[03]

Jisung PoV

Ich fuhr alleine auf dem Fahrrad zum Friedhof. Normalerweise würde meine Familie mitkommen, doch meine Mutter arbeitete noch und was meine Brüder machten, wusste ich nicht. In meinem Fahrradkorb hatte ich eine Tasche mit den Kerzen, die ich auf das Grab stellen wollte. Ich bog auf den Parkplatz ab, der vor dem Friedhof war und suchte mir langsam den altbekannten Weg zwischen den verschiedenen Grabsteinen durch, bis ich bei dem mit der Aufschrift 'Han Jungmin' angekommen war.

Für einen Augenblick starrte ich einfach nur auf den schwarzen Marmor mit der hellen Schrift und fühlte mich wieder genauso wie das erste Mal, als ich vor diesem Grabstein stand. Mein kleines, ein wenig verloren wirkendes, 10-jähriges Selbst hatte damals Probleme gehabt, überhaupt die Kerze anzuzünden, da durch die Tränen in meinen Augen mein ganzes Sichtfeld verschwommen war, doch nun lief nicht eine einzige Träne meine Wangen runter, als ich eine brennende Kerze nach der anderen auf dem Grab platzierte. Irgendwann hatte ich einfach damit aufgehört, um das zu weinen, was ich verloren hatte.

Ich setzte mich vor das Grab und beobachtete die kleinen Flammen, die langsam flackerten.

"Entschuldigen Sie bitte?", fragte plötzlich eine Stimme hinter mir und ließ mich zusammen zucken. Vor mir stand ein Junge. Vermutlich in meinem Alter oder ein bisschen älter. Er war wirklich hübsch mit seinen orangenen Haaren, die seine Gesichtszüge gut betonten.

"Du brauchst mich nicht siezen. Wir sind vermutlich ungefähr im gleichen Alter. Wie kann ich dir helfen?"

Normalerweise hätte ich keinem Fremden meine Hilfe angeboten, aber jemand in meinem Alter, der auf dem Friedhof nach Hilfe sucht, musste ähnliche Schmerzen durchlebt haben wie ich und als meinen Leidensgenossen konnte ich ihn nicht einfach hier stehen lassen.

"Ich such nach dem Grab meiner Großmutter, aber ich finde es nicht. Weißt du zufällig, wo das Grab von Lee Sunhee finde? Ich war der Meinung, es hätte hier sein müssen, aber meine Augen sind wirklich schlecht und bei meiner Brille werden gerade die Gläser getauscht. Ich seh also quasi gar nichts richtig."

Ich behielt also recht damit, dass er ebenfalls jemanden verloren hatte, der ihm wichtig war. Deshalb entschied ich mich dazu, ihm noch weiter zu helfen und meine sonstige Angst zu ignorieren. Außer uns beiden war hier niemand, weshalb ihm auch niemand anderes helfen würde.

"Das müsste hier in der Nähe sein. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich es schon öfter gesehen habe. Soll ich dir suchen helfen? Wenn du so schlecht siehst verläufst du dich noch.", bot ich ihm an.

"Das wäre nett, aber eine Wegbeschreibung reicht auch völlig aus, wenn du lieber alleine sein willst."

"Ich will nicht alleine sein.", sagte ich mit fester Stimme. In diesem Moment wollte ich nichts sehnlicher als Gesellschaft und dieser Junge kam genau richtig. Er konnte mich nicht richtig sehen, weshalb er, selbst wenn etwas passierte, dass mir unangenehm war, mich nicht wieder erkennen würde. Er würde mich nicht mit mitleidigen Blicken verfolgen. Ich stand also auf, hob meine Tasche auf und klopfte mir den Dreck von der Hose.

"Darf ich fragen, wie du heißt? Ich komme mir komisch vor, wenn ich keine Ahnung habe, mit wem ich hier eigentlich rede.", fragte der Junge nervös. Sollte ich nicht der von uns beiden sein, der nervös ist?

"Mein Name ist Han Jisung."

"Ich bin Lee Minho."

"Dann folg mir, Minho. Ich weiß genau, dass ich auf meinem Weg hierher daran vorbeigelaufen bin."

Er nickte und ich führe ihn in Richtung des richtigen Grabes. Inzwischen hatte ich jeden Namen auf den Gräbern so oft gelesen, dass ich aus meinem Kopf einen Lageplan hätte zeichnen können. Für mich war es kein Problem mehr, mich zurecht zu finden, doch Minho's Schritte waren zögerlich, als wüsste er nicht einmal wirklich, wo er eigentlich war.

"Ist alles okay, Minho? Du wirkst so zögerlich.", fragte ich ihn vorsichtig.

"Es ist nichts okay.", zischte er gereizt und als ich seinen stechenden Blick bemerkte, bereute bereits, dass ich gefragt hatte, "Wie würdest du dich fühlen, wenn du gerade den wichtigsten Menschen in deinem Leben verloren hast und jetzt halb blind neben einem fremden Typen durch die Gegend läufst, weil du zu dumm bist, um das richtige Grab zu finden, huh?!"

Schweigend ging ich weiter. Meine Frage war einfach dumm und unangebracht gewesen.

Die Frage ist nicht das Einzige, was an dir dumm ist, Jisung.

"Tut mir leid. Es war dumm von mir zu fragen..."

"Ja, das war es wohl."

Schweigen. Dann seufzte Minho.

"Sorry, dass ich dich so angefahren habe. Das setzt mir alles im Moment ganz schön zu und ich bin schnell gereizt. E-Es ist einfach so viel auf einmal und ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll. W-Warum tut es so weh, Jisung?"

Seine Stimme zitterte und Tränen liefen ihm über die Wangen. Ich tat, wovon ich mir wünschte, dass es damals jemand bei mir getan hätte. Ich blieb stehen und zog den komplett fremden Jungen in meine Arme und hielt ihn fest an mich gedrückt. Vielleicht brauchte ich diese Umarmung gerade auch. Minho weinte sich an meiner Schulter aus und auch ich begann zu schniefen. Auch wenn man es nicht immer merkte, setzte mir das Leid anderer ziemlich zu und Minho's Schmerz konnte ich gerade besser nachvollziehen, als ich es je bei jemandem anderes konnte.

"Ich weiß es nicht. Aber du bist stark genug, um das auszuhalten, hörst du? Es mag im Moment vielleicht alles viel zu viel sein, aber es wird wird besser. Glaub mir... Ganz langsam wird der Schmerz weniger und irgendwann ist er weg und es sind nur noch schöne Erinnerungen mit deiner Großmutter da. Es ist ein langer Weg, den du bis zum Ende gehen musst..."

Woher meine Worte kamen, wusste ich nicht genau, aber ich hoffte, dass sie Minho halfen. Ich selbst war diesen Weg bei Weitem noch nicht zu Ende gegangen. Auch ich stand erst bei der Hälfte des Weges, doch ich wollte Minho Mut geben, für die vielen Schritte, die er noch vor sich hatte. Selbst wenn es nur für diesen kurzen Moment war.

"Danke, dass du gerade für mich da bist..."

"Dafür nicht. Ich kann dich doch nicht einfach alleine lassen, wenn du am dringendsten jemanden brauchst, der dir bei steht. Dafür weiß ich viel zu gut, wie es dir gerade geht..."

Ich wusste nicht, wie lange ich einfach nur da stand und Minho und ich uns umarmten, aber es schien mir eine halbe Ewigkeit zu sein. Nicht unangenehm gemeint, sondern eher so, als würde dieser Moment niemals enden wollen, da er uns beiden einfach unglaublich gut tat.

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