Kapitel 33 (He)

Nachdem ich den Park und die dort sitzende Melody hinter mir gelassen hatte, lief ich nicht sofort nach Hause, sondern schlenderte noch ein wenig durch die Straßen, ohne jeglichem Plan oder Ziel. Ich beobachtete die Menschen, die mir entgegenkamen, sie lachten, sie plauderten, manche sahen mich komisch von der Seite an. Die einen wirkten sehr gehetzt, sie eilten durch die Leute hindurch, ohne auf ihren Gegenüber zu achten. Wieder andere telefonierten beim Laufen oder hatten einen Kaffeebecher in der Hand und ignorierten ihre Umgebung. Ich sah Pärchen, wie sie händchenhalted nebenher liefen oder sich tief in die Augen schauten. Pärchen, die sich irgendwo hingesetzt hatten, um miteinander rumzumachen, sie verschlungen sich regelrecht. Ich wandte meinen Blick ab und sah wieder geradeaus. Ich beobachtete eine kleine schwarze Katze, die gerade noch so von der linken Straßenseite zur Rechten huschte, als ein Auto kam. Galten schwarze Katzen nicht als ein Zeichen des Unglücks? Soetwas nannte man dann wohl Ironie des Schicksals.

Nach einiger Zeit, ich hatte nicht auf die Uhr geschaut wie lange ich nun schon unterwegs gewesen war, kam ich zu Hause an. Herr Breuer stand gerade vor dem Gebäude und holte seine Post aus dem Briefkasten. Als er mich sah, grüßte er freundlich und erkundigte sich nach Melody. "Hallo Luke! Na, wie geht es eigentlich deiner kleinen Freundin? Die, die vor langem mal wegen eurem Schulprojekt da war."

Ich war überhaupt nicht in der Laune mit irgendjemandem zu reden und wäre am liebsten einfach in unsere Wohnung gegangen und hätte mich in meinem Zimmer verschanzt. Stattdessen stand ich hier draußen mit dem Breuer und unterhielt mich mit ihm über jemanden, über den ich nicht wirklich reden wollte. Außerdem verwirrte mich die Sache mit dem Schulprojekt. Die einzigen Male, die sie hier war, waren einmal, als sie mein komplettes Zimmer auf den Kopf gestellt hatte und das andere Mal, als wir mit Jenny und Robin unterwegs waren. Apropos Robin, er meldete sich nun regelmäßiger und hin und wieder skypten wir auch miteinander.

Ich druckste etwas herum. "Ja... ja, ihr gehts super", sagte ich dann unsicher. Der alte Mann lachte und fragte dann verschmitzt: "Und, ist sie deine feste Freundin?" Ich lächelte etwas gequält und versuchte wenigstens halbwegs überzeugend zu wirken. "Nein, wir sind nur gute Freunde." Er bemerkte, dass etwas nicht stimmte und hakte nach: "Ist irgendwas mit ihr?" Ich schüttelte schnell abwehrend mit dem Kopf und sagte dann, ich müsse dringend nach drinnen gehen. Er nickte verständnisvoll und verabschiedete sich dann: "Auf Wiedersehen Luke! Und richte deiner Freundin schöne Grüße von mir aus." Ich versprach ihm, Melody von ihm zu grüßen und betrat dann das Haus. Nachdenklich stieg ich die Treppenstufen hinauf und als ich an unserer Wohnungstür angekommen war, schloss ich diese auf. Ich streifte die Schuhe ab und ging dann auf mein Zimmer zu. In dem Moment kam Lucy aus der Küche, einen hölzernen Kochlöffel in der Hand haltend und erkundigte sich: "Und wie lief es? Habt ihr euch wieder vertragen?" Ich beachtete sie nicht und öffnete die Tür zu meinem Reich. Im Hineingehen sagte ich kalt: "Ich will nicht drüber reden." Dann zog ich geräuschvoll die Tür hinter mir ins Schloss.

