I
Als ich in der sechsten Klasse war, ging der Feueralarm los.
Ich wusste noch genau, wie mein Herz vor Aufregung gepocht hatte. Wie das schrille Klingeln in meinen Ohren hallte, als wir in einer Doppelkolonne aus dem Schulhaus evakuiert wurden. Die gefasste Miene meiner Klassenlehrerin, als sie uns auf den Sammelplatz führte. Und die anschließende Erleichterung, als sich der ganze Aufruhr als Übung herausstellte.
Erst viele Jahre später, als ich vor meinem vierzigsten Geburtstag selbst das Lehramt übernommen hatte, wusste ich ihre Gefasstheit zu deuten. Spätestens dann, als mich eine Mail mit dem Betreff 'Feueralarm' erreichte.
Doch das schrille Klingeln riss mich unerwartet aus dem Unterricht.
Vor Schreck liess ich beinahe die Kreide fallen. Für einen Sekundenbruchteil spiegelte sich dieselbe Überraschung in den Gesichtern der Schüler, bevor Verwirrung ihren Platz einnahm. Dreiundzwanzig Augenpaare schweiften nervös umher, während sich Unruhe bemerkbar machte. Und dann schlug es ein.
Ich hatte keine Mail bekommen.
Bevor ich ein Wort hervorbringen konnte, knackten die Lautsprecher und die Stimme von Direktor Jürgen erfüllte den Raum. «Dies ist keine Übung!» Schweres Atmen. «Ich bitte alle Schüler, sofort in ihr Klassenzimmer zurückzukehren und die Türen zu verschließen.» Er verhaspelte sich beinahe an diesem Satz, seine Stimme eine Tonlage höher als üblich. «Wir―» Er stockte. «Wir haben eine Cayenne-Situation hier.»
Die Worte schlugen wie eine Bombe ein. Nein. Unmöglich. Mein Puls katapultierte sich nach oben, während mein Verstand versuchte, die Nachricht zu begreifen. Aber ich hatte mich nicht verhört. Dieser Satz schleuderte mich endgültig aus meiner Schockstarre. Ich hastete zur Tür und wollte sie abschließen, doch die Vierteldrehung brachte einen abgebrochenen Riegel zum Vorschein. Dieser musste noch hervorgestanden haben, als jemand die Tür heftig zugeknallt hatte.
Frustriert schrie ich auf und versuchte vergebens, die Panik auszublenden. Schweißperlen standen mir auf der Stirn. «Alles in Ordnung?», erklang eine besorgte Stimme, die ich nur verzerrt wahrnahm. Absolut nichts war in Ordnung. Mittwoch. Ich erinnerte mich genau. Es war Mittwoch gewesen, als ich in den Medien erfuhr, welches schreckliche Ereignis sich in Winnenden zugetragen hatte. Wie der 17-jährige Tim Kretschmer mit einer Pistole in die Schule marschierte.
Und wie er fünfzehn Leben mit sich in den Tod riss.
Der Schock hielt wochenlang an. Jedes Mal, wenn dieses Ereignis meine Gedanken kreuzte, überkam mich eine Welle der Ungläubigkeit. Was bewegte einen Menschen dazu, einen Amoklauf zu begehen? Auf diese Frage bekam ich nie eine Antwort. Es dauerte keine zwei Wochen, bis Direktor Jürgen wegen seiner Vorliebe für Marvel Filme und Cayenne-Pfeffer das Codewort «Wir haben eine Cayenne-Situation hier» für Amokläufe festlegte.
Seit zehn Jahren rostete dieser Satz in der hintersten Ecke meines Gehirns und ich hatte gehofft, diese Worte nie hören zu müssen.
Ein Schuss liess uns alle zusammenzucken. Dann Schreie. Noch mehr Schüsse. Peng. Peng. Peng. Das entsetzte Geschrei der Schüler vermischte sich mit meinem eigenen. «In die Ecke, schnell!», brüllte ich panisch. «Kopf auf den Boden! Bleibt unten, um Himmels Willen!» Meine Stimme brach. Tränen stiegen mir in die Augen, krampfhaft blinzelte ich sie weg. In der gegenüberliegenden Ecke kauerten sich die Schüler wie ein verängstigtes Menschenknäuel nebeneinander, leise schluchzend, um ihr Leben bangend. Ich ertrug diesen Anblick kaum.
Die Schüsse kamen näher.
Ich war nicht gläubig, doch spätestens jetzt schien der Augenblick gekommen zu sein. Stumm betete ich dafür, dass alle involvierten Personen von diesem Amokläufer verschont werden sollten. Dass der Lehrer, der nebenan unterrichtete, seine Frau heute Abend in die Arme schließen konnte. Dass die freundliche Putzfrau, der ich stets auf dem Gang begegnete, sich in Sicherheit bringen konnte. Und vor allem, dass das Ganze so bald wie möglich vorbei war.
