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Jaemins Augen leuchten auf, als Jeno mit Nono im Arm Jieuns Zimmer betritt, er legt sogar sofort den Controller zur Seite und drückt den Stoffhasen an sich, sobald Jeno ihm ihn gegeben hat.

"Hast du das auch?", fragt Jaemin leise.

"Was, Breath of the Wild? Nein."

"Aber ihr könnt hierbleiben und du kannst weiterspielen", unterbricht Jieun ihn sofort, bevor Jaemin enttäuscht sein kann, und für einen kurzen Moment erscheint auf dessen Gesicht ein kleines Lächeln.

"Möchtest du weiterspielen, bunny?" Jaemin nickt, also setzt Jeno sich zu ihm und die beiden Zwillinge sehen ihm dabei zu, wie er sich durch das Tutorial kämpft.

Erst als sie zum Essen gerufen werden, hören sie auf, und danach ist Jaemin zu kaputt, um irgendetwas anderes zu tun als nur auf Jenos Bett zu liegen und sich in dessen Kissen zu kuscheln.

"Bunny?" Er sieht auf. "Möchtest du reden?"

"Ich bin müde", erwidert er leise, "ich will gerade gar nichts."

"Okay. Aber nicht schlafen", lächelt Jeno. Jaemin setzt sich auf, schüttelt den Kopf.

"Nono", sagt er auf einmal. Jeno sieht ihn fragend an. "Er ist noch bei Jieun."

Jeno steht also auf und holt den Stoffhasen aus den Zimmer seiner Schwester, setzt ihn vor Jaemin, der sich wieder hingelegt hat.

"Du bist nicht mehr so leblos", sagt Jeno leise, ohne darüber nachzudenken. Jaemin beginnt, mit den weichen Ohren des Hasen zu spielen.

"Mal sehen, wie lange das noch hält", murmelt er. Jeno setzt sich neben ihn und seufzt leise, mustert ihn.

"Und du willst immer noch nichts tun?"

Jaemin schweigt.

Er will. Aber er kann nicht. Es sind seine Eltern, egal, wie schlecht sie ihn behandeln mögen. Außerdem ist es ja gar nicht so schlimm, sie schlagen ihn nicht, lassen ihm seinen Freiraum. Und irgendwie wollen sie doch bestimmt nur das Beste für ihn, oder?

"Wenn du es nicht willst, bunny, dann tu es nicht. Aber ich will nicht, dass sie dich noch einmal beinahe in den Selbstmord treiben."

"Das tun sie überhaupt nicht!" Sofort setzt Jaemin eine leise Entschuldigung hinterher, Jeno streicht nur leicht über seinen Handrücken.

Stille.

"Ich weiß, dass du recht hast", flüstert Jaemin, "aber... vielleicht wollen sie doch nur das Beste für mich... Ich, ich weiß, dass das nicht so ist, aber sie sind doch meine Eltern..."

Jeno drückt seine Hand sanft. "Du wolltest nicht darüber reden. Also müssen wir das auch nicht." Jaemin schüttelt seinen Kopf, ganz leicht nur, und Jeno platziert einen Kuss auf seinem Handrücken. "Möchtest du lesen?" Der Jüngere nickt, also gibt Jeno ihm sein Buch und sofort verschwindet er darin, hebt erst wieder den Kopf, als Jeno aufsteht.

"Was machst du?"

"Zähne putzen", schmunzelt Jeno, "es ist elf." Erschrocken reißt Jaemin die Augen auf, sieht auf sein Buch hinab – er hat es fast durchgelesen.

"Warum hast du nichts gesagt?"

"Warum sollte ich etwas sagen?"

"Ich hab drei Stunden lang gelesen! Hast du... dich nicht gelangweilt?"

Jeno setzt sich wieder hin, mit einem unaufhaltbaren Lächeln. "Nein. Selbst wenn bist du nicht dazu verpflichtet, daran etwas zu ändern, besonders nicht, wenn du so in dein Buch vertieft bist."

