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Renjun ist am Schulschluss der Erste, der vor Jaemins Klassenraum steht.

"Kannst du mir das bitte nochmal erklären?", fleht er fast schon, "ich kann sonst nachher nicht schlafen."

"Denk an etwas ganz Bestimmtes. Aus der Vergangenheit. Und jetzt gib mir deine Hand."

Zögerlich hebt Renjun sie an, Jaemin legt seine kühlen Finger um die des Kleineren, schließt aufgrund des Lautstärkepegels um sie herum die Augen, um sich konzentrieren zu können.

"Deine erste Eins in einer Matheprüfung. Deine Eltern haben dir dafür einen neuen Zeichenblock gekauft. Noch am gleichen Tag. Und einen Stift durftest du dir auch noch aussuchen und hast extra einen günstigen genommen, weil der Block schon so teuer war." Als Jaemin seine Augen wieder öffnet, bemerkt er einen leichten Rotschimmer auf Renjuns Wangen. "Du hattest einen blauen Hoodie an und Stiefel und einen Mantel. Ich kenne deine Erinnerung und darüber hinaus alles, was an diesem Tag stattgefunden hat, ich kann dir sagen, welche Bücher in dem Regal neben dir gestanden haben, auch wenn du dich nicht daran erinnerst. Einfach deine Erinnerung aufnehmen und mich darin umsehen. Genauso mit deiner Zukunft."

Zwei bekannte Arme schlingen sich um Jaemins Taille, gleich darauf legt Jeno den Kopf auf seiner Schulter ab.

"Krieg ich einen Trost dafür, dass ich eben in Chemie eine Petrischale runtergeschmissen und dafür Anschiss gekriegt hab?"

Renjun starrt sie an, wie sie beide förmlich aufleuchten, nur weil sie beieinander sind, wie ausgeglichen Jaemin auf einmal scheint, wie ehrlich Jenos Emotionen sind.

"Mann gut, du hast auf uns gehört", murmelt er. Das Pärchen hört ihn nicht, ist zu beschäftigt mit dem Buch in Jaemins Hand und einander, doch es ist ihm auch nicht wichtig. Wer weiß, ob sie überhaupt einen Einfluss darauf hatten, dass Jeno beim Fußballteam ihrer Klasse mitgemacht hat, oder ob es nicht von Anfang an so sollte.

"Bitte", jammert Jeno, und Jaemin schnipst gegen seine Schläfe.

"Stell dich nicht so an."

"Ich hab voll Ärger gekriegt, ja!"

"Was habt ihr denn gemacht?", fragt Renjun nach

"In Chemie? Irgendwas mit einer Säure beträufelt, keine Ahnung, hatte einen seltsamen Namen."

Ein lautes Lachen unterbricht sie, gleich darauf tauchen die beiden Jüngsten im Gang auf. Chenle winkt ihnen fröhlich zu, und hinter den beiden erscheinen auch Mark und Donghyuck.

Zu dritt gehen sie ihnen entgegen und auf dem Weg aus dem Schulgebäude entsteht spontan die Idee, gemeinsam etwas essen zu gehen. Nicht nur Jaemin braucht die Erlaubnis der Eltern, aber sie alle erhalten eine und stehen bald darauf im nächsten Einkaufszentrum vor den vielen Essensausgaben.

"Willst du was?", fragt Jeno seinen Freund leise, Jaemin schüttelt den Kopf. Also setzen sie sich nur mit sechs Bestellungen an einen Tisch, und auch wenn sie es merken, fragt keiner nach, es fragt auch keiner, wieso er kaum etwas sagt. Die einzige Reaktion ist Jenos Hand, die seine nicht loslässt.

"Bunny." Er sieht zu Jeno, unsicher. "Wir gehen morgen zur Schulleitung, ja?"

"S-Schulleitung?"

"Du willst doch in meine Klasse wechseln, oder? Ich wüsste nicht, wen wir sonst fragen sollten."

"Das... Schon, aber... Meinst du, wir dürfen das überhaupt?"

Jeno zuckt mit den Schultern, lächelnd. "Ausprobieren."

"Und wenn das nicht klappt?"

"Dann sehen wir weiter. Du kommst zu mir, das verspreche ich dir. Wir finden einen Weg."

