Julian

Julian stand vor dem Spiegel und seufzte. Er betrachtete sein Gesicht. Blaue Augen blickten ihm müde entgegen und wurden von den sich über seinen Augenbrauen kringelnden Silbernen Zeichen nur hervorgehoben. Ihm vielen blonde Haarsträhnen über die Stirn und bedeckten besagte Zeichen zu einem Großteil, doch sie waren noch zu erkennen. Weiter unten befanden sich seine mit Sommersprossen überzogenen Wangen und folgten in seinen wenig spektakulären Mund. Langsam glitt sein Blick wieder hinauf und blieb an den silbernen Zeichen hängen. Er hob die Finger und strich darüber. Natürlich würden sie sich davon nicht entfernen lassen, das war ihm klar. Also nahm er sich einen Waschlappen und goss das Mittel darauf, welches Jasper ihm besorgt hatte. Dann begann er, an der nahezu unentfernbaren Schminke über seinen Augen zu schrubben. Heute Nacht würde er der Welt endlich wieder sein wahres Gesicht zeigen und auf diesen Moment freute er sich schon seit langem.

Es kam nicht oft vor, dass er die Silberfeste verlassen konnte, ohne mindestens ein Dutzend Gardisten bei sich zu haben (auch wenn es sich in den letzten Monaten gehäuft hatte)- aber die Nächte, in denen er und Jasper flohen, waren dafür umso besonderer. Jasper war, im Gegensatz zu ihm, ein Vollwertiges Mitglied des Silbervolkes und tat nicht nur so. Er war auch der einzige Grund, warum Julian nicht schon lange verstoßen worden war, wie seine Mutter es sonst wahrscheinlich getan hätte. Jasper hatte sich öfter für ihn eingesetzt als Julian sich auch nur vorstellen konnte und das wusste er. Er verdankte ihm alles, so wie auch das hier. In diesem Moment hörte er ein Klopfen von draußen und stand auf. Wenn man vom Teufel sprach. Er schnappte sich seine Tasche, zog seine Kapuze hoch und öffnete das Fenster, um zu seinem Bruder nach draußen zu gelangen. Schweigend kletterten sie im Einklang an der silbernen Fassade herunter und bedankten sich bei der Silberfeste, dass diese niemandem Bescheid sagte. Anfangs hatten sie noch extrem die Hilfe ihres Zuhause und ihrer besten Freundin gebraucht, um nicht von der Brüstung abzurutschen, doch inzwischen hatten sie es beide oft genug getan, um ohne Probleme den Boden zu erreichen. Sie schlichen leise in Richtung der Wyvernställe und wichen gelegentlich ein paar Wachen aus- auch das in toten Stille. Sie kommunizierten nicht einmal durch die Silberfeste miteinander, das Risiko der Unkonzentration war einfach zu groß. Ein paar Minuten später schwangen sie sich beide auf ihre Wyvern, warteten ein paar Minuten, damit das Tor auch garantiert frei war und verschwanden lautlos im Nachthimmel.

Nach ein paar Minuten brach Jasper das Schweigen. „Wo müssen wir hin?" Julian schickte ihm das Bild, welches er von... ihm bekommen hatte. Es war ein Wunder, dass er es überhaupt bekommen hatte, doch Julian würde sich nicht beschweren. Sie schwiegen eine Weile, bevor Jasper ihm ein Bild von einer besorgten Frau schickte, welche leise fragte: „Was ist passiert?" Julians Brust zog sich zusammen und er schloss für einen kurzen Moment gequält die Augen. „Er ist nicht mehr da. Ich weiß nicht einmal mehr, wann ich ihn das letzte mal gesehen habe", lies er Jasper hören. Ironischerweise sagte seine Mutter dies über seinen älteren Bruder ständig- als würde sie Ifar nicht selbst immer irgendwo hinschicken. Er spürte Jaspers besorgten Blick auf sich, doch keiner der beiden sprach ein weiteres Wort.

