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Jenos Strahlen ist überwältigend, als er Jaemin am darauffolgenden Montag vor seinem Klassenraum entdeckt. Schon ist er aufgestanden und zu ihm gekommen, hat ihn um die Ecke gezogen und umarmt.
"Du bist wieder hier."
"Dafür schläft meine Mutter momentan im Wohnzimmer", sagt Jaemin leise in Jenos Schulter.
"Was hat das eine mit dem anderen zu tun?"
"Meine Eltern haben sich deswegen gestritten. Also, weil mein Vater das nicht wollte und meine Mutter schon."
"Bunny, magst du mir das in der Mittagspause erklären? Ich weiß ja nicht, ob die paar Minuten jetzt noch dafür reichen."
"Aber wir sehen uns vorher, oder?" Angst schwingt in Jaemins Stimme mit.
"Natürlich. Die anderen haben auch schon den Auftrag, nach ihren Stunden zu deinem Raum zu kommen."
"Was...?"
"Sie wollen dich auch beschützen." Jeno lässt ihn los, nimmt sein Gesicht sanft lächelnd in die Hände. "Nana muss in Sicherheit sein."
Jaemins Blick sagt so viel, nicht nur Dankbarkeit. Jeno drückt ihm einen Kuss auf die Lippen, lächelnd.
"Ich bring dich zu deinem Raum, ja?"
Jaemin nickt, greift nach Jenos Hand, als sie die Ecke verlassen, an ihn geklammert, ängstlich.
Jeno bleibt bei ihm, bis es klingelt, denn Jaemin fühlt sich die ganze Zeit beobachtet, hat Angst, allein zu sein – von Jeno getrennt zu sein.
"Bunny, ich bin nächste Pause wieder hier. Versprochen. Ich nehm die anderen mit. Dir kann nichts passieren. Okay?"
"Okay." Jaemin verschränkt seine zitternden Hände, wackelt unruhig hin und her.
"Ich liebe dich."
Ein Strahlen wandert über Jaemins Gesicht, ein Leuchten durch seine Augen. "Ich dich auch."
Es lässt sich für ihn einigermaßen aushalten, da er weiß, dass er sich auf Jeno verlassen kann, aber er fühlt sich dennoch so unwohl, so beobachtet. So ist er froh, als sein Freund schon vor der Tür wartet, eilt an seine Seite und klammert sich an seine Hand.
"Hallo bunny, alles okay?"
"Jetzt schon."
Innerhalb von zwei Minuten tauchen auch die anderen auf, mal mehr, mal weniger gehetzt, und alle fünf freuen sich, Jaemin wiederzusehen, was dazu führt, dass er sich wohler fühlt als zuvor. So ist es auch in der nächsten Pause, auch wenn der das Gefühl des Beobachtens einfach nicht loswird. Ob es daran liegt, dass er so lange gefehlt hat und jetzt so plötzlich wieder da ist?
Viel kann er daran nicht denken, wird dafür zu sehr abgelenkt, aber es ist auch besser so.
In der Mittagspause essen sie auch zu siebt, und bleiben danach sitzen, allerdings kapseln sich Jeno und Jaemin schnell aus dem Gruppengespräch ab, beschäftigen sich stattdessen mit Jaemins Eltern – die mittlerweile nicht mehr auf einer Seite stehen, und besonders sein Vater ist davon nicht sehr begeistert.
"Er ist so wütend", sagt Jaemin leise, "manchmal hab ich fast Angst, dass er sie schlägt. Nur weil sie langsam anfängt, mich zu verstehen."
"Das ist gut. Das von deinem Vater nicht. Glaubst du, er reißt sich noch zusammen?"
Jaemin zuckt mit den Schultern. "Kann ihn nicht einschätzen. Aber vermutlich nicht. Er stellt sich total dagegen." Er sieht auf seine Finger hinab, spielt mit ihnen.