"Danke", flüstert Jaemin, seine Hand fester drückend.

"Hey, Nomin", werden sie auf einmal von Mark unterbrochen, "was war das vorhin eigentlich?"

"Was?", fragen sie wie aus einem Mund zurück.

"Als du... Jeno, naja, abgetastet und dich gefreut hast. Ihr euch gefreut habt."

Jaemin wirft Jeno einen ängstlichen Seitenblick zu. Renjun mag es vielleicht hingenommen, akzeptiert haben, aber die anderen vier? Er kann ihre Reaktionen nicht einschätzen, hat also Angst vor ihnen. Er will nicht für verrückt erklärt werden. Aber er will es auch nicht für sich behalten, schließlich werden sie wohl irgendwann wissen wollen, warum er nie von seiner Kindheit, eigentlich seinem ganzen bisherigem Leben erzählt.

"Du kannst es einfach zeigen", sagt Jeno leise, lächelt sanft. Also holt Jaemin tief Luft, hält zuerst Mark seine Hand hin.

"Denk an etwas von früher. Eine schöne Erinnerung, irgendwas. Nur nichts Peinliches." Mark hebt eine Augenbraue, folgt Jaemins Bitte aber, seine Hand nehmend. "Grundschule. Zweite Klasse. Du kannst kaum ein Wort Koreanisch und trotzdem hängt sich gleich am ersten Tag Donghyuck an dich heran und verbringt seine Pause damit, dir Vokabeln beizubringen. Vor allem für die Schule. Ihr habt hinten auf dem Sportplatz gesessen, unter einer Weide, und das war auch das erste Wort, das er dir beigebracht hat."

Stille.

"Tut mir leid", sagt Jaemin leise, lässt Marks Hand los.

"Nein, alles okay, das... Wie, wie..."

"Mach das nochmal." Chenles Augen leuchten förmlich, er hält Jaemin bereits seine Hand hin.

"Ich will nicht–"

"Ich denk auch an was ganz Langweiliges! Bitte?"

Leise seufzend legt Jaemin seine Finger auf Chenles. "Dritte Klasse. Du sitzt bei deiner Oma im Wohnzimmer, ihr beschäftigt euch mit einem Delfin-Puzzle, mit grünem Tee und Schokokeksen. Den ganzen Nachmittag braucht ihr dafür. Sie hat im Wohnzimmer eine riesige Uhr hängen, die so laut tickt, dass sie deinen eigenen Atem übertönt. Und als sie pünktlich um sechs Uhr abends schlägt, zuckst du zusammen und schlägst fast deine Teetasse von Tisch."

"Wow", entfährt es Chenle. "Also kennst du meine ganze Vergangenheit?"

"Dein gesamtes Leben. Ich sehe deinen Abschluss, deine Karriere, deinen Tod. Und ich habe mich so gefreut, weil es nicht mehr so intensiv ist, wenn ich nicht darauf achte."

"Es wird also immer schwächer", schlussfolgert Mark.

"Ja. Wegen Jeno. Ich weiß auch nicht warum, aber bei meinen Eltern war das auch so. Also, meine Mutter hat mir das vererbt und mein Vater hat es bei ihr auch besser gemacht."

"Deshalb hattest du nach mir keine Freunde. Oh mein Gott, das macht so viel Sinn!"

"Chenle", murrt Jisung neben ihm, sofort entschuldigt der Kleinere sich.

"Geht das denn schnell, hyung?"

Jaemin schüttelt den Kopf. Viel zu langsam, will er sagen. Aber er bringt nichts hervor. Denn ihm ist etwas aufgefallen.

Während er von Jeno getrennt war, hat seine Fähigkeit sich wieder verstärkt. Sie ist schlimmer geworden. Was passiert dann mit seiner Mutter, wenn sie und sein Vater sich nicht einigen? Wenn ihre Trennung permanent ist?

"Bunny?", hört er Jeno leise, irgendwie verschwommen. "Alles okay? Du siehst blass aus."

"Entschuldigung", bringt er hervor, springt auf und stolpert davon.

22.08.2020
manchmal hab ich dieses dringende Bedürfnis meine Charaktere zu umarmen :')

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