Erst ca. eine Stunde später kam Lucy zu mir. Sie klopfte an und als keine Antwort meinerseits kam, betrat sie mein Zimmer einfach. Als sie mich auf meinem Bett entdeckte, seufzte sie bedrückt auf. Sie trat zu mir und setzte sich dann neben mich. Während sie dies tat, wandte ich meinen Blick nicht von dem ubestimmten Punkt, auf den ich bis vor kurzem gestarrt hatte, ab. Vorsichtig streckte sie ihre Hand aus und wollte mir die Flasche aus der Hand nehmen, jedoch drehte ich mich sofort weg, als sie näher kam. "Luke, bitte gib sie mir", bat sie mich und versuchte erneut danach zu greifen, aber ich ließ sie erneut nicht ran. Dies wiederholten wir einige Male, bis sie verzweifelt aufgab. "Na schön, dann bleib halt weiter allein hier hocken und besauf dich. Das bringt aber auch nicht alles wieder in Ordnung", sagte sie niedergeschlagen und ging auf die Tür zu. Statt zu antworten, trank ich einfach einen Schluck. Lucy seufzte erneut und verließ dann den Raum. Ich lehnte mich nach hinten, stellte die Flasche auf den Nachttisch und drehte mich zur Wand.

Am Montag in der Schule sprach ich mit niemanden, auch nicht mit Ryan, obwohl er mehrere Male versuchte, mich zum Reden zu bewegen. "Man, du bist echt schweigsam geworden. Hat es was mit diesem Mädchen zu tun? Wie hieß sie doch gleich, ähm... Melody?", erkundigte er sich in der Mittagspause, als wir gemeinsam auf dem Weg zur Cafeteria waren. Ich zuckte nur mit den Schultern und vergrub meine Hände in den Hosentaschen. "Also ja. Erzähl schon, was ist passiert?"  "Unwichtig", winkte ich ab und versuchte damit das Thema abzuhaken, allerdings ließ Ryan sich nicht so leicht von mir abwimmeln. "Ja klar. Merkt man ja. Hey.. wenn du nicht drüber reden willst, dann ist das okay. Ich mach mir halt nur Sorgen um dich", sagte er und sah mich von der Seite an. "Ich meine, du siehst nicht unbedingt frisch und ausgeruht aus." Wieder zuckte ich mit den Schultern und bog dann zu den Toiletten ab, als wir an diesen vorbeigingen. Ich entschuldigte mich mit den Worten "Ich muss mal. Wir sehen uns später" und verschwand in den Jungsklos.

Eigentlich musste ich nicht wirklich,aber mir war keine bessere Ausrede eingefallen, um dem Gespräch zu entfliehen.

Dennoch entleerte ich meine Blase und stellte mich dann, untypisch für einen Jungen, vor einen der Spiegel über den Waschbecken. Ryan hatte recht. Ich sah echt fertig aus. Ich hatte dicke Augenringe und war noch blasser als sonst schon. Zur Erfrischung spritzte ich mir etwas Wasser ins Gesicht und trocknete mich danach mit diesem ekligen grauen Papier ab, das man aus so einem Automaten ziehen konnte, und schmiss es anschließend in einen Papierkorb.

Da ich nicht zu Ryan in die Kantine wollte, entschied ich mich, auf den Schulhof zu gehen. Als ich allerdings Melody und Adam zusammen in der Raucherecke entdeckte, wie sie sich gerade innig umarmten, wäre ich am liebsten wieder umgekehrt. Ich wollte nicht sagen, dass ich eifersüchtig war, aber.... ja, ich war eifersüchtig auf Adam, denn er hatte im Moment genau das, was ich mehr als alles andere wollte; Melody. Ich wünschte mir einfach, dass wir all unseren Streit und das Drama vergessen und uns wieder vertragen würden. Ich wollte wieder ihre Nähe wahrnehmen, ihrem Lachen lauschen und ihre Lippen auf meinen spüren. Allerdings waren genau diese Dinge zurzeit so gut wie unerreichbar. Zu viele Probleme standen zwischen uns, die uns davon abhielten, alles wieder in Ordnung zu bringen.