Jaemin spielt mit den Seiten, sieht nur zwischendurch zu Jeno hoch. "Das ist echt okay...?"

"Ist es. Versprochen", setzt er lächelnd hinterher, als Jaemin ihn nur weiter unsicher ansieht.

"Du machst dich über mich lustig", sagt er leise.

"Nein. Du bist einfach nur unfassbar niedlich." Jaemin hält sich sein Buch vor das Gesicht, als er rot anläuft. "Siehst du."

"Hör auf", murmelt er leise, "sonst sterb ich noch." So sehr wie sein Herz rast, fühlt er sich davon nicht weit entfernt.

"Das passiert schon nicht. Kommst du mit?" Jaemin nickt und legt sein Buch zur Seite, greift zögerlich nach Jenos Hand, und die lässt er nicht los, bis sie wieder zurück sind.

"Möchtest du schlafen, bunny?"

"Und was machst du?"

"Mal sehen. Aber ich bleib auf jeden Fall hier."

Aber Jaemin bleibt sitzen, sieht auf seine Finger hinab.

"Was ist los?", fragt Jeno nach, setzt sich neben ihn.

"Was... Ich kann kaum schlafen", sagt Jaemin leise. "Und ich hab Angst davor."

"Hast du Albträume?"

"Immer."

"Bunny..."

"Ich weiß, dass es an ihnen liegt, ich weiß, dass ich etwas tun soll, ich weiß, dass es mir da nicht gut geht, ich–"

"Davon hab ich doch kein Wort gesagt." Jaemin begegnet Jenos besorgtem Blick und fällt zur Seite, versteckt sein Gesicht hinter seinem Hasen.

"Bunny." Jaemin schüttelt den Kopf, ein leises Schluchzen entkommt ihm, und Jeno hört es trotzdem. "Bunny, bitte. Was ist es jetzt?"

"Ich bin ein Arschloch", schluchzt er, "wegen meiner Eltern und ich kann trotzdem nichts dagegen tun."

"Du bist kein Arschloch."

"Was war das gerade denn dann?"

"Du bist gereizt. Verletzt. Verständlich, wenn du mich fragst."

"Und ich schaff's doch nicht, irgendetwas zu tun."

"Wenn du es möchtest, sorge ich dafür."

"Aber sie sind meine Eltern!"

"Manchmal sind Eltern nicht mehr als Erzeuger."

"Das hätten sie auch lassen sollen." Jaemin zieht seine Beine an, wünscht sich, verschwinden zu können, aber mehr als ein Wunsch ist es nicht. Jeno legt sich hinter ihn, legt vorsichtig einen Arm um ihn, aber als daraufhin seine Erinnerungen in Jaemins Gedanken auftauchen, rutscht dieser weg, schafft es, aufzustehen, während Jeno sich wieder aufsetzt.

"Ich hasse es. Ich hasse sie. Ich hasse, wie ich gelebt habe, wie ich lebe, und ich schaffe es nicht, etwas zu ändern! Ich will sie loswerden und kriege es ja doch nicht hin! Ich bin feige, ich bin schwach, ich habe Angst, und ich wünschte, ich könnte dieses eine Mal nur daran denken, dass es mir dann besser geht! Aber das will ich nicht verstehen, und ich weiß nicht mehr, was ich tun soll! Ich hab nicht einmal bei dir meine Ruhe, dann bist du auch da, die ganze Zeit da oben, dabei will ich dich doch einfach nur ein einziges Mal berühren, ohne das alles zu sehen! Ohne alles über dich zu erfahren! Du bist doch das Einzige, was nur meins ist und nicht von meinen Eltern erschaffen oder geholt oder– Und nicht einmal bei dir bin ich entspannt! Es geht nicht, es geht nicht, wenn ich allein bin, es geht überhaupt nicht! Ich will meine Ruhe, ich will niemanden in meinen Gedanken haben, ich will hier sein können und mein Heft zu Hause lassen! Ich will doch einfach nur ein Mal nichts über dich erfahren und trotzdem deine Hand halten! Ich will meine eigenen Entscheidungen treffen und das Beste für mich selbst machen und nicht auf andere hören oder achten! Ich will wissen, wie es sich anfühlt, normal zu sein! Ich kann nicht einen Schritt gehen, ohne davon fertig gemacht zu werden! Nie bin ich allein! Ich will doch einfach nur Ruhe!" Er schluchzt auf. "Ich will sterben."

