[05]

Jisung PoV

"Jisungie, du musst aufstehen."

Meine Mutter kam in mein Zimmer und machte meine Jalousien hoch, weshalb ich die Augen zusammen kniff und grummelte. Morgens, wenn sie mich weckte, sagte ich nicht einmal mehr etwas.

"Na los, deine Brüder müssen erst später hin."

Danke. Die Information hat mich jetzt wirklich motiviert.

Sie kam zu mir und strich mir über meinen Arm. Wie sehr ich es doch hasste, wenn sie das tat. Die Stelle, die sie berührt hatte, begann unangenehm zu kribbeln und ich wartete nur noch darauf, dass ich endlich hörte, wie sie die Treppen runter ging. Als ich ihre Schritte auf der Treppe hörte, begann nich die Stelle zu kratzen, die sie berührt hatte. Nicht besonders lange, sondern nur für ein paar Sekunden, doch es half irgendwie trotzdem. Ich kratze nie so lange, dass es anfing zu bluten. Das hatte ich bis jetzt nur ein Mal gemacht, als sie mich im Gesicht berührt hatte. Alleine beim Gedanken daran konnte ich wieder ihre Hand an meiner Wange spüren und das Gefühl, das dadurch jedes Mal ausgelöst wurde.

Es war erbärmlich, nicht?
Ich konnte nicht einmal meine eigene Mutter berühren, ohne dass ich litt.

Ich war erbärmlich.

Seufzend begab ich mich aus meinem Bett und machte mich fertig. Dann mal wieder auf ins tägliche Elend.

Mit Musik in den Ohren machte ich mich auf den Weg zur Schule, doch war heute früher dran als sonst. Zehn Minuten um genau zu sein. Also ging ich zu meinem typischen Platz, um da auf den Unterrichtsbeginn zu warten.

Kaum war ich da, erkannte ich ein Stück weit von mir entfernt eine bekannte Gestalt, die gerade von zwei größeren Jungen gegen eine Wand gedrückt wurde und ziemlich zu leiden schien.

Immer wieder flogen Hände und Fäuste auf den Jungen zu, der sich jedes Mal vor Schmerzen krümmte. Ich sollte zu ihm hin, ihn beschützen und auf ihn aufpassen, doch ich konnte es nicht. Die Angst davor, dass sie mir das Gleiche antun würden wie ihm und dass ich ihre Berührungen nicht so einfach von meiner Haut kratzen konnte, hielt mich zurück. Doch ich konnte auch nicht gehen. Ich stand einfach nur da und sah zu, wie sie immer wieder auf den Rothaarigen einschlugen, weil ich Feigling sie nicht davon abhalten konnte.

Feigling.

Schwächling.

Idiot.

Arschloch.

Du bist doch selbst nicht viel besser als die, die auf ihn einschlagen, weil du es nicht auf die Reihe bekommst, ihm zu helfen, indem du einmal in deinem Leben über deinen eigenen Schatten springst.

Ich wollte helfen. Noch nie zuvor hatte ich mir so sehr gewünscht, dass ich keine Angst hatte oder dass ich diese Angst problemlos hinter mir lassen konnte. Ich wollte stark sein. Für Minho. Doch es ging einfach nicht. Meine Beine trugen mich nicht zum Schauplatz dieses schrecklichen Geschehens.

Je länger ich hin sah, desto mehr spürte ich auch Minho's Schmerz. Ich konnte jeden seiner Schläge an meinem eigenen Körper spüren und fühlte die gleiche Hilflosigkeit wie er.

"Shit, ich glaub dahinter kommt einer der Lehrer!", meinte einer der beiden und keine fünf Sekunden später waren beide verschwunden und ließen Minho an der Wand gekauert zurück.

Sobald ich mir sicher sein konnte, dass sie mich nicht sahen, ging ich zu Minho und nahm ihn vorsichtig in den Arm, stets darauf bedacht ihm nicht weh zu tun.

"Es tut mir so leid, Minho... Ich wollte dir helfen, aber ich konnte es einfach nicht. Und jetzt musst du Schmerzen ertragen, weil ich dir nicht geholfen habe. Genau wie gestern, kann ich eigentlich nur versuchen, dich zu trösten...", sagte ich mit brüchiger Stimme und hoffte, dass der Hinweis auf gestern genügte, damit er wusste, wer ich war.

"Es ist okay, Jisung. Du hättest mir eh nicht helfen können und am Ende wären wir beide verletzt worden."

"Aber du machst schon genug durch und ich will nicht, dass du das hier auch noch durchstehen musst."

"So schlimm ist es nicht. Es war eh nur dieses eine Mal, weil ich einen kleinen Fehler gemacht habe, für den sie mich bestrafen wollten. Sie machen das nicht regelmäßig, also mach dir keine Sorgen und gib dir nicht die Schuld. Darüber brauchst du dir deinen hübschen Kopf nicht zu zerbrechen."

Ich bin nicht hübsch. Warum sagt er sowas? Vor allem aber, warum sieht er mich wieder? Er trägt keine Brille.

Vermutlich sehe ich für ihn am besten aus, wenn er keine Brille auf hat.

"Siehst du mich denn jetzt richtig? Gestern ging es ja nicht.", fragte ich und löste mich aus der Umarmung, auch wenn ich langsam Gefallen an den Umarmungen mit Minho fand. Dennoch war es seltsam ihn ohne wirklichen Grund zu umarmen. Wir standen beide auf.

"Jap. Meine Mutter hat Kontaktlinsen besorgt, weil es mit meiner Brille noch zu lange gedauert hätte und ich in der Schule sonst nichts an der Tafel lesen kann. Aber die hatte ich halt gestern noch nicht."

"Klingt sinnvoll. Ansonsten könntest du ja auch gleich zu Hause bleiben und hättest mich nicht an der Backe."

"Ich glaube, ich hab dich ganz gerne an der Backe."

"Also kommst du in der Pause wieder hier her zu mir?", fragte ich und hoffte, dass er ja sagen würde. Irgendetwas gab mir das Gefühl, dass er derjenige sein könnte, der meine Einsamkeit beenden konnte, ohne dass ich Angst haben musste.

"Lass dich überraschen.", sagte er mit einem Lächeln auf den Lippen. Dann klingelte es und wir machten uns beide auf den Weg in unsere jeweiligen Klassenräume.

Nun saß ich im Unterricht und zerbrach mir den Kopf darüber, ob Minho nachher kommen würde.

Ja, ich war verunsichert. Aber wie sollte ich das auch nicht? Ich kannte Minho erst seit einem Tag und hatte mit meinen Mitmenschen eher schlechte Erfahrungen gemacht als gute. Also konnte ich nur hoffen, dass er sich überlegte zu kommen. Und wenn nicht? Dann hätte ich wohl wieder einmal die Chance darauf verloren, dass mich endlich jemand aus diesem Loch der Trauer und Ängste rausholte.

____________________________

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top