Nummer, wo wir schließlich endgültig stehen bleiben konnten. Ich spürte, wie ein breites Grinsen meine Lippen zierte. Überall hier waren südliche Bäume, das Gras schien trocken und die Luft war selbst durch die nur wenig geöffneten Fenster angenehm warm - ich freute mich unglaublich, hier sein zu können. Auch Stegi hielt kurz inne, sah nur verträumt durch die Windschutzscheibe nach draußen ins italienische Grün und mit jeder Sekunde begann er, breiter zu strahlen. Als er mich schließlich ansah, leuchteten seine Augen förmlich.
»Da sind wir.«
»Ja.«, ich konnte nicht anders, als seinen Blick liebevoll zu erwidern, »Da sind wir.«
Der blonde Junge wirkte wahnsinnig verträumt, mit von der langen Fahrt verstrubbelten Haaren, diesem glücklichen Lächeln und seiner Ausstrahlung, die einen förmlich spüren ließ, wie sehr er sich gerade freute, hier zu sein.
Als er nach meiner Hand griff, drückte ich seine leicht und in dem Moment konnte ich mir nichts schöneres vorstellen, als diesen Moment mit meinem besten Freund erleben zu dürfen.
»Wollen wir?«
Ohne lange zu zögern, nickte ich. Stegi hielt noch einen Moment inne, ehe er meine Hand wieder losließ und aus dem Auto ausstieg. Ich wartete, während er meinen Rollstuhl aus dem Kofferraum holte und vorbereitete. Als ich die Beifahrertür öffnete, traf mich die Hitze, trotz der Vorwarnung, die sie durch den Spalt des leicht geöffneten Fensters geschickt hatte, irgendwie unerwartet. Ich schaffte es, in den Rollstuhl zu klettern. Kaum saß ich, ging Stegi vor mir in die Hocke und richtete für mich meine Schuhe, die ich während der Fahrt ausgezogen hatte und im Auto nur wieder notdürftig anbekommen hatte. Natürlich hätte ich das auch selbst machen können - aber meistens kam mir der Kleinere zuvor - und anders als bei anderen Leuten störte es mich bei ihm auch nicht, wenn er mir ungefragt half. Stegi kannte mich, kannte meine Behinderung genau so gut, wie ich, hatte sie ja mit mir zusammen kennen gelernt. Er wusste, was ich konnte und nicht konnte, ihm brauchte ich nichts zu beweisen und vor ihm brauchte ich mir nichts zu beweisen. Und irgendwie fühlte es sich bei ihm jedes Mal wie eine Zuneigungsbekundung an, wenn er mir half, ein Zeichen, dass er für mich da war - und nicht wie der Versuch, mir meine Selbstständigkeit absprechen zu wollen.
Stegi war das, was zwischen den Extremen lag.
Er gab mir nicht das Gefühl, egal zu sein, wie meine Eltern es oft taten. Im Gegenteil gleich er oft aus, wo andere versagten, mir entgegenzukommen.
Andererseits sagten seine Taten aber auch nicht, dass er mir nichts zutraute.
Wenn er mir manchmal die einfachsten Sachen abnahm, dann wusste ich, dass er es tat, weil er mir damit einen Gefallen tun wollte und weil es sich für ihn einfach wie eine Selbstverständlichkeit anfühlte. (Er wusste, dass ich das auch selbst konnte, er wusste aber auch, wie anstrengend es für mich war.) Immer wieder bewies er mir, dass er eigentlich noch viel mehr an mich glaubte, als ich es tat - wenn er mich zu Dingen brachte, an die ich es nicht mal wagte, zu denken. So wie das hier - war es nicht eigentlich komplett irre, zelten zu gehen, wenn man nicht ein Mal laufen oder eben Mal so in ein Zelt krabbeln und in den Schlafsack schlüpfen konnte?
Ja, was wir hier geplant hatten war komplett verrückt, das wussten wir wahrscheinlich beide. Aber genau so wussten wir, dass ›irre‹ nicht ›unmöglich‹ hieß und manchmal ›verrückt‹ nur eine Herausforderung war.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top