Pixie

Ich ziehe die schwarzen Spangenschuhe aus und halte sie in einer Hand fest, während ich vorsichtig über das Geländer steige. Mit dem furchtbar kurzen Kleidchen, das ich trage, tatsächlich keine so leichte Aufgabe. Etwas umständlich drehe ich mich so, dass ich mit dem Rücken zum Haus stehe und mich rückwärts am kalten Metallgeländer festhalte. Die Kante des Balkonbodens schneidet unangenehm in meine Füße, die in weißen Overkneestrümpfen stecken.

Unschlüssig schaue ich in die dunkle Tiefe hinab. In bin im ersten Stock, es sind etwa drei Meter bis zum Boden. Allerdings kann ich bei der spärlichen Beleuchtung nicht sehen, ob es weicher Rasen ist oder doch ein anderer Untergrund. Außerdem wird mich meine Mitbewohnerin garantiert erwürgen, wenn ich ihre schönen Strümpfe mit Grasflecken besudle.

»Spring nicht«, höre ich plötzlich eine tiefe Stimme hinter mir.

Vor Schreck zucke ich heftig zusammen und lasse beinahe das Geländer los, als mich eine warme Hand am Oberarm packt. Reflexartig schaue ich über meine Schulter und sehe in ein Paar dunkler Augen, kann das Gesicht, das im Schatten liegt, aber kaum erkennen.

»Diese Höhe bringt dich nicht um, du tust dir höchstens weh«, sagt der Fremde und scheint keine Anstalten zu machen, mich loszulassen.

Wäre diese Situation hier gerade nicht so heikel, hätte ich wahrscheinlich gelacht.

»Ich hab nicht vor, zu springen«, gebe ich genervt von mir und schüttle seine Hand ab. »Aber fast wäre ich es wegen dir vor Schreck, Blödmann.«

Endlich lässt er mich los und entfernt sich ein paar Schritte von mir. Als er sich seitlich zur großen Balkontür, welche ins Haus führt, stellt, offenbart der sanfte Lichtstrahl, der auf ihn fällt, sein Gesicht.

Es ist Nevan McKinney, ein Kommilitone, den ich in aus dem Kurs Technische Mathematik kenne. Was heißt kennen ... Er ist mir schon häufiger aufgefallen, denn mit seinen langen, dunkelbraunen Haaren, die er oft zu einem tiefen Pferdeschwanz oder als Man Bun trägt, und die zahlreichen Tattoos, die seine Arme und Waden zieren, fällt er oftmals aus der Reihe der ordentlich gestriegelten Mathematik-Studenten, die sich ganz vorne einer jeden Vorlesung tummeln. Ich habe bereits zahlreiche Vormittage damit verbracht, schräg hinter ihm zu sitzen und möglichst unauffällig seine Körperbemalung zu bewundern. Klingt creepy? Vielleicht ein bisschen. Das Bisschen Schwärmerei gönne ich mir zwischen Integral- und Differentialrechnungen.

Nevan greift lässig in seine Hosentasche und holt eine Schachtel Zigaretten sowie ein Feuerzeug hervor. Ich beobachte ihn skeptisch. Heute trägt er seine Haare komplett offen und sie fallen ihm leicht gelockt über die Schultern. Mein Blick fällt automatisch auf seine kräftigen Arme, die leider durch eine schwarze Jacke verdeckt werden.

»Willst du auch eine, Kleines?«, fragt er unvermittelt und ich zucke ertappt zusammen. Geduldig hält er mir die Schachtel hin, während er sich mit der anderen Hand eine Kippe zwischen die Lippen steckt.

»Kleines?«, wiederhole ich entsetzt und ignoriere sein Angebot. »Hast du mich ernsthaft Kleines genannt?«

Nevan lässt den Arm sinken und zuckt mit den Schultern. »Süße? Baby? Was weiß ich, wie Mädchen wie du gerne angesprochen werden.«

Mit offenem Mund starre ich ihn an. »Mädchen wie ich? Was zum ...«

Seine linke Augenbraue zuckt, als er mich demonstrativ von oben bis unten mustert.

Oh. Gott. Mir wird heiß – und das nicht aufgrund seines durchdringenden Scanner-Blickes, sondern weil mir wieder klar wird, wie ich aussehe. Meine normalerweise naturroten Locken stecken unter einer Perücke mit mittellangen, hellbraunen Haaren und in meinem Gesicht befindet sich gefühlt eine halbe Tonne Schminke, die meine zahlreichen Sommersprossen verdeckt und meine grünen Augen riesig wirken lässt. Das enge, hellblaue Kleid mit der weißen Schleife um meine Taille und den Kunstblutflecken auf Brust und Bauch reicht mir gerade so bis zur Mitte meiner Oberschenkel. Eigentlich viel zu knapp für das, was meine Verkleidung darstellen soll. Aber Jinjin, die Kostümdesign studiert und mit der ich mir ein Zimmer im Wohnheim teile, wollte aus uns beiden die sexy Version der Grady Twins aus Stephen Kings »Shining« machen. Innerlich verfluche ich sie mal wieder, dass sie die kürzlich gewonnene Wette gegen mich ausgerechnet hierfür verwendet. Sie weiß ganz genau, dass ich ansonsten niemals mitgemacht hätte. Aber wie sagt man so schön? Wettschulden sind Ehrenschulden. Und ich weiß jetzt schon, dass es das erste und letzte Mal war, dass ich gegen sie gewettet habe.

»Wir sind auf einer Halloween-Party. Dir ist schon klar, dass das hier nur ein Kostüm ist?«, frage ich schnippisch und fuchtle mit einer Hand vor meinem Kleid herum. Als wären die Blutflecken nicht offensichtlich genug.

