Kapitel 5 (She)

Nach ein paar Tagen wurde ich endlich aus dem Krankenhaus entlassen und war wieder zu Hause. Ich lag gerade in meinem Bett und las ein Buch, als meine Mutter hereinkam. "Liebes hast du kurz Zeit? Wir müssen reden." Am liebsten hätte ich Nein gesagt, sie weggeschickt. Ich wollte meine Ruhe haben, aber ich wusste, dass sie nicht eher locker lassen würde, bis sie hereinkonnte, also blieb mir nichts anderes übrig, als zu nicken. Sie schloss die Tür hinter sich und kam zu mir, um sich auf die Bettkante zu setzen. "Ich wollte mit dir noch einmal über die Klinik reden", begann sie und sofort verspürte ich den Drang, sie hochkant rauszuschmeißen.
"Ich habe mich noch einmal erkundigt und habe hier eine gefunden, die ganz in der Nähe ist. Ich habe bereits einmal angerufen. Sie hätten sogar einen Platz für dich!" Erwartungsvoll sah sie mich an. Sollte ich jetzt vor Freude in die Luft springen? Mich dafür bedanken, dass sie mich abschieben wollte? "Mum ich will da nicht hin und werde da auch nicht hingehen", sagte ich energisch und legte hörbar mein Buch zur Seite.
"Aber.." - "Kein Aber!", unterbrach ich sie sofort. "Oder willst du, dass ich abhaue? Wäre dir so etwas lieber?"
Sie seufzte und kratzte sich am Kinn. Das tat sie immer, wenn sie nachdachte. "Aber was we-" "Nein!" Wieder seufzte sie. "Und wenn du wenigstens jede Woche eine Selbsthilfegruppe besuchst? Dann bist du nicht vollzeitig weg und dir kann trotzdem geholfen werden. Dort kannst du dich mit anderen Jugendlichen austauschen, denen es genauso geht wie dir." Eigentlich hatte ich überhaupt keine Lust, mir jede Woche das Gejammer von irgendwelchen anderen anzuhören und mit ihnen reden zu müssen. Aber es war immer noch besser, als in einer Klinik eingesperrt zu sein. Also nickte ich und ihre Miene hellte sich auf. "Du wirst sehen, dir wird es dadurch viel besser gehen", strahlte Mum und verließ dann mein Zimmer. Sie hatte was sie wollte, also konnte sie zurück zu ihrer Arbeit und mich ignorieren. Seufzend lehnte ich mich zurück und griff nach meinem Buch.

******************

Am Dienstag war es dann soweit. Pünktlich um 3 lieferte mich meine Mum vor dem großen Gebäude ab. Sie verabschiedete sich und fuhr dann los.
Ich könnte abhauen. Einfach woanders hingehen, in den Park oder so. Aber sie würde es herausfinden und dann hätte ich noch mehr Ärger, also betrat ich widerwillig das Haus und suchte nach der richtigen Etage. Vor der Tür zögerte ich. Es war meine letzte Chance zu fliehen.

"Gehst du nun rein oder nicht?!", fragte eine raue, genervte Stimme hinter mir. Erschrocken drehte ich mich um. Vor mir stand ein Junge, etwas größer als ich aber ungefähr in meinem Alter. Er hatte braune ziemlich verwuschelte Haare und Augen, so blau wie das Meer, in denen ich mich sofort verlieren würde, wenn ich mich nicht selbst ermahnt hätte.
Er trug dunkle Kleidung, welche einen starken Kontrast zu seiner eher blassen Haut bildeten. In der Hand hielt er eine Zigarette. Er sah nicht gerade aus, wie der nette Nachbar von nebenan und genau das machte ihn unglaublich attraktiv. Aber ich musste mich zusammenreißen. Ich wollte nie wieder auf einen Typen hereinfallen. Es waren eh alle gleich. Nur nach dem einem aus. Keine Rücksicht auf Gefühle anderer. Kalt. Arschig. Schwanzgesteuert.