Meine Augen waren auf die Türe fixiert, von der ich wusste, dass sie uns keine Sicherheit bot. Nicht vor einem Psychopathen ohne Skrupel und Mitgefühl. Nicht vor seiner Pistole, die von seinen Rachegelüsten gesteuert wurde. Nicht vor seiner Unzurechnungsfähigkeit, wenn der Blutrausch seine Sinne vernebelte und ihn nur noch eines fühlen liess: Hass.
Niemand rührte sich. Hätte man eine Stecknadel fallen lassen, würde sie in dieser Stille wie Feuerwerkskörper am ersten August klingen. Mattes Morgenlicht strömte durch die halboffenen Rollläden und warf Zebrastreifen auf die verzweifelten Gesichter der Schüler. Mein Herz setzte beinahe aus, als ich dumpfe Schritte von außen vernahm. Geh weiter. Geh weiter! schrie ich in Gedanken, während ich verzweifelt nach etwas Ausschau hielt, um die Tür zu verbarrikadieren–
Rumms!
«Macht die Tür auf!», brüllte eine männliche Stimme. Ein dumpfes Geräusch stellte sich als Faustschlag heraus, prompt gefolgt von wütendem Fluchen.
Das war's.
Panik brach aus und verbreitete sich wie ein Waldbrand, wie aufgeschreckte Tiere verließen die Schüler ihre Ecke, stießen Tische um und verschanzten sich dahinter wie Soldaten in ihren Schützengräben. Angst schnürte mir die Kehle zu und ich zwängte mich tiefer in die Ecke; wünschte, ich könnte mit den Schatten verschmelzen und unsichtbar werden. Wir waren alle schutzlos ausgeliefert. Anders in Actionfilmen durchschnitten Pistolenkugeln Holz wie Butter, und dieses Wissen bereitete mir mehr Angst, als ich zeigte.
Plötzlich wurde die Türklinke nach unten gedrückt und die Tür schwang auf. Der Schrei blieb mir im Hals stecken, als ich direkt in den Lauf der Pistole starrte. Die Mündung glänzte wie frisch poliert, und ich wagte es nicht, auch nur zu blinzeln.
Binnen Sekunden würde ich tot sein.
Doch das Allerschlimmste war, dass ich das Gesicht hinter der Waffe erkannte.
«Randall?» Mehr als ein heiseres Flüstern brachte ich nicht hervor.
Seine wilden Augen fokussierten sich auf mich. Ich erschrak. In seinem Blick loderte etwas, was ich noch nie zuvor bei einem Menschen gesehen hatte. Etwas Ungezügeltes, wie bei einem Jäger, bevor er seine Beute in Stücke zerriss. Gleichzeitig waren sie abgestumpft und ausdruckslos, als wären alle anderen Emotionen mit seinem gesunden Menschenverstand erloschen. Das war nicht Randall. Das waren nicht die Augen, die im Unterricht gedankenverloren in die Ferne blickten. Das waren nicht die Hände, die poetische Gedichte aufs Blatt hauchten.
Es war nicht der Junge, den ich kannte.
«Nicht mehr», antwortete er kühl.
«Bitte», flehte ich. «Du musst das nicht tun. Wir können darüber re–»
«Hören Sie auf mit diesem Scheiß!», brüllte er mich an. Sein Gesicht war gerötet, an seiner Stirn trat eine Ader hervor. «Das sagen Sie nur, damit ich Sie nicht abknalle! Halten Sie einfach den Mund!»
Traumatisiert nickte ich, während er von mir abrückte. 4) Keinesfalls das Gespräch mit dem Amokläufer suchen. Hysterisch keuchte ich auf, als mir diese Verhaltensregel aus dem Kurs einfiel. Zu spät. Aus dem Augenwinkel nahm ich wahr, wie Arnold versuchte, ungesehen aus dem Zimmer zu kriechen. Bevor ich nachdenken konnte, fiel ein Schuss und er krümmte sich schreiend am Boden. Blut benetzte seine Jeans und tropfte auf den Linoleumboden, ich war hypnotisiert, konnte den Blick nicht abwenden. «Niemand geht bevor ich es sage!», rief Randall und lachte schrill, während der Junge seine Hand auf die Wunde drückte und vor Schmerzen wimmerte. Doch das Blut hörte nicht auf zu fließen.
Er wird verbluten.
«Du kannst ihn nicht verbluten lassen», wisperte ich fassungslos. «Was treibt einen Menschen dazu, seine Freunde zu verletzen?»
Randall ignorierte mich völlig. Stattdessen suchten seine Augen die chaotische Aneinanderreihung von Tischen ab, hinter denen kein einziger Kopf hervorschaute, obgleich die Schluchzer und die hektischen Atemzüge unüberhörbar waren.