Meine hektischen Bewegungen bringen mich ganz kurz aus dem Gleichgewicht, sodass ich mich eilig wieder am Geländer festkralle. Aus dem Augenwinkel nehme ich wahr, wie Nevan einen Ausfallschritt in meine Richtung macht, sich aber besinnt, als ich den Halt wiederfinde. Stattdessen tritt er vor und lehnt sich direkt neben mich ans Geländer.

»Shining?« Seine Mundwinkel zucken, als er mich weiterhin mit diesem durchdringenden Blick mustert. Er nimmt einen tiefen Zug seiner Zigarette.

»Ist das nicht offensichtlich?«, entgegne ich und rümpfe angewidert die Nase, als er den Rauch entweichen lässt.

»Und wo ist deine Zwillingsschwester?«

Ich schnaube frustriert. »Erforscht gerade wahrscheinlich die Mandeln irgendeines Kerls.« Zumindest war dies das letzte Bild, welches ich auf Jinny erhaschen konnte, bevor ein kleiner Zwischenfall mich zur Flucht gezwungen hat.

Nevan lacht leise. »Und dir ist nicht so nach knutschen zumute, Kleines?«

»Nenn mich nicht so«, fauche ich, »oder dir ergeht es ähnlich wie diesem Football-Typen eben.«

»Sag bloß«, beginnt er langsam und Erkenntnis breitet sich auf seinem Gesicht aus, »du bist diejenige, die Diego in die Eier getreten hat.«

Oh, oh, Pixie, die Schlägerbraut. Das spricht sich bestimmt schnell herum.

»Hat er verdient«, sage ich. »Wenn schon sein Erbsenhirn ein Nein nicht kapieren will, so haben es seine Weichteile hoffentlich.«

Nevan pfeift anerkennend und ich kann mir ein leichtes Lächeln nicht verkneifen. »Du hast einen ganz schönen Trubel da unten ausgelöst. Die halbe Mannschaft ist auf der Suche nach dir.«

Mein Lächeln verschwindet schlagartig und mir läuft es eiskalt den Rücken herunter. »Ich weiß.«

»Deswegen versuchst du, über den Balkon zu fliehen?«

Ich presse die Lippen aufeinander. »Willst du mich verpfeifen?« Mein Herz schlägt mir bis zum Hals, als ich zu Nevan schaue.

Dieser schüttelt zu meiner Überraschung mit dem Kopf. »Ich finde es gut, dass du dich gewehrt hast. Die meisten Weiber da unten lassen ihn einfach ran und als Star-Quarterback«, er betont das Wort mit einer gewissen Häme, »glaubt er, sich alles erlauben zu können. Wurde langsam mal Zeit, dass er eine deutliche Abfuhr bekommt, vor allem von einem heißen Mädel wie dir. Das kratzt sicher schön an seinem Ego.« Er lacht leise und ich starre ihn wieder sprachlos an.

Meine Wangen glühen – auch wenn man das unter der ganzen Schminke sehr wahrscheinlich gar nicht sehen kann. Hat Nevan McKinney mich gerade ernsthaft als heiß bezeichnet? Normalerweise würdigt er mich keines zweiten Blickes im Kurs. Und ich bezweifle langsam, dass er überhaupt weiß, dass ich existiere. Zumindest haben wir bis vor wenigen Minuten kein einziges Wort in den letzten paar Monaten, die seit Semesterbeginn vergangen sind, gewechselt. Allerdings kann ich es ihm auch nicht verübeln, wenn er mich nicht erkennt, denn ich selbst habe vor einigen Stunden noch ungläubig im Spiegel in das Gesicht einer völlig Fremden geschaut. Jinny hat ganze Arbeit geleistet.

»Ich könnte versuchen, dich hier herauszuschmuggeln«, sagt Nevan und unterbricht damit meinen Gedankengang.

»Und wie? Durch den Eingang wird es schwierig, ohne einem dieser Football-Typen in die Arme zu laufen.«

Er schaut mich nachdenklich von der Seite an und atmet den Rauch durch seine Nase aus. »Ich gebe dir meine Jacke, damit versteckst du das auffällige Kleid. Und wenn uns jemand über den Weg läuft, decke ich dich mit meinem Körper und wir tun so, als würden wir rummachen.« Er zuckt mit den Schultern, als wäre es das Normalste auf der Welt, und zerdrückt die Zigarette im Aschenbecher, der auf dem kleinen Tisch neben ihm steht.

Mir wird schon allein von der Vorstellung, wie Nevan sich gegen mich drückt, zu warm.

»Und das soll klappen?«, frage ich misstrauisch und beiße mir auf die Unterlippe.

»Ich kann sehr überzeugend schauspielern, wenn es sein muss«, antwortet er und beugt sich dabei so weit zu mir vor, dass ich seinen Atem auf meiner Haut spüren kann. »Und in diesem Fall müsste ich es das nicht mal, denn«, sein Blick heftet sich an meine Lippen und ein Schauer jagt mir den Rücken hinab, »ich würde es tatsächlich mit Vergnügen tun.«

Ein verräterisches Kribbeln zwischen meinen Beinen zeigt mir hämisch, wie gerne mein Körper dieses Vorhaben in die Tat umsetzen würde. Mein Kopf ist allerdings anderer Meinung. Ruckartig atme ich aus, als mir in dem Moment bewusst wird, dass ich die Luft angehalten habe. Ein verschmitztes Grinsen erscheint auf seinen Zügen, als er meine Reaktion offensichtlich mitbekommt. Mein Herzschlag gleicht einem Trommelwirbel.

»Du willst es wohl auch darauf anlegen, einen Tritt zu kassieren?« Das Adrenalin in meinem Körper lässt mich gerade sehr mutig erscheinen.

