Kapitel 9 (She)
Ich hatte es ihm gezeigt. Ich hatte mich ihm geöffnet. Ich hatte genau das getan, was ich verhindern wollte, doch ich bereute es nicht. Luke schien mich zu verstehen. Das erste Mal schien er seine Hülle fallen zu lassen. Vielleicht war er ja genau die Person, die ich schon lange suchte. Vielleicht war er aber auch nur ein weiterer Vollidiot, welcher mich nur ausnutzen wollte. Ich musste es wohl herausfinden.
"Wohin gehen wir?", fragte ich ihn, während er mich weiter hinter sich herzog. Luke antwortete nicht, sondern lief einfach stur weiter. Ich seufzte und nach einer Weile kamen wir im Park an. Das war also sein Ziel gewesen. Er führte mich zu der Bank, auf der wir vor ein paar Tagen gesessen hatten, und setzte sich. Ich tat es ihm gleich. "Also?", fragte ich und er seufzte. Sein Blick ging in die Ferne. Er kämpfte innerlich, das sah man ihm an. "Du musst es mir nicht sagen, wenn du nicht willst", begann ich vorsichtig. "Erzähl es, wenn du bereit bist." Er blickte in meine Richtung und senkte dann schließlich den Kopf. Ich wusste nicht, was in seiner Vergangenheit geschehen war, aber es musste schlimm für ihn gewesen sein.
"Es war mein Vater...", fing er plötzlich an. Ganz leise. Ich hatte ihn kaum verstanden, aber er hatte etwas gesagt. Er seufzte wieder und fuhr dann fort: "Als ich noch ein Kind war da...mein Vater war oft betrunken. Er kam spät nach Hause und stritt sich mit meiner Mutter. Er schrie sie an und-", er schluckte. "Schlug sie auch des öfteren. Nachts, wenn ich eigentlich schlafen sollte, schlich ich mich zur Treppe und belauschte die beiden. Da hörte ich dann immer die Schläge. Aber er schlug nicht nur meine Mutter..." Sein Gesichtsausdruck veränderte sich, seine Mundwinkel gingen nach unten bei den Gedanken daran. Dann ballte er seine Hände zu Fäusten. "Zuerst waren es nur kleine Bestrafungen. Wenn ich nicht gehorcht hatte zum Beispiel oder er mich beim Lauschen erwischt hatte. Doch dann fing er an mich wegen allem zu schlagen. Eine schlechte Note in der Schule, wenn ich ihm nicht geantwortet hatte oder weil er einfach viel zu besoffen war. Meine Schwester hingegen blieb immer verschont. Sie war sein ganzer Stolz, währenddessen ich die größte Enttäuschung der Familie war. Du musst wissen, ich war nicht außergewöhnlich gut in der Schule und beliebt auch nicht. Ich war schüchtern, hatte mich aus Angst, das jemand etwas mitbekam, immer im Hintergrund gehalten. Oft lag ich abends im Bett und habe geweint. Ich fragte mich, womit ich das verdient hatte. Ich gab mir die Schuld. Daran, dass er meine Mutter schlug und daran, dass er mich schlug. Ich fing selbst an zu glauben, ich sei eine Enttäuschung. Und ich fing an mich selbst zu verletzen."
"Wie alt warst du da?", fragte ich vorsichtig. Luke atmete tief durch und meinte dann: "Als alles, anfing 8."
Ich wollte gerade irgendetwas Aufmunterndes oder der Art sagen, als er einfach weiter erzählte.
"Aber es kam noch schlimmer. Irgendwann hielt meine Mutter dem ganzen Druck nicht mehr stand. Sie litt nicht unbedingt so sehr unter den Schlägen, sondern eher unter dieser Hilflosigkeit. Sie hatte ihn immer in Schutz genommen, wenn sie auf seine aggressive Art von anderen angesprochen wurde. Sie hatte versucht, alles zu verdrängen und hat sich damit selbst zerstört. Als ich zehn war, hat sie dann entgültig aufgegeben."