"Was ist, bunny?", hakt Jeno nach.
"Ich hab Angst vor ihm", gibt er zu. "Ich hab Angst, dass er mir oder meiner Mutter was antut. Ich weiß nicht mehr, wie er ist, ich kann mir nicht sicher sein, dass er es nicht tut. Ich weiß kaum etwas über ihn. Und ich will nicht, dass meine Mutter jetzt, sobald sie das Richtige tut, dafür Konsequenzen erfahren muss."
Jeno streicht über seine Wange, lächelt sanft. "Warte ab. Nicht darüber nachzudenken ist schwierig, das weiß ich, aber da du nicht weißt, wie er ist, weißt du auch nicht, ob er es tatsächlich tun würde. Vielleicht kannst du deine Mutter fragen und sie kann ihn einschätzen. Letztendlich musst du abwarten, was passiert."
"Ich weiß", murmelt Jaemin, "und das macht es so ätzend. Ich muss fast nie warten, weiß das alles immer vorher. Es ist seltsam, gar nichts zu wissen."
"Das wird dir noch häufiger passieren, bunny."
Für den Bruchteil eines Augenblicks erscheint ein Lächeln auf Jaemins Gesicht, doch er sagt nichts, nimmt nur vorsichtig Jenos Hand und schließt alle seine zehn Finger um sie, mit leichtem, aber bestimmendem Druck.
Ganz plötzlich wird er blass, seine Augen weiten sich. Er lässt Jenos Hand los, nimmt sie wieder. Lässt sie los, berührt sein Handgelenk, sein Ohr, seine Wangen.
"Bunny...?" Er schrickt zusammen, wieder bei Jenos Hand angelangt, die Augen noch immer aufgerissen, blickt nicht nur in eines, sondern in sechs verwirrte Gesichter.
"Es ist weg", platzt es aus ihm heraus. "Nicht weg, aber weniger." Fünf verständnislose Gesichter, ein Leuchten der Erkennung geht über Jenos.
"Ernsthaft?" Jaemin nickt, auf seine Finger starrend, als könnte er es nicht glauben.
"Seid ihr gewillt, uns aufzuklären, oder ist das ein Staatsgeheimnis?", murmelt Renjun.
"Welcher Staat?", hakt Jisung nach, verwirrt.
"Der Nomin-Staat natürlich. Na, Jeno und Jaemin. No und Min. Nomin."
"Oh", kommt es gleich aus drei Mündern, die beiden Jüngsten haben den Begriff bisher noch nicht gehört und Mark ihn nicht verstanden.
"Erde an Jeno und Jaemin." Der Jüngere wendet sich so plötzlich Renjun zu, dass der zurückzuckt.
"Das glaubst du mir sowieso nicht." Eilig steht er auf, gleich darauf klingelt es.
"Hey, bevor du das so beschließt, sag mir doch erstmal, worum es überhaupt geht!" Der Kleinere hastet hinter ihm her, stolpert beinahe in ihn hinein, als Jaemin urplötzlich stehen bleibt.
Erst als Jeno ihn erreicht hat, sagt er etwas.
"Ich will in deine Klasse", zu Jeno, "ich weiß, dass du mit fünf an Halloween ein Kürbis warst", zu Renjun. Dann setzt er sich wieder in Bewegung, nicht einmal auf Jeno achtend.
"What the fuck, Jaemin?!"
Er geht weiter, dreht sich aber um und lächelt schüchtern. "Ich weiß alles über dich, Renjun. Naja, nicht alles. Aber ich weiß, was du studieren wirst. Was du später machen wirst. Wann und warum du sterben wirst. Einfach nur, weil du mir mein Buch wiedergegeben hast und unsere Finger sich dabei berührt haben."
Einmal hüpft er noch freudig in die Höhe, dann ist er um die Ecke verschwunden und lässt Renjun mit einem noch immer riesigen Fragezeichen zurück.
19.08.2020
nope rope
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