Nevans leises Lachen lässt mich angenehm erschaudern. »Ich würde dieses Risiko allemal eingehen.« Plötzlich stemmt er sich vom Geländer weg und hält mir einladend seine Hand entgegen. »Versuchen wir's?«

Ich zögere, drehe mich schließlich um und schwinge wortlos mein Bein über die Brüstung. Er wertet meine Handlung wohl als Zustimmung, denn zeitgleich damit öffnet er seine Jacke und zieht sie aus. Bevor ich ihm diese abnehme, schlüpfe ich erneut in die Schnallenschuhe und kremple die Overknees so um, dass sie eher wie Stulpen aussehen. Blütenweiße Beine fallen im Schwarzlicht eventuell auf. Dankend nehme ich Nevan die Jacke ab und lege sie mir um. Wärme umfängt mich und ein angenehmer Geruch nach einem herben Parfum steigt mir in die Nase. Ich atme unwillkürlich tief ein und schiele dabei auf Nevans nun freigelegte Arme. Es ist zu dunkel, um seine Tattoos richtig zu erkennen, dabei hätte ich sie sehr gerne mal aus der unmittelbaren Nähe betrachtet.

»Der Reißverschluss klemmt manchmal ein bisschen«, raunt er plötzlich und greift nach meinen Händen. Erst jetzt fällt mir auf, dass ich anscheinend mehrmals hintereinander ohne Erfolg versucht habe, die Jacke zu schließen. Sanft schiebt er meine Hände beiseite und zieht den Verschluss bis obenhin. Dadurch, dass Nevan gut eineinhalb Köpfe größer ist als ich, ist die Jacke beinahe so lang wie das Kleid. Nur der Saum ist noch zu sehen.

»Perfekt«, kommentiert er und setzt mir die Kapuze auf, ehe er nach meinen künstlichen Haaren greift. »Ist das eine Perücke?«

Ich nicke. »Abnehmen wird jetzt schwierig. Jinny hat da eine Menge Zeug reingesteckt, damit es hält. Das muss sie wieder auseinanderfummeln.«

»Jinny?«, fragt er interessiert nach und hält weiterhin eine der vorderen Strähnen fest. Seine Hand ist meinem Gesicht ganz nah, mein Nacken kribbelt.

Ich räuspere mich und senke den Blick. »Jinjin ist meine Mitbewohnerin. Sie studiert Kostümdesign und hat mich dementsprechend eingekleidet. Ist eigentlich nicht mein Stil.«

Nevan lacht. »Ist Jinny die zweite Hälfte der Grady Twins

»Exakt.«

»Willst du sie auf dem Weg suchen?«

Ich schüttle den Kopf und stopfe die Haare, die unter der Kapuze hervorschauen, tiefer hinein. »Nicht nötig. Wahrscheinlich ist sie schon gar nicht mehr hier.«

»Alles klar.« Er schmunzelt. »Bevor wir den Ausbruch wagen, wüsste ich gerne deinen Namen.«

Ich zögere kurz. »Pixie.«

»Ich bin Nevan«, sagt er und grinst. »Ungewöhnlicher Name, Pixie. Wo kommt der her?«

»Das erzähle ich dir vielleicht, wenn ich unbeschadet hier herauskomme«, antworte ich zwinkernd.

Nevan lacht. »In Ordnung. Dann wollen wir dich mal hier herausbringen.«

Nevan und ich gehen langsam die Treppe hinunter, die ins Erdgeschoss führt. Bereits im mit Spinnenweben und anderem Halloween-Kram dekorierten Flur kann man den harten Bass, der aus dem großen Aufenthaltsraum dringt, beinahe fühlen. Es ist mir noch immer ein Rätsel, wie man ein Studentenwohnheim in eine Disco verwandeln kann, ohne Probleme mit der Hausleitung oder dem Sicherheitsdienst zu bekommen, aber offensichtlich genießen einige Menschengruppen hier mehr Freiheiten als andere – oder die Bestechung ist groß genug. Anders kann ich mir nicht erklären, wie man Sicherheitsvorschriften derart missachten kann. Der Flur, der im Notfall eigentlich auch ein Fluchtweg sein soll, ist nur spärlich beleuchtet und mit Stolperfallen versehen. Einige aufgestellte Lampen flackern und sollen eine gruselige Atmosphäre schaffen. Bei mir hat die Gänsehaut allerdings andere Gründe.

Auf dem Weg zum Ausgang halte ich mich ganz dicht hinter Nevan. So dicht, dass ich mit der Nase direkt in seinen Rücken hineinlaufen würde, sollte er abrupt anhalten.

»Weißt du denn, wer alles zur Mannschaft gehört?«, frage ich leise und schaue mich unruhig um. Ich habe keinen blassen Schimmer, nach wem wir überhaupt Ausschau halten müssen. Nicht alle haben ihre Trikots oder Jacken mit Logo darauf an. Vor allem weil die meisten hier für Halloween verkleidet sind.

Nevan nickt. »Gezwungenermaßen.« Er wird etwas langsamer, als uns eine Gruppe kichernder, blutverschmierter Krankenschwestern entgegenkommt. »Diego ist mein Mitbewohner und da bekommt man nach und nach alle seine Teamkollegen irgendwann zu Gesicht.«

Ich bleibe ruckartig stehen und halte ihn am T-Shirt fest, damit er ebenfalls anhält. »Das ist nicht dein Ernst.«

Nevan wendet sich zu mir und grinst frech. »Keine Sorge, ich werde schweigen wie ein Grab.«

Nachdenklich beiße ich mir auf die Unterlippe und halte ihn nochmal auf, als er sich bereits wieder zum Weitergehen umdreht.