Ich musste schlucken. "Hat sie..." - "....Sich umgebracht? Ja... Hat sie. Ich nehme es ihr nicht einmal übel. Ich hätte in ihrer Situation wahrscheinlich das Gleiche getan."
"Und wie hat dein Vater reagiert?", hakte ich nach. Er holte tief Luft, bevor er fortfuhr. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie sich in seinen Augen langsam Tränen bildeten.
"Er gab mir die Schuld. Beschimpfte mich als Versager, eine Schande, einen Mörder. Ab da an zeigte er sein wahres Gesicht. Oft hatte er mich krankenhausreif geprügelt. Die Schläge, als meine Mutter noch am Leben war, waren zarte Streicheleinheiten gegenüber denen. Einmal bin ich ganz knapp dem Tod entkommen." Und kaum hörbar fügte er hinzu: "Leider.."
Luke hatte den Blick starr auf den Boden gerichtet, damit man sein Gesicht nicht sehen konnte. Doch ich merkte, wie er versuchte, die salzige Flüssigkeit zu verstecken, die in seinen Augen lag. Ich wollte ihm eine Hand auf die Schulter legen, um ihm zu zeigen, dass er nicht allein war, doch er schüttelte sie ab. "Lucy war inzwischen weg. Mit 18 war sie ausgezogen. Am liebsten wäre ich mit ihr gekommen, doch ich durfte nicht. 'Wenn du älter bist hole ich dich', hatte sie gesagt und ihr Wort auch gehalten. Püntklich an meinem fünfzehnten Geburstag hatte sie mich abgeholt und zu sich gebracht. Seit da an wohne ich bei ihr."
"Aber wie bist zu....zum- du weißt schon... Trinken gekommen?", fragte ich zögerlich.
"Mit vierzehn, ein Jahr bevor ich zu Lucy gezogen bin, bin ich zu so einer Art Clique gestoßen. Ich war so glücklich, endlich Freunde gefunden zu haben. Nur haben die alle Alkohol getrunken und auch geraucht. Ich wollte nicht wieder zum Außenseiter werden und habe mitgemacht.. und Gefallen daran gefunden. Als ich dann zu meiner Schwester gekommen bin, war sie natürlich überhaupt nicht begeistert davon, doch sie dachte, es sei nur eine Phase. Aber ich hatte schnell bemerkt, wie mir der Alkohol half, alles zu vergessen und sorgenfrei zu werden. Es war einfach ein unglaublich befreiendes Gefühl, also habe ich heimlich weiter getrunken. Habe mich mit meinen Kumpels getroffen und später dann nächtelang durchgefeiert, bis ich am nächsten Morgen sutrzbesoffen in irgendeinem Gebüsch lag. Doch das war mir egal, solange es mich davon abhielt an meinen Vater zu denken. Mir ist eigentlich alles egal geworden."
Seine Geschichte hatte mich hart getroffen. Es klang wie in einem schlechten Film, doch es war die harte Realität. Die Vorstellung, dass ein kleiner Junge so einen Horror durchleben musste, war schrecklich für mich. Und die Tatsache, dass sein letzter Satz in Präsens war, hieß, dass ihm noch immer alles egal zu sein schien.
"Ich weiß, was du jetzt denkst", sagte er, als er meinen betroffenen Gesichtsausdruck sah. Vewirrt blickte ich ihn an. "Was meinst du?" - "Du kannst es überhaupt nicht fassen, dass ein kleines unschuldiges Kind so viel durchleben musste. Du bemitleidest mich. Aber weißt du was? Ich scheiß auf dein Mitleid! Ich scheiß auf Jedermanns Mitleid! Ich brauch euch nicht!" Wutentbrannt stand er auf, stürmte davon und ließ mich vollkommen perplex zurück.
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