Unter all der Farbe

Ich bin nicht, wer ich sein will.

Meine Zukunft kommt mir manchmal vor wie ein schwarzes Loch. Eine Dunkelheit, die so beengend und ausweglos ist, dass ich nichts sehen kann, außer nie erfüllte Träume und ein Leben, das von der falschen Person gelebt wird. Mir.

Der Zug fährt in den Bahnhof ein, drosselt das Tempo und bleibt schließlich stehen. Menschenmengen strömen heraus, sodass die Wagons nun beinahe leer sind. Ich steige ein und setze mich an einen der Fensterplätze. Neben mir und auch gegenüber sitzt niemand. Der Zug verharrt noch ein paar Minuten in seiner stillen Position, bevor er langsam losfährt. Ich richte meinen Blick aus dem Fenster und sehe mir die vorbeiziehende Landschaft an, ohne irgendetwas tatsächlich bewusst wahrzunehmen.

Der heutige Tag war anstrengend. Wie jeder Tag in meinem Leben. Nein, Moment. Nicht meinem Leben. Ihrem Leben. Es ist nicht mein Leben. Mein Leben würde anders aussehen, ganz bestimmt.

Ich frage mich, ob mein Leben vielleicht von jemand anderem gelebt wird. Und ob dieser jemand mit meinem Leben glücklich ist. Mit dem Leben, das eigentlich für mich bestimmt war. Und ich frage mich, wessen Leben ich lebe, wenn nicht meines.

„Wir wollen dir doch nur das Beste bieten." Die Stimme meiner Mutter hallt in meinem Kopf wider.

„Woher wollt ihr wissen, was das Beste ist?", habe ich geantwortet, doch sie wollte nicht weiter zuhören. Wie so oft. Ich frage mich, wer ich eigentlich bin. Hinter dem Ich, das andere mir beigebracht haben. Seit ich denken kann, bin ich nicht die Person, die ich sein sollte. Und langsam fühle ich mich, als würde die Zeit knapp werden. Als könnte ich bald nichts mehr ändern, an was auch immer ich bin.

Ich bin nicht, wer ich sein will.

Der Zug hält. Menschen betreten den Wagon. Jemand setzt sich mir gegenüber ans Fenster. Ich sehe die Person nicht an. Ich warte, bis der Zug weiterfährt.

Für meine Mutter muss ich ein talentiertes Kind sein. Neue Erfahrungen sammeln und immer besser als alle anderen sein.

Für meinen Vater muss ich immer gute Noten schreiben, um mir auch auf dieser Ebene die besten Zukunftschancen zu sichern.

Ich verstehe, dass man heutzutage ein bestimmtes Leben braucht, um zu überleben. Die Gesellschaft ist grausam, das ist mir bewusst. Aber ich will nicht überleben. Überleben heißt Existieren. Doch ich will leben!

Jetzt gleitet mein Blick doch zu der Person gegenüber. Ein junger Mann, in meinem Alter. Dunkle Haare, blasses Gesicht. In seinen Augen liegt ein schwermütiger Blick. Und obwohl er mich nicht ansieht, weiß ich diesen Blick sofort zu deuten. Wie mein eigenes Spiegelbild sitzt er mir gegenüber.

Für meinen kleinen Bruder bin ich ein echtes Vorbild. Nie würde ich ihn enttäuschen. Denn ich kann und weiß schließlich alles und würde nie einen Fehler machen.

Für meine große Schwester bin ich lästig wie eine Mücke, die einen nachts nicht schlafen lässt. Alles mache ich falsch und nichts weiß ich über sie und ich soll sie einfach in Ruhe lassen.

Bin ich verschiedene Personen? Habe ich mehrere Persönlichkeiten? Für jeden Menschen dem ich begegne, eine andere? Alle vereint in einem Körper, so als wäre ich schizophren?

Ich bin nicht, wer ich sein will.

Der Zug kommt erneut zum Stehen. Der Mann zupft an seinem Jackenärmel herum. Er sieht ganz abwesend aus. Der Zug fährt wieder los.

Ich frage mich, ob ich durch das definiert werde, was ich bin, oder durch das, was andere in mir sehen.

Mein Großvater sagt, dass ich das ruhigste Kind auf Erden bin. Immer still und freundlich.

Meine Großmutter sagt Ähnliches. Sie ist stolz auf ihren zurückhaltenden Engel mit den blonden Locken und den blauen Augen. „Ein echtes Bilderbuchkind." Ich war kein Kind mehr. Ich war schon fast zu alt um mich überhaupt daran erinnern zu können, wie es sich anfühlt, ein Kind zu sein, und befreit zu atmen.

Doch meine Freunde sagen, ich bin die aufgedrehteste und fröhlichste Person überhaupt. Für jeden Spaß zu haben und immer startklar.

Aber was davon bin ich denn nun? Sie können sich eben einfach nicht entscheiden, wer ich nun sein soll. Sie sollten sich alle an einen Tisch setzen und sich einig werden, wer ich denn nun sein soll! Dann habe ich nur zwei Persönlichkeiten. Jene, die meiner eigenen entspricht, und jene, die ihrer Vorstellung von mir entspricht. Und wenn es dann eines Tages jemanden interessieren sollte, wer ich wirklich bin, kann ich es diesem jemand vielleicht zeigen. Doch bisher wollte niemand wissen, wer ich wirklich bin.

Sie verformen und verbiegen mich mit ihren Worten. Mit dem, was sie in mir sehen wollen. Was ich für sie sein soll. Für sie bin ich wie eine weiße Leinwand. Sie alle haben eine Farbe und malen etwas. Je mehr sie malen, desto mehr verschwinden die weißen Stellen der Leinwand, die unter den Farbmassen ertrinken.

Ich bin nicht, wer ich sein will.

Ob der Mann wohl auch auf dem Weg nach Hause ist? Nach Hause zu seinem falschen Leben. Das Leben, welches er gar nicht haben will.

Wer ich wohl unter all der Farbe bin, mit der sie mich bemalen? Unter all den Kostümen und Masken, die sie mir aufzwingen? Ich habe über all die Jahre vergessen, wer ich bin. Falls ich es jemals gewusst habe.

Ich weiß nur, dass ich nicht die Person bin, die ich für sie sein sollte und ein falsches Leben lebe. Ob es wohl jemanden gibt, der hat, wonach ich suche? Meine Persönlichkeit und mein Leben? Ich hoffe es. Vielleicht finde ich diese Person. Vielleicht lebt diese Person auch ein falsches Leben und will tauschen. Es gibt wohl nur diesen einen Weg.

Der Zug hält.

Ich bin nicht, wer ich sein will.

„Endstation", bemerkt die Stimme aus den Lautsprechern, als wolle sie mich auch noch verhöhnen. Ich stehe auf. Im selben Moment steht auch der Mann auf und wir stoßen gegeneinander. Unsere Blicke treffen, doch erreichen einander nicht ganz. Beinahe seltsam, wie undurchdringlich diese Augen sind. Wie aus selbem Mund murmeln wir eine Entschuldigung. Die Schwermut fällt langsam von seinem Gesicht. Von meinem auch. Wie eine Maske, die zu bröckeln beginnt, innerhalb von Sekunden.

Vielleicht bin ich nicht alleine. Vielleicht gibt es Hoffnung.

Ich bin nicht, wer ich sein will.

Wer ist schon, wer er sein will?

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