Kapitel 2

„Miss Call?“, riss mich die helle Stimme der Sekretärin aus meinen Gedanken. Als ich erwartungsvoll meinen Kopf hob, sah ich in das freundliche Gesicht der jungen Lateinamerikanerin. Sie durfte wohl nicht viel älter als ich selbst sein.

„Mr. Sangster erwartet Sie nun.“ Während ich mich aus dem dunklen Ledersessel in der noch dunkleren Eingangshalle erhob, ging die Assistentin, ihrem Namenschild nach Gloria S. , bereits voraus. Schnell folgte ich ihr durch die langen und eindrucksvollen Gänge des Hauses, wobei meine hohen Schuhe auf dem Parkettboden klackernd ein Echo hinterließen. Erstaunt und beeindruckend schaute ich mich immer wieder um.

Kelly und ich lebten gemeinsam in einer Drei-Zimmer-Wohnung, und es hatte uns nie gestört, weil wir beide super damit klarkamen. Aber wenn ich so durch scheinbar kilometerlange Flure geführt wurde, kam mir mein eigenes Leben nur noch minderwertiger vor. Ich hatte versucht, die Türen, die von dem mit dunklem Teppich ausgelegten Gang abgingen, zu zählen, doch hatte schnell den Überblick verloren. Bereits als ich das Grundstück mit meinem kleinen und unscheinbaren Fiat befahren hatte, war mir beinahe die Kinnlade heruntergefallen. Riesige Gärten mit Teichen, Rosen- und andere Pflanzensträuchern und geschlungene Pflastersteinwege. Wenn ich es hätte beschreiben müssen, hätte ich wahrscheinlich wirklich einfach gesagt, dass es wie in einem Märchen aussah. Nur, dass das hier kein Märchen und auch kein Traum war.

Während des Gehens räusperte sich Gloria, was mich schnell in die Realität zurückholte. Etwas perplex blinzelte ich einige Male. Schweigend näherten wir uns einer hellen Holztür mit elegantem Kristallknauf, vor welcher Gloria sich mir zuwandte und lächelnd sagte: „Viel Glück. Wenn Sie später noch etwas benötigen, kommen Sie gerne zu mir.“ Damit drehte sie sich auf dem Absatz um und verschwand in einem der hell beleuchteten, angrenzende Gänge, bevor ich mich bedanken konnte. Mit etwas zitternden Händen strich ich mein schlichtes, knielanges Satinkleid -welches so ziemlich das teuerste Kleidungsstück war, das ich besaß- glatt und nahmen einen tiefen Atemzug.

„Das wird schon“, sprach ich mir flüsternd Mut zu, bevor ich vorsichtig anklopfte.

*wenige Stunden vorher*

„Lass es! Das sieht jetzt schon scheiße aus!“ Kelly hörte nicht auf meine Beschwerde, sondern fuhr unbeirrt fort, meine Haare zu einem Dutt zu drehen. „Kira“, fing sie an, und ich wusste, dass mir eine Predigt bevorstand. „DIESES Interview ist deine Möglichkeit, endlich weiterzukommen. ICH werde nicht erlauben, dass du es versaust.“ Seufzend festigte sie ihr Kunstwerk mit einigen Nadeln. „Eigentlich sollte ich dir so etwas gar nicht sagen müssen.“ Jetzt war ich es, die laut aufseufzte.

Ich saß in unserer kleinen Wohnung auf einem Barhocker, und konnte in dem kleinen Spiegel an der gegenüberliegenden Wand nur erahnen, was Kelly mit mir anstellte. Natürlich hatte sie recht, doch das würde ich offensichtlich niemals einfach so zugeben. Mit einem leichten Augenverdrehen griff ich nach der neuesten Ausgabe der New York Times, welche neben mir auf den Tisch lag. Auf dem Cover schaute mich ein junger Mann mit einem geheimnisvollen Blick an. Ein sehr vertrauter Blick. Der Blick des Mannes, dessen Anzug ich vor wenigen Tagen mit Kaffee überschüttet hatte.

An dem Tag, in all der Hektik, war mir entgangen, wer eigentlich vor mir gestanden hat, doch kaum, dass ich sein Gesicht in dem Meeting an noch denselben Tag gesehen hatte, wäre ich beinahe im Boden versunken.

Thomas Sangster war momentan einer der begehrtesten Menschen überhaupt. Jung, gutaussehend, ziemlich clever – und das wichtigste natürlich für die Presse: steinreich. Zumindest seit kurzem. Thomas Vater gehörte eine der größten Marken des Landes, bevor er vor wenigen Wochen plötzlich verstarb. Damals hielt sich die Aufmerksamkeit um die Familie Sangster in Grenzen, doch nicht lange darauf ließen ihre Anwälte durchsickern, welch Vermögen Thomas geerbt haben soll. Keine Geschwister, und sein Vater war geschieden.

Doch Thomas Sangster erbte nicht nur einen Haufen Geld, sondern auch das Haus der Familie, sowie die Rechte gesamten an der Marke seiner Vorfahren.
Und er war single. Ich will nicht wissen, wie viele Frauen bei ihm schwach wurden, doch laut seiner Aussage habe er noch nie eine wirkliche Beziehung geführt. Und er hatte wirklich viele Aussagen gemacht, da sich momentan alle um ein Interview mit ihm prügelten. Und ausgerechnet ich sollte diese Aufgabe für die neueste Ausgabe von der New York Times übernehmen.

„Er sieht ziemlich heiß aus, findest du nicht?“, fragte Kelly unvermittelt. Sie stand noch immer hinter mir und hatte anscheinend über meine Schulter auf das Magazin in meiner Hand geschaut. Schnell räusperte ich mich, da mir plötzlich ein Kloß im Hals steckte. „Schon“, murmelte ich heiser. Ohne etwas zu erwidern klatschte Kelly hinter mir in die Hände, kam strahlend um den Hocker herum und musterte mich. „Perfekt!“, stieß sie glücklich auf und klatschte erneut in die Hände. Wenn Kelly so etwas sagte, musste auch tatsächlich etwas dran sein.

Sie war beinahe der Inbegriff von Amerikas Frauenimage. Hoch gewachsen, dünn, blondes Haar und verdammt blaue Augen. Ich stemmte mich vom Barhocker hoch und zog Kelly in eine Umarmung. „Ich danke dir“, flüsterte ich. „Das kannst du gern machen, wenn später noch Zeit ist. Jetzt kümmern wir uns um den Rest deines Aussehens.“ Sie zwinkerte und meinte mit einem Grinsen: „Du sollst unseren Mister Single ja schließlich um den kleinen Finger wickeln.“

„Kelly!“, rief ich entsetzt. „Das hier ist mein Job!“ Ich versuchte, ihr einen ernsten Blick zuzuwerfen, was aber scheiterte und in einem Lächeln endete.

Augenrollend folgte ich ihr durch den kurzen Flur in mein Zimmer, wo sie den Rest meines Outfits aussuchen wollte.

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