Doch all das war nichts gegen das, was als nächstes passierte. Gerade als ich mit dem Gedanken spielte zu ihr zu gehen und mich mit ihr zu versöhnen, passierte etwas, was mich vollkommen aus der Bahn warf. In dem Moment als Adams Lippen die von Melody trafen, brach eine Welt für mich zusammen. So fühlte es sich also an, wenn einem das Herz gebrochen wird.

Der Kuss dauerte nicht lange, aber diese wenigen Sekunden reichten, um mich mehr als alles andere zu verletzen. Und in genau diesem Moment wurde mir klar, warum ich mich immer von Mädchen ferngehalten hatte. Ich hatte Angst davor gehabt verletzt zu werden. Es war lediglich eine Maske gewesen, um mich selbst vor dem Schlimmsten zu schützen. Und genau dieses Schlimmste war nun eingetreten. Ich ging ein paar Schritte rückwärts, drehte mich dann um und rannte in das Schulgebäude.

Als der Unterricht begann und ich mich nicht erhob, als der Lehrer hineinkam und ich auch nicht reagierte, als er mich darauf ansprach, ging das Getuschel los. Einige hatten mitbekommen, wie Melody und Adam sich geküsst hatten und flüsterten nun über genau das. Der Lehrer allerdings bemerkte es nicht und fragte stattdessen, ob es mir gut ginge und ich antwortete, dass mir schlecht sei, woraufhin er meinte ich wäre so blass und solle im Sekretariat anrufen, ob mich jemand abholen könne. Ich nickte,packte meine Sachen zusammen und verließ den Unterrichtsraum. Auf dem Weg zum Sekretariat begegnete ich einer Lehrerin, die eine Kaffeetasse in ihrer linken- und eine bis zum Rand vollgestopfte Ledertasche in ihrer rechten Hand trug. Sie sah mich nur irritiert von der Seite an, sagte allerdings nichts zu meinem Auftreten und ging still an mir vorbei, hinein in eines der Lehrerzimmer.

Eine besorgte Lucy holte mich wenig später von der Schule ab. Schweigend fuhren wir nach Hause, wo sie mich absetzte und skeptisch fragte, ob sie mich denn alleine lassen könne. "Ja klar, mir ist nur schlecht. Wahrscheinlich habe ich einfach was Falsches gegessen. Mach dir um mich keine Sorgen", log ich und täuschte ein schwaches Lächeln vor. Sie nickte unsicher, wünschte mir eine gute Besserung und brauste dann zurück zu ihrer Arbeitsstelle. Ich bzw. sie konnte froh sein, dass sie überhaupt kurz wegdurfte, um mich abzuholen.

Ich betrat unsere Wohnung und mein Schulrucksack glitt von meinem Rücken. Wie in Trance stolperte ich auf meine Zimmertür zu, öffnete diese, ging hinein und zog sie hinter mir zu. Plötzlich verlor ich allen Halt und brach an sie gelehnt zusammen. Ich warf meinen Kopf in den Nacken und schlug vor Wut mehrmals gegen die Tür. Ich wusste nicht einmal weswegen ich genau wütend war, ich war es einfach. Ich schlug so lange, bis meine Knöchel rot waren und meine Hand wie Feuer brannte. Ich schloss erschöpft meine Augen und spürte, wie eine Träne langsam meine Wange hinunterlief. Ärgerlich wischte ich sie weg, doch dicht hinter ihr folgten Weitere und irgendwann kam ich mit dem Wischen nicht mehr hinterher und ließ es sein. Und wie die Tränen so mein Gesicht hinunter strömten, griff ich automatisch nach meinem geheimen Versteck unter meinem Bett und zog eine Flasche mit der Aufschrift 'Wodka' hervor. Neben mir vibrierte mein Handy, doch ich ignorierte es und öffnete lieber die Flasche in meiner Hand. Danach schloss ich meine Augen, atmete tief durch und setzte an.