"Wie lang willst du mich eigentlich noch anstarren?!", unterbrach der Fremde meine Gedanken.
"Wie heißt du?", entfuhr es mir und im nächsten Moment bereute ich es sofort. Er stöhnte genervt und antwortete: "Warum willst du das wissen? Und jetzt geh' entweder da rein oder mir aus dem Weg. Ich will das so schnell wie möglich hinter mich bringen." Daraus schlussfolgerte ich, dass er auch zu dieser Gruppe wollte. Oder musste. Verwundert musterte ich ihn erneut. Er schien nicht gerade so, als hätte er große Probleme oder gar Depressionen.

Ich schüttelte den Gedanken ab und betrat endlich den Raum, damit er sich nicht noch mehr aufregte. Der Junge folgte mir und schloss die Tür hinter sich. Ich sah mich um. Es war, wie ich erwartet hatte. Ein großer Stuhlkreis voll mit depressiven Jugendlichen, die abwesend vor sich hinstarrten und sich am liebsten eine Kugel in den Kopf jagen würden. Direkt gegenüber der Tür saß eine junge Frau. Ich schätzte sie auf Mitte 20. Sie schien das ganze hier wohl zu leiten. Sie strahlte uns freundlich an und wies dann in die Runde: "Willkommen! Ihr müsst die Neuen sein. Setzt euch, wir haben noch genug Platz für euch." Ich setzte mich auf einen Stuhl so nahe der Tür, wie möglich. Der Junge ließ sich ziemlich genau gegenüber von mir nieder.

"Also, da wir zwei neue Gesichter in unserer Runde haben, würde ich vorschlagen, wir stellen uns alle einmal vor, um uns kennenzulernen." Allgemeines Gestöhne.
Na toll, und schon hatte ich mich unbeliebt gemacht.
"Wer will anfangen?", fragte sie, doch keiner meldete sich. Also stand sie auf uns sagte lächelnd: "Ich heiße Christina und ich bin hier, um euch helfen." Dann setzte sie sich und sah erwartungsvoll das Mädchen neben sich an. Diese erhob sie ebenfalls und sagte: "Ich heiße Mary und bin hier, weil ich zweimal versucht habe mich umzubringen." Sie setzte sich und der Nächste stand auf. Selbstmordversuche, Magersucht, Bulimie, Mobbing, alle möglichen Gründe, die zu Depression führen können, waren hier vertreten. Jeder erzählte seinen Grund, warum er hier war, bis irgendwann der Junge dran war, welchen ich im Treppenhaus getroffen hatte. Widerwillig stand er auf und sagte: "Ich heiße Luke und bin hier, weil ich gezwungen wurde." Er wollte sich hinsetzen, doch Christina unterbrach ihn: "Warum wurdest du gezwungen?" Luke verdrehte die Augen und sagte schlicht: "Alkohol", als wäre es das normalste auf der Welt.
Die Art mit welch Ruhe er dies sagte, ließ mir einen kalten Schauer über den Rücken laufen. Luke setzte sich und die Nächste war dran. Das ging solange, bis ich an der Reihe war. Ich stand auf und sagte: "Ich bin Melody und ich bin hier, weil ich von einem Auto angefahren wurde und jetzt alle denken, ich wollte mich umbringen." - "Wolltest du dich denn umbringen?", fragte Christina.
"Nicht an dem Tag", antwortete ich und setzte mich wieder. Sie sagte nichts mehr dazu, sondern beließ es dabei und die Runde ging weiter, bis alle dran waren. Wir redeten noch eine ganze Weike und dann war die erste Sitzung auch schon vorbei.
"Na dann, bis zur nächsten Woche und bleibt stark. Ich glaube an euch", verabschiedete sich Christina von uns und alle standen auf, um nach draußen zu gehen. Ich beeilte mich, damit ich Luke noch erwischte, bevor er verschwand. "Luke warte mal!", rief ich ihm hinterher. Er drehte sich um und fragte: "Was willst du?" Er schien nicht gerade begeistert davon, dass ich ihn vom Gehen abhielt. Ich wollte ihm antworten, doch ich wusste plötzlich selbst nicht mehr, warum ich ihn überhaupt angesprochen hatte. Ich glaubte, ich wollte einfach noch mal seine Stimme hören. "Ich- ich weiß es nicht", stotterte ich. "Dann kann ich ja jetzt auch gehen", meinte Luke. "Bis nächste Woche", sagte ich, doch da hatte er sich schon umgedreht und ging davon.

Warum zur Hölle wollte ich seine Stimme hören?


Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top