Kapitel 46 (She)

Nachdem ich auch nach dem 3. Klingeln nicht an die Tür gegangen war, hatte ich gehofft, dass derjenige es aufgeben würde. Doch wenige Minuten später klopfte es plötzlich an die Badezimmertür. Shit.

Hektisch sah ich mich nach irgendetwas zum Verstecken um, doch fand nichts. Mit einer Hand wühlte ich im Badezimmerschrank herum, als plötzlich die Klinke heruntergedrückt wurde und die Tür sich öffnete. Erschrocken wirbelte ich herum und sah direkt in die Augen eines überraschten Lukes. Sofort presste ich die linke Hand fest auf meinen rechten Arm, doch es war zu spät. Er hatte es bereits gesehen. Das konnte ich daran erkennen, da er schlagartig unendlich enttäuscht und verletzt aussah.
"Warum?", flüsterte er beinahe. Ich holte tief Luft und fing an mit: "Ich-", wurde aber sogleich von Luke unterbrochen. "Nein. Ich will jetzt keine dummen Ausreden! Ich habe dir immer gesagt, du kannst zu mir kommen, wenn etwas ist. Ich habe dir immer gesagt, dass ich für dich da bin, also warum?" Er sah beim Sprechen regelrecht wütend aus.

Luke hatte Recht, er hatte genau das immer wieder gesagt. Aber manchmal hilft selbst reden nicht mehr. Manchmal kann dir einfach niemand helfen. Dann bist du auf dich allein gestellt und entscheidest selbst darüber, ob du es tust oder nicht. Und manchmal tust du es dann einfach, ohne überhaupt darüber nachzudenken.
Ich könnte jetzt sagen, wie angewidert ich von mir selbst sei und das ich alles bereute, aber das wäre gelogen.
Ich wollte es so und will es auch immer noch. Ich war nicht stolz darauf, doch wenn ich könnte würde ich es wieder tun. Und wieder. Und wieder.
Es ist ein ewiger Teufelskreis, aus dem man nicht mehr herauskommt. Es ist eine Sucht und du spürst, wie du langsam an ihr kaputt gehst und du nichts dagegen tun kannst. Wie sie dich und deine Gedanken einnimmt.
Sie ist immer da. Es ist wie eine kleine Stimme in deinem Hinterkopf, die dich durchweg anschreit und von dir verlangt, dass du dich verletzt. "Schneide dich! Schneide dich! Schneide dich!"
Es liegt an dir allein, ob du dich ihr hingibst oder nicht. Und manchmal, da hast du einfach nicht mehr die Kraft dich ihr zu widersetzen. Du wirst schwach und tust, was die Stimme von dir verlangt. Doch statt dass sie dann endlich Ruhe gibt, schreit sie um ein vielfaches lauter. Je öfter du dich ihr hingibst, desto stärker wird der Drang.
Doch das Schlimme an der ganzen Sache ist, dass dich niemand, der nicht selbst einmal in der Situation war, versteht.

*************

Während ich so in meine Gedanken vertieft war, hatte ich ganz vergessen was eigentlich gerade los war. Erst durch Lukes Berührung wurde ich in die Realität zurückgeholt. Er hatte nach meinem Arm gegriffen und hielt ihn unter das kühle Wasser, um das Blut abzuwaschen. Danach suchte er im Schränkchen über dem Waschbecken nach Verbandszeig, mit dem er die Wunde verarztete. Die ganze Zeit über war Luke ruhig gewesen. Erst als er fertig war, sah er mich auffordernd an. "Also?"
Ich seufzte. "Es ist meine Schuld", sagte ich stattdessen, um seine Frage zu umgehen und weil es schon lange auf meiner Zunge gelegen hatte, allzeit bereit, um herauszuplatzen.
"Was ist deine Schuld?", fragte er und sah mich mit verwirrtem Blick an. "Marry. Sie-", fing ich an, merkte allerdings schnell wie sich Tränen in meinen Augen bildeten. Ich drückte mir schnell eine Hand auf den Mund und versuchte mich innerlich zu beruhigen, um nicht los zu schluchzen.
Du schaffst das. Alles ist okay. Du wirst jetzt nicht wieder anfangen zu heulen. Beweise deine Stärke und unterdrücke es! Alles ist okay, alles ist gut. Dir geht es gut.
Und es funktionierte. Ich hatte die Tränen verdrängt und konnte ohne Bedenken reden.
"Was ist mit Marry?", hakte Luke weiter nach, doch ich winkte ab. "Ach gar nichts. Ist nicht so wichtig." Ich setzte ein Lächeln auf und sagte: "Komm, lass uns in mein Zimmer gehen. Das Bad ist nicht unbedingt der beste Ort für Smalltalk." Damit nahm ich seine Hand und führte ihn aus dem Raum heraus und hinein in mein Reich. Wir setzten uns auf mein Bett und Luke sah mich besorgt an. "Ist wirklich hundertprozentig alles okay?" Ich nickte. "Ja, mach dir keine Sorgen. Es ist alles okay." Nichts war okay. Aber ich musste stark bleiben.

