Kapitel 1

„Ja, ist ja gut, okay? Ich hab’s kapiert.“ Genervt atmete ich scharf ein. „‘Tschuldigung“, murmelte ich leise, während ich mich an einem älteren Ehepaar vorbeizwängte, welches den halben Gehweg für sich beanspruchte.

Das Handy mit der einen Hand noch immer dicht an mein Ohr gepresst, eilte ich mit einem Kaffeebecher in der anderen Hand durch die Innenstadt. Ich hatte noch nie verstanden, warum das Büro meiner Arbeit, der Standort der beliebten Zeitung „New York Times“, inmitten von New York City lag. Anstelle einen gut befahrbaren Ort von außerhalb auszuwählen, entschied man sich damals für den Stadtbezirk Brooklyn, mitten in dem Trubel des Alltags.

„Kira? Bist du noch da? Hast du mich verstanden?“ Die Stimme meiner besten Freundin und Mitbewohnerin Kelly drang vom anderen Ende der Leitung in mein Ohr. „Hm“, war das einzige, was sie als Lebenszeichen bekam, da ich gerade an meinem lauwarmen Kaffee nippte. Kaum, dass ich den Mund wieder frei hatte, brachte ich das Gespräch schnell zum Ende. „Hör zu, ich hab’s echt eilig und bin sowieso schon wieder viel zu spät dran. Wir reden nachher darüber.“ Damit war die Sache für mich erledigt, und auch, wenn ich Kelly empört nach Luft schnappen hörte, wartete ich nicht länger auf eine Antwort, sondern legte auf.

Sobald das Display meines Handys erlosch, spiegelte sich mein Gesicht in ihm. Normalerweise war ich nicht wirklich unattraktiv, konnte mich sogar ziemlich elegant wirken lassen, wenn ich es denn wollte. An diesem Tag jedoch, wie an so vielen anderen auch davor, steckten meine dunklen Haare in einem widerspenstigen Pferdeschwanz. Einige lösten sich bereits und fielen zu den Seiten meines schmalen Gesichtes in leichten Wellen hinunter. Unter meinen großen Augen zeichneten sich deutlich die Augenringe von vielen Nächten mit zu wenig Schlaf ab.

Als ich endlich mein Handy in meine Jackentasche hab gleiten lasse, strich ich mir schnell meine losen Haarsträhnen hinter die Ohren, den Blick noch immer auf den Boden vor mir gerichtet. Jedoch hätte ich wohl lieber auf den Gehweg achten sollen, da ich in der nächsten Sekunde mit jemandem zusammenstieß. Im einen Moment war ich noch tief in das vorstehende Meeting gewesen -für das ich bereits viel zu spät dran war- und im anderen Moment spürte ich, wie sich die warme, braune Flüssigkeit aus meinem Becher über meine Hände ergoss.

Schnell schreckte mein Kopf nach oben, bereit, eine Sinnflut von Entschuldigungen loszulassen, doch sie blieben mir allesamt im Hals stecken. Noch ehe einer von uns beiden etwas sagte, fixierten seine dunkelbraunen Augen meine grünen und musterten mich dann langsam. Auch ich schüttelte schnell die kurze Verbindung ab und brachte nun doch eine Entschuldigung hervor, als ich sah, dass der Anzug des Fremden genauso ruiniert aussah wie mein eigenes Outfit. Nur, dass allein sein helles Hemd teurer auszusehen schien, als mein gesamter Kleiderschrank zusammen. Und ich hatte das angerichtet.

„Es- Oh mein Gott, das tut mir unendlich leid. Ich hab‘ nicht nach oben gesehen und- es tut mir echt leid.“ Ich spürte, wie mein Gesicht anfing zu glühen vor Scham. Ständig passierten mir solche Missgeschicke. Während ich jedoch kurz davor war die Fassung gänzlich zu verlieren, sah mein Gegenüber beinahe schon entspannt aus. Mit seiner trockenen Hand fuhr er sich durch seine gestylten, gold-blonden Haaren, bevor sich seine Aufmerksamkeit wieder auf mich richtete.

Eigentlich hatte ich immer gedacht, dass mein Blick einschüchternd und ausdrucksvoll war, doch diese Ansicht war mit einem Mal hinüber. Mein Ausdruck war nichts im Vergleich zu dem des Fremden. Er war gleichzeitig geheimnisvoll als auch fordernd, zurückweisend als auch unbeschreiblich intensiv. Schnell blinzelte ich einige Male, als mir auffiel, dass ich ihn die ganze Zeit über wie ein Auto angestarrt hatte. „Ich ersetze Ihnen natürlich Ihren Anzug“, brachte ich endlich seufzend hervor, als ich meine Fassung etwas mehr wiedererlangt hatte.

Aus meiner linken Jackentasche, welche von dem Kaffee verschont geblieben war, fischte ich schnell meine Visitenkarte hervor und reichte sie meinem Gegenüber. Dieser schaute mich eine Sekunde mehr an, bevor er den Blick senkte und auf die Karte in meiner Hand starrte. Mit einem etwas schiefen Lächeln nahm er sie an und steckte sie in seine hintere Jeanstasche. Dann holte er aus der anderen Tasche zwei Tücher, reichte mir eines davon und benutzte das andere dafür, seine Hände richtig zu trocknen.
„Solche Missgeschicke passieren.“

Es war das erste Mal, dass er sprach, seine Stimme klang rauer und tiefer, als ich es erwartet hatte. Für sein Verständnis dankbar nickte ich schnell und brachte nun endlich ebenfalls ein leichtes Lächeln hervor. Auch ich wischte mir schnell meine Hände feuchten an dem Tuch ab, bevor ich es in meine Hosentasche stopfte. Das Handy in meiner Jackentasche begann erneut zu klingeln, und leise fluchend zog ich es aus meinem Trenchcoat. „Scheiße“, flüsterte ich, als die Telefonnummer meines Vorgesetzten aufleuchtete. Mein Blick zuckte schnell wieder zu dem Mann vor mir, wobei ich bemerkte, dass er mich wieder ansah.

„Ich- es tut mir leid, ich muss jetzt gehen“, verabschiedete ich mich schnell und war mir durchaus bewusst, wie unhöflich ich war. Während ich mich an ihm vorbeischob, drückte ich das Handy dicht an meine Brust. „Melden Sie sich unbedingt wegen dem Anzug, es tut mir wirklich leid.“ Sein Blick folgte mir und er nickte mir schweigend zu, bevor er schlichtweg meinte: „Auf Wiedersehen.“ Dann hatte er sich bereits umgedreht und war mit der Menschenmasse auf dem Gehweg verschmolzen, ehe ich etwas erwidern konnte.

Auch ich drehte mich endlich um und nahm schnell das Telefonat an. Während ich weiter durch die Stadt eilte und mir eine bemerkenswerte Anzahl an Wutausbrüchen von meinem Chef anhören musste, fiel mir erst jetzt auf, dass ich nicht einmal den Namen des Unglücklichen, den ich getroffen hatte, kannte.

Doch ich machte mir nicht allzu viele Gedanken darum, weil ich mir sicher war, dass ich nachdem ich den Schaden bezahlt haben würde, sein Gesicht schnell vergessen hätte.
Schließlich war es nicht mehr als eine flüchtige Begegnung gewesen, richtig?

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