"Komm her, bunny. Ich berühre dich auch nicht. Ich möchte nur, dass du herkommst und dich hinsetzt. Zu mir. Komm her." Jaemin sinkt neben ihn, klammert sich an Nono. "Es kommt. Du wirst deine Ruhe haben, du wirst allein sein, du wirst eigene Entscheidungen treffen, du wirst ohne deine Eltern leben. Nicht heute, nicht morgen, nicht nächste Woche. Aber es wird passieren. Bis dahin musst du nur durchhalten."

"Ich will nicht."

"Was hält dich hier, bunny? Warum kämpfst du gegen das Bedürfnis an, zu sterben?"

"Weil ich doch dich hab. Und du bist doch immer bei mir. Du machst mich doch glücklich."

"Und weißt du was, bunny? Ich bleibe. Ich bleibe für immer bei dir. Auch wenn du so tief unten bist, dass du den Himmel nicht mehr siehst. Ich lasse dich niemals allein. Ich sorge dafür, dass du allein bist und deine Ruhe hast. Ich helfe dir bei allem, bei dem du Hilfe willst. Und du wirst noch mehr Gründe finden, um zu bleiben. Da sind so viele Bücher, die du noch nicht gelesen hast. So viele Nächte, die du noch mit Nono kuscheln musst. So viele Pfirsiche, die du noch essen kannst. So viele neue Spiele, neue Süßigkeiten, neue Kuscheltiere, neue Orte, neue Menschen. Ganz viele Geburtstage, die noch auf dich zukommen. Ganz viele Tage, die ich bei dir bin. Du musst noch viel mehr lachen und grinsen und lächeln, und weinen und wütend sein und trotzdem nicht aufgeben. Du wirst an den Punkt kommen, an dem du keinen Grund mehr hast, zu gehen. Du wirst an den Punkt kommen, an dem du mehr schöne Tage hast als schlechte. Du wirst an den Punkt kommen, an dem du von deiner Fähigkeit nichts mehr spürst. Ich kann dich allein nicht überzeugen, zu bleiben und weiterzukämpfen, aber ich kann dir versprechen, dass ich dir dabei helfen werde, wenn du dich dafür entscheidest. Bei jedem einzelnen Schritt. Ich weiche nicht von deiner Seite. Unsere Wege haben sich gekreuzt und sind jetzt miteinander verschlungen. Ich bin hier, ich bin bei dir, und ich werde bleiben. Ich kann dir all das Schöne zeigen, das ich finde. Du musst es nur wollen. Nicht für mich tun, erst recht nicht für deine Eltern. Nur für dich. Aber wenn du dich dafür entscheidest, halte ich dich. Und ich lasse dich nicht einmal los, wenn du aufgeben willst. Ich lasse dich nicht los, wenn du stehen bleibst. Meinetwegen trage ich dich, wenn du sonst nicht weiterkommst. Meinetwegen machst du ganz kleine Schritte. Jeder von ihnen ist ein Fortschritt, jeder ist wichtig. Und keinen davon musst du allein machen. Ich bin hier. Ich bleibe. Ich warte. Ich helfe. Alles, was du möchtest. Aber wenn du einmal meine Hand genommen hast, lasse ich deine nie wieder los."

25.07.2020
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