Einige Flaschen später, ich weiß nicht mehr was oder wie viel es gewesen war, ich weiß nur noch, dass es verdammt gut getan hatte, ich spürte nichts mehr von all dem Schmerz, der Enttäuschung oder der Wut. Diese ganzen Emotionen, die vorher noch in mir verrückt gespielt hatten, waren wie verflogen. Ich fühlte mich frei, frei wie ein Vogel. Die Umgebung vor meinen Augen verschwamm, doch das war mir egal. Mir war speiübel, doch das war Allem, also trank ich weiter.

Irgendwann klingelte mein Handy erneut und dieses Mal ging ich sogar ran. "Hey Luke, ich bin's. Ich wollte mich nur mal schnell nach dir erkundigen und fragen, ob es dir jetzt besser geht", begrüßte mich Lucys Stimme. "Klar, alles bestens", lallte ich unverständlich.

"Ach du Scheiße!", keuchte Lucy am anderen Ende voller Sorge. "Luke, was ist passiert? Geht es dir gut? Luke?" Sie wurde richtig panisch. "Jaja, alles bestens. Bleib du ruhig auf Arbeit." Ich bezweifelte, dass sie mich überhaupt verstand. Ich hörte sie nur resigniert nach Luft schnappen. Dann sagte sie hastig: "Luke, bist du zu Hause? Ich komme jetzt, bleib wo du bist okay?" Dann hatte sie aufgelegt. Ich zuckte nur mit den Schultern und angelte nach einer neuen Flasche. Mir war eigentlich egal was es war, hauptsache es ließ mich vergessen.

Doch schon nach ein- zwei Schlucken merkte ich, wie ich langsam das Bewusstsein verlor. Mir wurde schwindelig und meine Augen fielen immer wieder zu. Ich versuchte sie offen zu halten, aber es gelang mir nicht. Und schließlich hatte ich den Kampf verloren. Das letzte was ich sah, war der immer näher kommende Boden, der allerdings nicht so weit entfernt war, da ich ja immer noch an die Tür angelehnt da saß. Dann wurde alles schwarz.

***********

Lucy missachtete jegliche Verkehrsregel, als sie mit ihrem Auto durch die Straßen bretterte. Sie wollte so schnell wie möglich bei ihrem kleinen Bruder sein. Er hatte am Telefon so übermäßig betrunken geklungen, sie wollte sich gar nicht ausmalen, wie es ihm wohl gerade ging. Lucy plagten die schlimmsten Schuldgefühle, als sie in die Straße einbog und ihr Auto in die nächstbeste Parklücke stellte. Danach stieg sie aus, knallte die Autotür hinter sich zu und stürmte in das Wohngebäude. Vor ihrer gemeinsamen Wohnung mit Luke blieb sie stehen und angelte ihren Schüsselbund hervor. Sie zitterte, sodass es nochmal doppelt so lang dauerte, den richtigen Schüssel zu finden. Als sie ihn endlich hatte, schloss sie in Windeseile die Tür auf. Sie stürzte in die Wohnung und sofort zum Zimmer ihres Bruder. Ihr Herz klopfte ihr bis zum Hals, als sie mit schlotternden Knie die Klinke hinunter drückte. Sie öffnete die Tür und als sie Luke erblickte, wie er regungslos auf dem Boden lag, umgeben von dutzenden verschiedenen alkoholischen Getränken, brach sie verzweifelt zusammen. Sie schluchzte, weinte, schrie, als sie sanft mit einem Finger über das blasse Gesicht strich. Erst danach wurde ihr bewusst, dass sie schleunigst einen Krankenwagen rufen musste. Ihre Hände zitterten so sehr, dass sie kaum ihr Handy aus der Hosentasche gezogen bekam. Als sie es allerdings endlich geschafft hatte, wählte sie die richtige Nummer und hielt das Telefon an ihr Ohr.

Wenig später hielt der Krankenwagen mit Blaulicht vor dem Gebäude. Zwei Sanitäter trugen den bewusstlosen Luke auf einer Liege nach draußen, während eine dritte Sanitäterin versuchte, Lucy zu beruhigen. Dann stieg diese mit in den Krankenwagen und fuhr gemeinsam mit ihrem Bruder ins Krankenhaus. Auf dem Weg dorthin übermittelte sie Melody die Schreckensnachricht.

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