»Was willst du dafür haben?«, frage ich. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass er mir ohne Hintergedanken hilft. Wir sind schließlich keine Freunde, eigentlich nicht mal flüchtige Bekannte.

»Nichts«, antwortet er sogleich und zuckt mit den Schultern. »Ich hab dir ja gesagt, dass ich es gut finde, wenn er mal eine deftige Abfuhr bekommt. Ich helfe dir nur, nicht zur Zielscheibe von ihm oder seinen Fan-Girls zu werden.«

Perplex blinzle ich ihn einige Mal an. Durch die schweren, künstlichen Wimpern fühlt es sich eigenartig an, sodass ich mich schnell wieder besinne und ein »Danke« murmle, ehe wir unseren Weg fortführen.

Nach den nächsten zwei Abbiegungen – ich habe gar nicht mitbekommen, dass ich auf meiner Flucht vor Diego so weit gelaufen bin – kommt uns niemand entgegen, der mich zum Verstecken zwingen würde. Doch natürlich wäre es zu glatt gelaufen, hätten wir es ohne Probleme bis zum Ausgang geschafft. Wie so oft gilt: Karma is a bitch. Nur wenige Meter vor der großen Flügeltür, die mit einem Haufen Grimassen schneidender Kürbisköpfe dekoriert worden ist, bleiben wir gleichzeitig stehen, als eine Gruppe von vier, fünf Leuten das Gebäude betritt. Ich erkenne Diego sofort, denn er hat sich ausgesprochen kreativ als Football-Spieler verkleidet. Lediglich seinen Helm und seinen Tiefschutz hat er weggelassen, was er nach meiner gezielten Knie-Attacke auf seine Klöten ganz sicher bereits bereut hat.

Eilig dreht sich Nevan zu mir um und ich kann mir vorstellen, wie panisch mein Blick sein muss.

Ich handle instinktiv, greife nach seinem Gesicht und ziehe ihn mit einer fließenden Bewegung zu mir runter. Zeitgleich stolpere ich zwei Schritte rückwärts und knalle unsanft gegen die Wand, ehe sich Nevans harter Körper gegen mich presst. Der Aufprall drückt mir die Luft aus den Lungen. Doch ich habe keine Zeit, nochmal kräftig einzuatmen, als ich meine Lippen stürmisch auf Nevans drücke. Seine langen Haare fallen herab, wie ein Blickschutz für unsere Gesichter.

Mein Herz setzt zum Hindernislauf an und sprintet in meinem Brustkorb. Der erste Sprung ist wie ein Blitz, als Nevan meinen unbeholfenen Kuss-Angriff erwidert. Der zweite gleicht einem Stillstand, als sich seine rechte Hand auf meine Taille legt und er sich mit der anderen an der Wand neben meinem Kopf abstützt. Sein Hitze ausströmender Körper verliert den Kontakt zu meinem, doch unsere Lippen sind immer noch versiegelt. Das Blut rauscht in meinen Ohren und mein Herz schlägt so schnell wie ein Kolibri mit seinen Flügeln.

Ich atme ruckartig ein, als seine Zunge vorsichtig über meine Unterlippe streicht, und keuche in seinen Mund hinein. Nevan nutzt den kurzen Moment, in dem ich die Lippen leicht öffne, und intensiviert den Kuss. Seine Finger graben sich tief in meine Seite. Ich nehme seine Berührung so stark wahr, als wären da keine zwei Kleiderschichten im Weg.

Mein Gehirn fährt die Systeme endgültig herunter – und gefühlt nur einen Augenblick später schnappe ich erneut nach Luft, als Nevan meinen Mund wieder freigibt. Unsere Lippen sind sich so nah, dass ich ein Kribbeln auf meinen spüren kann. Oder woher kommen diese kleinen Funken, die meine Haut prickeln lassen?

»War der Plan nicht, das Rummachen nur so aussehen zu lassen?«, fragt Nevan leise. Sein Atem geht genauso schwer wie meiner.

»Entschuldige«, wispere ich. »Synapsenfehlschaltung.«

Ein Grinsen erscheint auf seinen Zügen und lässt mich schlucken. »Gefällt mir.«

Mit diesem Kommentar stemmt er sich von der Wand ab, greift nach meiner Hand und zieht mich aus dem Gebäude. Ich habe gar nicht mitbekommen, wie Diego mit seinen Kameraden an uns vorbeigegangen sind, denn im Flur sind sie bereits nicht mehr zu sehen. Im Laufschritt eilen wir die kleine Treppe hinab und überqueren den nahegelegenen Parkplatz, auf dem uns nur sporadisch andere Studenten entgegenkommen. Wir halten erst an, als wir das zweite große Studentenwohnheim auf unserem Weg hinter uns lassen.

Nach Luft japsend lasse ich mich gegen einen der großen Bäume, die vor geschätzt hundert Jahren auf dem Campus des Montana State Colleges gepflanzt wurden, fallen und fange an zu lachen. Der kühle Wind, der um meine nackten Beine weht, fühlt sich großartig auf der erhitzten Haut an. Mein Puls rast und mein Körper kribbelt.

»Du bringst mich ganz schön ins Schwitzen, Kleines«, sagt Nevan grinsend und fährt sich mit einer Hand durch die langen Haare.

»Du sollst mich nicht so nennen.« Mein Protest klingt dank der stoßartigen Atmung ziemlich kläglich und halbherzig, vor allem weil sich dabei unerhörterweise ein Lächeln auf meine Lippen schleicht.

Nevan lacht, greift in seine Hosentasche und holt ein Haargummi hervor, mit dem er sich die Haare nach hinten bindet. Sein T-Shirt rutscht bei der Bewegung ein Stück nach oben und entblößt dabei einen schmalen Streifen Haut. Ich wende hastig den Blick ab.