Es war eine Weile Ruhe, bis Luke schließlich sagte: "Übrigens, du schuldest mir immer noch eine Erklärung." Ich seufzte nur, weil ich keine Ahnung hatte was ich ihm sagen sollte. "Ich weiß selbst nicht so genau, wie ich es sagen soll", fing ich dann also an und spielte währenddessen nervös mit meinen Fingern, um eine Beschäftigung zu haben. "Dann versuch es wenigstens. Ich möchte dir doch nur helfen Melody", sagte Luke in einem nun viel sanfterem Ton und legte seine Hand auf meinen Oberschenkel. Ich beobachtete diese, während ich weiter nach einer passenden Erklärung suchte, aber mir fiel keine ein, bei der ich die Sache mit Marry für mich behalten konnte.
Luke schien dies bemerkt zu haben und fragte nach weiteren Momenten voll Schweigen: "Da steckt noch mehr dahinter oder?" Ich öffnete meinen Mund um etwas zu sagen, schloss ihn dann allerdings wieder und seufzte ein leises "Ja".
Also konnte ich es doch nicht umgehen.
"Möchtest du mit mir drüber reden?", fragte er weiter. Ich presste die Lippen aufeinander und schüttelte kaum merklich den Kopf. Luke seufzte daraufhin und nahm seine Hand von meinem Bein. "Wenn du nichts mit mir reden möchtest, dann ist das deine Entscheidung und das akzeptiere ich. Aber so kann ich dir auch nicht helfen." Er stand auf und lief ohne ein weiteres Wort zur Tür, welche er anschließend öffnete und heruasging. Er murmelte noch ein kurzes "Bye" und war dann verschwunden.

Na ganz toll gemacht, dachte ich. Da hatte ich Luke nun vergrault. Ich hatte wirklich nicht böse oder sonst irgendwas sein wollen, aber mir war im Moment wirklich nicht nach Reden zumute. Ich wollte mich am liebsten nur in meine Bettdecke einrollen und.... sterben.

***********

Ich musste irgendwie eingeschlafen sein, zumindest wurde ich später durch die Rufe meiner Mutter wieder wach. Ich lag seltsam zusammengekuschelt halb auf und halb neben meinem Bett. Mühsam richtete ich mich auf und rieb mir die Augen. Danach stand ich auf und trottete nach unten, da meine Mutter mich doch tatsächlich zum Essen gerufen hatte. Ich war erstaunt darüber, dass sie sich anscheinend aus ihrem Bett und bis in die Küche bewegt hatte.

Sie stand am Herd und rührte in einem Topf herum, als ich den Raum betrat. Ich räusperte mich hörbar und erschrocken drehte sie sich herum. "Melody! Mensch, erschreck mich doch nicht so. Komm setz dich, Essen ist so gut wie fertig."

Ich tat wie mir geheißen und nahm am Tisch Platz. Es standen bereits zwei Teller bereit. Mum befüllte diese mit Spaghetti und Tomatensoße und setzte sich ebenfalls. Mit der Gabel wickelte sie einige der Nudeln auf, während ich sie beobachtete.
Sie hatte tiefe Augenringe und das obwohl sie fast nur im Bett lag. Sie hatte sich krank gemeldet, damit sie nicht zur Arbeit gehen musste. Bei ihrem fertigen Aussehen hatte man es ihr sofort abgenommen.
Sie bemerkte meinen musternden Blick und fragte verwundert: "Ist irgendwas?" Ich schüttelte schnell den Kopf und wandte mich meinen Spaghetti zu. "Und wie war es heute in der Schule?", fragte sie munter weiter. Ich senkte meine Gabel und sah sie mit einem Ist-das-gerade-dein-Ernst-Blick an. "Ich war heute doch gar nicht in der Schule, du solltest doch anrufen und mich entschuldigen."
Sie schlug sich an die Stirn und sah mich ertappt an. "Ohh verdammt! Das habe ich total vergessen. Tut mir Leid." Ich wurde wütend. "Willst du mich verarschen? Du bekommst nicht mal so eine kleine Aufgabe auf die Reihe? Du machst doch so schon nichts den ganzen Tag, außer rumliegen und in Selbstmitleid ertrinken!"
Das schien gesessen zu haben, denn nun schlug sie wütend mit der flachen Hand an den Tisch. "Jetzt hör mir mal zu mein liebes Fräulein ich-" "Nein", unerbrach ich sie. "Weißt du ich vermisse Dad auch, aber ich lasse mich nicht so gehen im Gegensatz zu dir!"  "Lass deinen Vater aus dem Spiel!", fauchte sie mich scharf an. "Es tut mir auch weh, dass er gegangen ist, hörst du? Aber ich versuche wenigstens damit klarzukommen. Damit solltest du auch langsam mal anfangen."
All die Wut verschwand plötzlich aus ihrem Gesicht und Tränen bildeten sich in ihren Augen. Sie versuchte diese wegzuwischen, aber sofort kamen neue nach. Sie schluchzte und putzte sich die Nase. Sie schob ihren Teller beiseite und ihr Kopf glitt langsam auf die Tischplatte. Ich wollte etwas sagen, stattdessen stand ich wortlos auf und ließ meine Mutter einfach da sitzen, indem ich die Küche verließ und zurück in mein Zimmer ging. Auch im Flur konnte ich sie noch leise Schluchzen hören.

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