Er saß an einem Tisch, den Kopf in den Händen, und ihm war nach Tränen zu Mute. Er war schon wieder nicht gekommen. Ein weiteres Mal hatte er ihn alleine hier sitzen lassen. Es sollte ihn nicht überraschen und vor allem nicht so weh tun. Seit er Fürst geworden war, hatte er nun mal Verpflichtungen, und diese Lebensschuld... Von der wollte Julian gar nicht erst an anfangen. Er selbst hatte eine bei seinem Bruder, auch wenn Jasper diese entschieden von sich wies. Seiner Aussage nach, schuldete man Familienmitgliedern nichts. Und da hatte er Glück mit. Lazar würde dies nicht tun, weshalb Julian auch bis jetzt nichts dazu gesagt hatte, dass Ilion sich kaum noch blicken ließ. Beim nächsten Mal würde er selbst einfach nicht kommen. Zumindest nahm er sich das vor. Tief in ihm drin war ihm klar, dass dies ein verlorenes Unterfangen darstellen würde. Er konnte ihm nicht wiederstehen. Es war ihm schlichtweg unmöglich. Er hatte einen starken Willen, doch... Missmutig stand er auf, bezahlte, und verließ das Gasthaus. Hier weiter zu warten hatte keinen Sinn mehr. Wenn Ilion bis jetzt nicht aufgetaucht war, würde er es auch später nicht mehr tun, da war Julian sich sicher. Auf dem Weg über die miteinander verbundenen Boote, dachte er darüber nach, was Ilion wohl diesmal fernhielt. Beziehungsweise, was der Fürst der Faheen behaupten würde, dass es ihn ferngehalten hatte. Immerhin konnte Ilion so gut lügen wie kein anderer und inzwischen war Lügen praktisch Julians Lebensinhalt geworden. Sein komplettes Leben bestand daraus. Normalerweise war er auch recht gut darin, diese zu erkennen, doch Ilion hatte von der ersten Sekunde an ein Rätsel für ihn dargestellt. Nichts ließ er sich anmerken, außer... Julians inneres zog sich heftig zusammen bei dem Gedanken und innerlich wurde er schon fast panisch, obwohl er es nicht nach außen hin zeigte. Ilion ließ sich kaum etwas anmerken, außer seine fast unmögliche Zuneigung zu der momentanen Erbin des Goldenen Thrones. Sie war ihm offensichtlich sehr wichtig, doch Julian hatte sich bisher nicht getraut zu fragen. Eigentlich redeten er und Ilion offen über nahezu alles, doch... Er hatte für sich selbst entschieden, dass er diese Frage solange wie möglich ignorieren wollte. Julian kam an dem Ort an, an welchem sie ihre Wyvern gelandet hatten. Er erinnerte sich lebhaft daran, wie nervös er beim ersten Mal gewesen war, ob sie ihre Wyvern überhaupt Landen lassen könnten, doch das war kein Problem gewesen. Er war nicht der einzige Völkerlose, der aus dem Wolkenreich kam. Sie hatten alle eine stumme Vereinbarung, einander nicht zu verraten. Er betrat das Boot, ging zu Lexon und begann, sich mit dem Wyvern zu unterhalten, welcher ihm seit Jahren treue Dienste leistete. Jasper würde noch eine Weile weg sein- sein Bruder genoss diese Besuche genauso sehr wie er. Müde rieb er sich über die Stirn, als ihm von hinten eine Hand auf den Mund gepresst wurde. Im ersten Moment wollte er sich wehren, doch erkannte er diesen Geruch sofort. Er bekam eine Szene mit einem Jungen, welcher leise flüsterte: „Folge mir, aber sei leise." Er nickte in die ihm so vertraute Hand und spürte, wie der Druck verschwand. Ohne zu zögern folgte er Ilion hinein in die Dunkelheit, durch eine Tür und blieb zweifelnd stehen. Er warf Ilion einen Blick zu und hob eine Augenbraue. Dieser nickte ihm zu, bevor er ohne ein Geräusch mit einem Kopfsprung im Wasser verschwand. Zweifel machten sich in Julian breit. Ilion hatte ihn schon wieder stehen lassen. Zum dritten Mal diesen Monat. Und jetzt wollte er...? Aber wem machte er etwas vor. Als ob er Ilion in irgendeiner Art und Weise wiederstehen könnte. Seufzend sprang er hinterher.