»Hast du häufiger solche ... wie hast du es noch genannt? Synapsenfehlschaltungen?« Der Ton, der in seiner Frage mitschwingt, lässt meinen Bauch kribbeln.

»Das wüsstest du wohl gerne«, antworte ich frech und öffne die Jacke, um sie ihm wiederzugeben. Hier sollten wir weit genug von der Party weg sein, um unentdeckt zu meinem Studentenwohnheim zu kommen.

Nevan bedenkt meine Antwort mit einem schiefen Grinsen und nimmt die Jacke entgegen. Als sich unsere Hände kurz berühren, jagt ein Stromschlag durch meinen Arm und ich lasse sofort los. Nevans Blick wird ungewöhnlich dunkel und liegt intensiv auf mir, was mir prompt eine Gänsehaut verpasst.

Ich keuche lautlos auf, als er einen Schritt auf mich zu macht. Seine Augen wandern über mein Gesicht und bleiben an meinem Mund hängen. Ich schlucke hart, als er mir ganz nah kommt, sodass ich seinen Atem deutlich spüren kann. Hitze kriecht meinen Hals hinauf.

»Was ist los?«, stammle ich hilflos. Ich kann das Knistern zwischen uns beinahe hören. Und es verunsichert mich.

»Deine Lippen«, raunt er, »bringen mich auf falsche Gedanken.«

Ich atme stoßweise. »Kommt drauf an, wie du falsch definierst«, entgegne ich leise und seine Mundwinkel zucken.

Nevan hebt seine freie Hand und sie streicht wie zufällig über die Außenseite meines nackten Oberschenkels. Ich halte den Atem an, als sich alle Härchen an meinem Körper aufstellen. Es ist ein bisschen unheimlich, wie mein Körper auf Nevan und seine Nähe reagiert, schließlich sind wir praktisch Fremde. Und er kennt mich nur in dieser Verkleidung. Ein unangenehmes Gefühl breitet sich in meiner Bauchgegend aus und überlagert die schönen Schauer, die durch meinen Körper jagen.

»Jedenfalls danke für deine Hilfe«, sage ich hastig und hebe gleichzeitig meine Hände, um sie ihm gegen die Brust zu drücken. Zu meiner Überraschung weicht Nevan sofort zurück, doch in seinen Augen liegt noch immer ein Blick, der mich erschaudern lässt.

»Sehen wir uns wieder, Pixie?«, fragt er und es klingt wie eine Bitte.

Ich presse meine Lippen aufeinander. »Bestimmt.« Sogar früher, als du denkst.

Erschöpft öffne ich die Tür zu Jinnys und meinem Wohnheimzimmer und lasse mich stöhnend mit dem Rücken auf mein Bett fallen. Mein Körper zittert noch immer durch das ganze Adrenalin und diese intensiven Gefühle, die Nevan in mir ausgelöst hat. Mein Gesicht glüht und ich fahre mir mit den Fingerspitzen vorsichtig über die Lippen. Seine Berührung ist immer noch so präsent.

Ein greller Blitz lässt mich plötzlich zusammenzucken und die Augen zusammenkneifen, als das Deckenlicht im Zimmer angeht.

»Na, wie war die Party?«, kommt es von Jinjin und ich setze mich mit einem Murren auf. Das Licht ist viel zu hell, sodass ich ein bisschen brauche, um mich daran zu gewöhnen.

»Du bist schon wieder da?«, frage ich unnötigerweise und halte meine Hand in Richtung der Lampe, um meine Augen etwas zu schonen. »Ich hatte dich eigentlich erst am frühen Morgen erwartet. Wie spät ist es?«

»Kurz nach Mitternacht«, antwortet sie und tritt vor, um mich von der Perücke zu befreien. »Eigentlich wollte ich auch noch gar nicht hier sein. Dieser Kerl, Roger, hat mich mit zu sich genommen und es ging heiß her bei uns.«

»Halt!«, rufe ich dazwischen. »Will ich das wirklich wissen?«

Jinny grinst und übergeht meine Empörung, indem sie einfach weiterspricht: »Und plötzlich ... ich weiß überhaupt nicht, was passiert ist ... plötzlich fängt er an zu heulen. Und wiederholt immer wieder einen Namen.« Geduldig holt sie eine Nadel nach der anderen aus meinem Haar und fuchtelt damit vor meiner Nase herum. »Ashley, er sagte immer wieder Ashley zu mir. Und ich meine ... sehe ich aus wie eine Ashley?«

Ich presse die Lippen aufeinander, um nicht loszuprusten, weil Jinjin so entrüstet aussieht. Mit ihren asiatischen Gesichtszügen ist sie vielleicht nicht die ideale Besetzung für diesen Namen, das stimmt.

»Jedenfalls«, sie wartet meine Antwort gar nicht ab, »war ich ziemlich verwirrt und hab ihn natürlich gefragt, was los sei. Da fängt er an, mir seine halbe Lebensgeschichte zu erzählen. Ashley ist irgendeine verflossene Jugendliebe aus einem Kuhkaff in Nebraska und hat ihn für seinen damaligen besten Freund verlassen. Und er will sie immer noch zurück. Denkst du, das wollte ich alles wissen? So eine Geschichte ist echt kein gutes Vorspiel.« Sie schüttelt energisch mit dem Kopf und ihre schwarzen, kinnlangen Haare flattern ihr ums Gesicht. »Deswegen habe ich die Flucht ergriffen.«

»Und den armen Kerl hast du weinend zurückgelassen?«, frage ich gespielt entrüstet und helfe dabei, die Perücke abzunehmen.