«Ich weiß, dass ihr hier seid», sagte er hämisch. «Ihr habt Angst vor mir.» Die Feststellung klang wie ein Vorwurf. «So wie ich Angst vor euch hatte. Wisst ihr, wie es sich anfühlt, jeden Morgen mit Selbstmordgedanken aufzuwachen?» Er kicherte. Es war das Kichern eines Wahnsinnigen. «Natürlich nicht. Genauso wenig, wie jede Mittagspause auf der Toilette verbringen zu müssen. Den Nachhauseweg anzutreten kam einem Spaziergang durch die Hölle gleich.»
Obwohl Randall mehr zu sich selbst sprach, schienen die Worte an jemanden gerichtet zu sein. Nachdenklich spielte er mit der Pistole und wägte sie in seinen Händen. «Nun werdet ihr dafür bezahlen.»
Seelenruhig richtete er die Pistole auf die Tische und feuerte zweimal ab. Mein Schrei vermischte sich mit dem Geschrei der Schüler, während sich die grauenhafte Szene sich in meine Netzhaut einbrannte. Ich würde beides nie vergessen.
«Hansen, Don und Michael», sagte er fordernd. Seelenruhig. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Don sich zögerlich aus seiner Deckung wagte. Blanke Angst war ihm quer über sein Gesicht geschrieben, als Randall ungeduldig mit der Waffe wedelte und ihm bedeutete, näherzukommen. Mit einer schnellen Handbewegung hatte Randall ihn am Hals gepackt und den Lauf der Waffe an seine Schläfe gedrückt. Ich atmete scharf auf.
«Es-es tut mir leid», stotterte Don, während leise Schluchzer seinen Körper durchschüttelten. «Wir bezahlen dir das G...geld zurück», brachte er wimmernd hervor. Randall verstärkte den Druck. «zweifach!», schrie Don, «N-nein, dreifach! D...du bekommst alles dreifach zurück, versprochen!» Ein nasser Fleck breitete sich auf Dons Khakihosen aus. «Wie fühlt es sich an, Don?», verspottete ihn Randall gehässig. «Spürst du, wie das Blut in deinen Ohren rauscht, hm? Oder die Panik, die deine Luftröhre abschnürt?» Don nickte hastig und schrie auf, als Randall mit der anderen Hand seine Haare packte.
Kalter Schweiß rannte über meinen Rücken, als ich einen Blick auf die Wanduhr riskierte. Doch die Zeiger waren stehengeblieben. Wo blieb die Polizei? Ein widerliches Knacksen verriet mir, dass Randall Dons Nase gebrochen hatte. Er holte zum zweiten Schlag aus, sein Gesicht zu einer Grimasse verzerrt. Ohne nachzudenken griff ich dazwischen.
Der Schlag traf mich an der Seite und seine Wucht liess mich stolpern. Scharf atmete ich ein und stützte mich an der Wandtafel ab. Randall funkelte mich wütend, fast schon wahnsinnig an, während er langsam die Waffe hob. Ich wusste, was nun geschehen würde; ich war zu weit gegangen, ich hätte nicht dazwischen gehen sollen. Er wird mich erschießen, schoss es mir durch den Kopf; das Adrenalin rauschte in meinen Adern, mein ganzer Körper war angespannt.
Doch er zögerte.
Und dieses Zögern entschied über mein Leben.
Blind stürzte ich mich auf ihn und rammte meinen Ellbogen in seinen Bauch. Er keuchte auf und drückte mehrmals ab, ein Projektil surrte haarscharf an meinem Kopf vorbei. Ich schrie und schlug blindlings auf ihn ein, ich sah, wie er die Pistole fallen liess, um meine Schläge abzublocken. Mit dem Fuß wollte ich die Waffe außer Reichweite kicken, doch ein stechender Schmerz im Oberschenkel hielt mich zurück. Mein Sichtfeld verschwamm, als sich ein dunkelroter Fleck sich auf meinen Leggings ausbreitete.
Blut. Zu viel Blut.
Mein Kopf brummte, als wäre ich gegen eine Wand gelaufen. Schwarze Punkte begannen, mein Sichtfeld einzuengen, mein ganzer Körper erschlaffte. Ein schrilles Geräusch übertönte das Pochen, es kam mir bekannt vor, doch ich konnte meine Gedanken nicht sortieren. Eines war mir jedoch klar: Ich würde in diesem Klassenzimmer sterben.
1) Kein Feueralarm auslösen!
Die Schüsse nahm ich nur weit entfernt wahr. Genauso wie die Stimme, die 'Polizei!' rief. Noch mehr Schüsse, doch mein Kopf war hübsch in Zuckerwatte verpackt, sodass es sich wie Händeklatschen anhörte. Wie schön, dachte ich. Ich schloss die Augen und stürzte in die Dunkelheit.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top