Unter Wasser sah er das Ziel, welches Ilion offensichtlich ansteuerte. Einen von innen beleuchteten Pavillon, mit getönten Scheiben. Er fragte sich kurz, was das Ding hier unten machte, doch verwarf den Gedanken wieder. Er war unter Faheena. Hier war alles möglich. Ilion öffnete eine Luke, winkte ihn durch, kam hinterher und schloss ihn wieder, bevor er das Wasser mit seinem Willen entfernte. Julian musterte ihn, während er sich mit einem kurzen Wort abtrocknete. Ilion tat das gleiche, bevor er sich Julian zuwandte und ihn für einen Moment einfach nur ansah. „Wie geht's dir?", fragte er dann leise. Julian sah ihn nur weiter an. Er wusste nicht, wie er diese Frage ehrlich beantworten sollte. Langsam schüttelte er als den Kopf und lies sich gegen eine der Wände auf den Boden sinken. Er sagte immer noch kein Wort. Was sollte er auch schon sagen? Er war schon wieder versetzt worden. Aus einmal im Jahr mit einer berechtigt klingenden Entschuldigung, die er ankündigte, wurde so oft, dass Julian den Überblick schon fast verloren hatte. Ilion entschuldigte sich auch nicht mehr vorher. Er wusste nicht, was sich so verändert hatte, außer... Julian kämpfte gegen die Tränen an, die drohten, in ihm aufzusteigen. Das würde Ilion niemals tun und Julian würde es ihm nicht vorwerfen. Also tat er das eine, was er immer tat, wenn er nicht wusste, wie er etwas herüber bringen sollte. Er schwieg. Julian sagte generell nicht viel, doch je wütender, trauriger oder anderweitig schlecht gelaunt er war, desto stiller wurde er. Verunsicherung zählte auch dazu, aber vor allem tat es weh. Es tat so unglaublich weh und er wollte den letzten Faden ihrer Beziehung nicht loslassen, also hielt er die Klappe und wartete darauf, dass der Fürst ihm eine weitere Fadenscheinige Ausrede hinpfefferte. Doch stattdessen kam etwas anderes. „Ich werde für ein paar Tage gehen müssen. Vielleicht mehr. Ich sollte eigentlich nicht einmal hier sein", verkündete er. Julian schwieg in stiller Furcht. Würde er... War's das? Ilions Augenbrauen zogen sich zusammen. „Jules, was ist los?", fragte er leise und kniete sich vor Julian auf den Boden. „So still hab ich dich noch nie erlebt." Natürlich hatte er das nicht. Julian sprach mit niemandem so viel, wie er es mit Ilion tat und in Ilions Anwesenheit war er glücklich. Also, normalerweise. Jetzt gerade... „Wohin gehst du?", fragte er, anstatt die Frage zu beantworten. Ilion sah ihn besorgt an, bevor er meinte: „Kann ich dir nicht sagen, tut mir Leid. Es... es ist eine familiäre Angelegenheit." Resigniert schloss Julian die Augen. Die Standardaussage also. Er konnte es nicht länger zurück halten. „Was ist los, Ilion? Hab ich irgendwas falsch gemacht? Was ist passiert, dass du mir ständig aus dem Weg gehst?", fragte er, doch es kam jammernder herüber, als eigentlich geplant, was ihn wieder daran erinnerte, warum er in solchen Situationen lieber still blieb. Er ließ seine Gefühle viel zu schnell an anderen Menschen aus, egal ob sie etwas dafür konnten, oder nicht. Und auch wenn Ilion in diesem Fall tatsächlich etwas dafür konnte, war