»Natürlich nicht. Ich bin ja nicht herzlos.« Sie schaut mich böse an und stemmt die Hände in die Hüften. In ihrem rosafarbenen Pyjama sieht sie allerdings alles andere als einschüchternd aus. »Nachdem er mit seiner Geschichte fertig war, hat er sich auf dem Bett zusammengerollt und ist eingeschlafen.« Sie bringt die Perücke zu ihrer Kostümkiste, die sie unter dem Bett hervorholt.

Ich entwirre die flachen Zöpfe und schüttle meine Haare aus, die sich ganz ekelhaft anfühlen, dadurch dass sie über Stunden unter einer Schicht Kunsthaar versteckt waren.

»Hattest du wenigstens ein wenig Spaß?«, fragt Jinjin und wartet geduldig, dass ich mich aus dem hellblauen Kleidchen schäle.

»Geht so«, nuschle ich zwischen den Kleiderschichten. »Diego hat mich angegraben und ich hab ihn halb kastriert.«

Als ich mich ächzend aus dem Kleid befreit habe, sehe ich, wie Jinjin mich mit einem skeptischen Blick mustert.

»Diego wer?«

»Keine Ahnung, wie der mit Nachnamen heißt. Der Kapitän des Football-Teams.«

Schlagartig erscheint Unglauben in ihrem Gesicht. »Ernsthaft? Und was ist dann passiert?«

Ich greife nach den Schuhen und den zusammengekrempelten Strümpfen. »Ich ... konnte entkommen.«

Jinjin setzt sich auf ihr Bett. Ihre Augen sind riesig und der Mund steht offen. »Krass, Pixie. Ich wusste gar nicht, dass du so ... schlagfertig bist.« Sie grinst über ihren dämlichen Wortwitz. »Und jetzt?«

Unschlüssig zucke ich mit den Schultern, schlüpfe in mein Pyjama und hole die Kosmetiktasche aus dem Schrank. »Nichts weiter. Ich denke nicht, dass er mich wiedererkennen wird mit der Tonne Schminke in der Fresse. Aber für den Fall, falls er nach mir suchen sollte«, füge ich hinzu und zeige mit dem Kulturbeutel auf meine Mitbewohnerin, »hältst du die Klappe. Du bist der Hase und weißt von nichts, klar?«

Jinjin tut so, als würde sie ihre Lippen wie einen Reißverschluss zuziehen.

»Gut.« Ich nicke zufrieden. »Und nun gehe ich mir die Maske aus dem Gesicht wischen. Ich habe das Gefühl, diese künstlichen Wimpern ziehen meine Augenlider herunter. Ich gucke wie Kirsten Dunst.«

✱✱✱

Mit einer unterschwelligen Unruhe im Inneren zupfe ich an meiner hellbraunen Umhängetasche und werfe einen letzten, prüfenden Blick in den hohen Spiegel, der an der Wand neben der Tür angebracht wurde. Von der Person, die ich letzte Nacht noch verkörperte, ist rein gar nichts mehr geblieben und ich fühle mich wieder deutlich wohler. Lediglich das Fehlen der künstlichen Wimpern lässt meine Augen plötzlich ganz klein wirken, sodass ich mich heute gezwungen sehe, mindestens ein wenig Mascara aufzutragen.

Ein angenehmes Kribbeln breitet sich in meinem Nacken aus, als ich mit den Fingerspitzen über meine Lippen fahre und mich an die Begegnung mit Nevan gestern erinnere. Es war nicht mein erster Kuss und trotzdem bekomme ich allein vom Gedanken daran weiche Knie. Hitze sammelt sich in meiner Bauchgegend und rote Flecken erscheinen auf meinem Hals sowie in meinem Gesicht.

Von meiner eigenen körperlichen Reaktion peinlich berührt, verlasse ich leise das Wohnheimzimmer, in dem Jinjin noch immer im Schlummerland verweilt, und mache mich auf dem Weg zu meinem ersten Kurs, der heute bereits in aller Frühe stattfindet. Viele Studenten, die mir entgegenkommen, wirken sehr müde, so als hätten sie teilweise die Nacht durchgemacht. Ein einzelner Zombie im zerfetzten Anzug kreuzt meinen Weg und bringt mich zum Schmunzeln. Schon blöd, wenn Halloween mitten in der Woche stattfindet.

Der kühle Herbstwind lässt mich frösteln. Von der milden Nacht ist nichts mehr übriggeblieben, denn die Sonne findet heute keinen Weg durch die dichte Wolkenfront, die den Campus des Montana State Colleges überzieht. Als ich den Vorlesungssaal erreiche, sind meine Finger eiskalt.

Meine Kommilitonin Andrea sitzt bereits an unserem Stammplatz und ich lasse mich auf den freien Stuhl neben sie fallen. Lustlos tippt sie auf ihrem Smartphone herum, und als ich ihr einen »Guten Morgen« wünsche, brummt sie lediglich missgelaunt zurück. Ich kann es ihr nicht verübeln, denn Corporate Finance ist nicht gerade das Highlight, mit dem man gerne einen Tag beginnen möchte.

Andrea schaut mich mit einem müden Blick an und gähnt herzhaft. Ihre sonst so ordentlich frisierten blonden Haare gleichen heute einem explodierten Nest und die Ringe unter ihren Augen wirken auch etwas dunkler als an anderen, vergleichbaren, Tagen.

»Lange Nacht gehabt?«, frage ich schmunzelnd und hole mein Notebook aus der Tasche.

Sie grummelt. »Meine Mitbewohnerin ist heute Morgen um zwei Uhr mit ihrer neuen Flamme im Zimmer aufgetaucht. Sturzbesoffen. Ich habe Dinge gesehen ...« Sie schüttelt sich angeekelt und bringt mich damit zum Lachen. »Da war die Nacht für mich bereits gelaufen. Ich hab kein Auge mehr zugetan.« Sie gähnt erneut und streckt sich.

»Kann ich nachvollziehen«, sage ich mitfühlend und bedanke mich innerlich bei Jinjin, dass sie so umsichtig ist und keinen Männerbesuch ins Zimmer mitbringt. »Warst du selbst nicht unterwegs?«

Andrea schüttelt den Kopf und packt ihr Handy weg. »Ich saß bis Mitternacht in der Bibliothek und hab an einer Hausarbeit geschrieben. Du?«

»Ja, ich habe aber schnell die Flucht ergriffen«, antworte ich und logge mich im Studentennetzwerk ein.

»Oh!« Andrea wirkt plötzlich hellwach und setzt sich etwas gerader hin. »Wieso das?«

Ich beiße mir auf die Lippe und meide ihren Blick, während ich kurz überlege, ob ich ihr von dem Vorfall erzählen soll. Andrea ist einer der wenigen Kontakte, die ich hier habe, aber ich kenne auch ihr loses Mundwerk.

»War nicht so mein Fall«, sage ich schließlich ausweichend und zucke unschlüssig mit den Schultern.

Aus dem Augenwinkel nehme ich ein zustimmendes Nicken wahr, während sie ebenfalls ihr Notebook aufklappt. »Hätte mich auch ehrlich überrascht, wenn es anders gewesen wäre.«

Nachdenklich schaue ich sie von der Seite an. »Wie meinst du das?«

Sie zuckt mit den Schultern. »Du weißt schon ... Du wirkst nicht gerade wie eine typische Partymaus, eher so wie ... na ja, das, was man unter einem Nerd versteht, inklusive Informatik-Studium. Ich meine, du ziehst dich nicht sonderlich weiblich an und bist mehr so der Kumpel-Typ für die Männchen hier. Ich beneide dich dafür, Pixie, ehrlich, denn manchmal nervt es, wenn die Herren der Schöpfung dir nur in den Ausschnitt glotzen, während du dich gerade ernsthaft mit ihnen unterhalten möchtest. Ich wette, du wirst öfter für voll genommen.« Sie rattert den Text herunter, ohne mich anzuschauen, so als würde sie mir gerade den Stoff des Kurses erklären. So sieht sie zumindest nicht, wie ich mich mit zusammengepressten Lippen abwende und meinen Blick stur nach vorne richte.

Ich gebe nur einen zustimmenden Laut von mir, bevor ich unsere kleine Unterhaltung damit beende. Genau in dem Moment betritt der Professor den Saal und beginnt die Vorlesung, doch mein Kopf schaltet auf Durchzug.

Eigentlich stimmt das, was Andrea sagt, ja. Ich bin keine Partygängerin und modetechnisch eher bescheiden unterwegs. Das hellblaue Kleidchen von gestern ist einer Jeans-Latzhose und einem grauen Langarm-Sweater gewichen. Meine roten Haare sind zu einem halben Dutt gebunden und fallen als sich fast kräuselnde Naturlocken über meine Schultern. Ansonsten dominieren eine große, schwarze Brille und unzählige Sommersprossen mein Gesicht. Ich bin bisher nie so richtig unzufrieden mit meinem Aussehen gewesen, bereits als Jugendliche habe ich mir nicht viel aus Mode und dergleichen gemacht. Wieso sollte es jetzt, mit Anfang zwanzig, plötzlich anders sein? Und was genau stört mich bitte an Andreas Worten?

Unweigerlich taucht erneut Nevans attraktives Gesicht vor meinem inneren Auge auf und eine Gänsehaut überzieht meinen Körper. Letzte Nacht wurde ich von ihm in genau die gegensätzliche Kategorie gestopft und habe mich darüber geärgert. Ich erinnere mich an den skeptisch-musternden Blick, mit dem er meine Verkleidung wortlos kommentiert hat.

Ich schnaube frustriert und massiere mir die Schläfen. Ich dachte immer, in Schubladen zu denken, würde eine Menge vereinfachen. Doch diese Situation erscheint mir dadurch gerade viel komplizierter.

Corporate Finance zieht sich gefühlt ewig hin, und als ich schließlich auf dem Weg zu Technische Mathematik bin, drehen sich meine Gedanken bereits im Kreis und mein Puls befindet sich irgendwo im nichtmessbaren Bereich. Ich habe viele Szenarien im Kopf durchgespielt, wie das Treffen von Nevan und mir ablaufen könnte. Und in keinem Fall wüsste ich, wie ich reagieren würde. Ich bin kein Mensch, der gerne ins kalte Wasser geworfen wird, doch dieses Mal bleibt mir wohl nichts anderes übrig. Nervös wische ich meine schweißnassen Hände an der Hose ab.

Der Saal ist bereits gut gefüllt und der Lärmpegel dementsprechend hoch, als ich durch die große Tür eintrete. Mein Blick fällt automatisch auf den Platz weit links in der zweiten Reihe und mein Herz macht einen Hüpfer, als ich Nevans vertraute Gestalt erkenne. Er trägt seine Haare heute streng nach hinten gebunden und ich erkenne die Jacke, die er mir gestern zum Überziehen gegeben hat. Das Blut rauscht laut in meinen Ohren, während ich einen Fuß vor den anderen setze und mich der Treppe und somit auch seinem Platz nähere.

Ich umklammere meine Umhängetasche und schaue auf. Mein Atem stockt und ich bleibe wie angewurzelt stehen. Nevans dunkle Augen sind direkt auf mich gerichtet, eine volle Sekunde lang – dann zuckt sein Blick an mir vorbei, bevor er ihn komplett von mir abwendet und mich jemand von hinten anrempelt. Ich drehe mit einer Entschuldigung auf den Lippen um, doch die Person ist bereits weitergeeilt. Als ich wieder zu Nevan schaue, ist er in seine Notizen vertieft.