Julian jemand, der ungerne zeigte, wie es ihm in solchen Momenten wirklich ging- solche Angelegenheiten ließen sich einfach besser regeln, wenn beide Parteien bei klarem Verstand und nicht blind vor Wut oder Schmerz waren. Er war beides im Moment. „Jules?", fragte Ilion leise und seine Stimme hatte einen, für ihn untypisch sanften Ton. Julian sah hoch und blickte ihn an. „Ich würde dich niemals anlügen. Niemals. Ich hatte gehofft du würdest das Wissen, aber... Ich schätze, ich hätte selbst darauf kommen können, wie das alles wirkt", sagte er leise. „Ich werde für eine Zeit weg sein- aber du wirst mich immer erreichen können. Und ich werde dir immer antworten, sobald ich kann. Sollte ich das nicht tun, kann ich dir garantieren, dass irgendjemand in akuter Lebensgefahr schwebt. Ist das... Reicht das für dich? Sonst... Ich könnte...", sagte er, doch beendete seinen Satz nicht wirklich. Julian sah ihm an, wie viel Überwindung es ihn kostete, die weitere Möglichkeit überhaupt anzusprechen. „Es reicht. Wenn du meinst, dass ich es nicht wissen sollte, reicht es", antwortete er ihm. Der Fürst sah ihn eine Weile lang an, bevor er leise sagte: „Nein. Nein, tut es nicht. Ich muss dir was zeigen. Vielleicht... Vielleicht glaubst du mir dann." In Julian zog sich etwas zusammen. Das war schon wieder schief gelaufen. NATÜRLICH ging Ilion jetzt davon aus, dass er ihm nicht vertraute. Andererseits... So ungerne er das auch zugab, so unmöglich war das nicht. Das er es überhaut in Frage stellte, sagte doch eigentlich genug. Ilion war aufgestanden und auf die Tür zugegangen, als Julians Dämme brachen. Er gab sich Mühe, die Schluchzer zu unterdrücken, doch mit den Tränen war das unmöglich geworden. „Es tut mir Leid", sagte er mit Tränenerstickter Stimme. Ilion fuhr herum und war schneller bei ihm als er gucken konnte. „Hey, Love, was ist los? Dir muss gar nichts leidtun, du kannst da nichts für. Überhaupt gar nichts", sagte er und zog ihn in seine Arme. „Alles ist gut, Darling, du hast nichts falsch gemacht." In diesem Moment war's das auch mit dem unterdrückten Schluchzen. Verzweifelt rang er nach Luft, während sich eine Flut an Tränen aus ihm herauskämpfte und sich über sein Gesicht ergoss. „Aber ich könnte dir vertrauen. Ich könnte... Es wäre soviel einfacher, wenn ich dich einfach nicht angezweifelt hätte", brachte er hervor und versuchte verzweifelt sich gegen die Schwere in seiner Brust zu wehren. Das sollte aufhören. Einfach... einfach... Ilion strich ihm über den Rücken, doch Julian merkte, dass auch er sich verspannt hatte. Ihm hatte dieser Satz wahrscheinlich noch viel mehr wehgetan. „Es tut mir Leid", sagte er ein weiteres mal und diesmal antwortete Ilion nicht. Sie saßen eine Weile schweigend da. Es tat weh. Es tat so unglaublich weh. Julian wollte gar nicht wissen, wie dieser Abend noch enden würde. Er wollte nicht wissen, was Ilion gerade dachte. Er wollte nicht wissen wie er sich gerade fühlte. Er klammerte sich noch ein bisschen mehr an den Fürsten. Er wollte es nicht wissen.

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