Ein irrationaler Stich durchfährt mich, als ich gen Boden blicke und mich die Füße automatisch zu meinem Platz hinter ihm tragen, wo mich mein Gedankenkarussell wieder empfängt und zu einer neuen Frustfahrt einlädt.

Am Ende des Vormittags bin ich so genervt von mir selbst, dass ich mich am liebsten selbst angeschrien hätte. Anstatt den Arsch in der Hose zu haben und zu Nevan hinzugehen, um ihn auf die gestrige Nacht anzusprechen, habe ich während der gesamten Vorlesung auf seinen Hinterkopf gestarrt und anschließend den Saal fluchtartig verlassen. Ich kann Menschen nicht ausstehen, die diese Selbstmitleidschiene fahren, obwohl sie die Situation ganz einfach klären könnten. Und dass ich gerade selbst genau diese Masche abziehe, ist zum Haareraufen. Ich kann nicht genau sagen, was mich davon abhält, mich der Realität zu stellen. Liegt es an dem Blick, mit dem er quasi durch mich hindurchgesehen hat? Das wäre zumindest kein gänzlich neuer Umstand, denn ich sollte es mittlerweile eigentlich gewohnt sein, übersehen zu werden. Oder überreagiere ich, was Andreas Worte angeht?

Und habe ich nicht selbst gestern in Gedanken genau diese Vorhersage getroffen, dass er mich nicht wiedererkennen würde? Die Lösung des selbstprovozierten Problems ist so unglaublich simpel. Trotzdem habe ich das Gefühl, eine unüberwindbare Mauer vor mir zu haben.

In meinem Wohnheimzimmer angekommen lasse ich mich kraftlos mit dem Gesicht voran auf mein Bett fallen. Das Kissen dämpft mein lautes Fluchen.

»Hattest du wieder Mikroökonomie bei Professor Veenstra?«, fragt Jinjin, die im selben Moment das Zimmer betritt.

Ich hebe meinen Kopf ein Stück weit an und schnaube. »Nein.«

Jinjin öffnet geräuschvoll ihren Kleiderschrank und ich drehe meinen Kopf in ihre Richtung, während ich weiterhin bäuchlings liegen bleibe. Ihr zierlicher Körper ist in ein übergroßes rotes Handtuch gewickelt. Manchmal beneide ich sie darum, dass ihre Kurse fast alle erst gegen späten Vormittag starten und sie so morgens noch entspannt duschen kann.

»Woher kommt dann deine bescheidene Laune?«, fragt sie und dreht sich plötzlich mit großen Augen um. »Du bist aber nicht Diego über den Weg gelaufen, oder?«

Ich drehe mich auf den Rücken. »Nein, das nicht. Aber ...« Ich breche ab und beiße mir innen auf die Wange. Es klingt wahrscheinlich absolut verzweifelt, wenn ich ihr von dem peinlichen Auftritt vor Nevan erzähle oder meiner lächerlichen Reaktion auf Andreas Worte. Ich bin schließlich keine sechzehn mehr. Ich lasse meinen begonnenen Satz einfach fallen und setze mich auf, um stattdessen auf ihre Frage einzugehen: »Hast du was zu meinem Karate-Kick von letzter Nacht gehört?«

Sie schüttelt den Kopf und schlüpft in ihr blassgrünes Oberteil. »Machst du dir Sorgen deswegen? Ich dachte, es wäre für dich abgehakt.«

»Ist es eigentlich auch«, beeile ich mich, zu sagen.

»Aber?« Jinjin dreht sich zu mir um und sieht mich fragend an.

Ich lege meine Hände in den Schoß und streiche die imaginären Falten meiner Latzhose glatt. »Ich hab mich nur gefragt, warum Diego ausgerechnet mich als das Ziel seiner Sabberattacken ausgewählt hatte. Ich habe – zumindest bewusst – keine derartigen Signale ausgesendet.«

»Ach«, sie winkt ab und stellt sich vor den Spiegel, um sich zu begutachten, »manche Kerle brauchen keine Signale. Denen reicht schon ein bisschen nackte Haut – oder eben ein sexy Outfit.« Sie zwinkert mir zu. »Wie beide waren schon heiß als Grady Twins, oder?«

Ich pinne mir ein Lächeln ins Gesicht. »Anscheinend.«

»Sieh es positiv, Pixie: Diego wird dich garantiert nicht wiedererkennen, wenn du ihm auf dem Campus über den Weg laufen solltest. Erstens war er sternhagelvoll und zweitens sahst du nun mal ganz anders aus als jetzt. Typen, die dich nur wahrnehmen, weil du ein bestimmtes Bild erfüllst, sind absolut langweilig und leicht zu manipulieren. Wir lernen gerade in einem Kurs über die Wirkung von Farben und Formen auf die menschliche Psyche.«

Und während sie in einen Vortrag über dieses Thema abschweift, bin ich gedanklich bei ihren letzten Worten über Diego, denn sie lassen sich ebenso gut auch auf Nevan ummünzen. Die Härchen in meinem Nacken fangen bei der Erinnerung daran an, zu tanzen. Mädchen wie du hat er mich genannt, aber auch ... heiß. Und dann haben wir uns geküsst – wobei, nein, ich habe ihn geküsst. Und er hat es erwidert. Oder zählt das nicht, weil ich gerade in dem Moment zu dieser Art Mädchen gehörte, von der ein solches Verhalten normalerweise zu erwarten ist? Hätte er genauso reagiert, wenn ich ihm nicht in dieser Aufmachung begegnet wäre?

Wahrscheinlich nicht, flüstert eine kleine, fies klingende Stimme in meinem Kopf, denn Kumpel-Typen küsst man nicht.

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