Kapitel 15 (He)
Ich hörte, wie die Tür ins Schloss fiel. Was dachte sie sich dabei, mein Zimmer zu durchsuchen?! Ich wollte nett zu ihr sein und sie zog so etwas ab. Ich hätte es wissen müssen. Ich hätte von Anfang an wissen müssen, dass das nix werden würde. Warum wollte ich mich auch wieder jemanden anvertrauen? Alle Menschen waren gleich; Melody konnte mir erst einmal gestohlen bleiben. Wutentbrannt stellte ich die kleine Schachtel zurück an ihren Platz. Warum hatte sie in meinen Sachen gewühlt?
Ich hatte schon meine Gründe, warum ich die Box so versteckt hatte. Ich hatte schon lange nicht mehr an sie gedacht. Melody hatte sie zurück in mein Gedächtnis gerissen, dabei wollte ich mit meiner Vergangenheit nichts mehr zu tun haben.
Immer noch wütend verließ ich mein Zimmer, griff nach meiner Jacke und wollte gerade nach draußen gehen, als ich von Lucy aufgehalten wurde. "Lass mich!", sagte ich, doch sie hielt mich am Arm fest. "Warum hast du sie rausgeworfen?", fragte sie mit ruhiger Stimme.
"Das ist meine Sache."
"Willst du darüber reden?", wollte sie besorgt wissen. Ihre Augen schauten direkt in meine, ihr Blick eindringlich, doch ich riss mich dennoch von ihr los. "Nein danke."
Ich ging ins Treppenhaus und schlug die Tür hinter mir zu. "Pass bitte auf dich auf", hörte ich Lucy noch sagen, aber ich reagierte nicht darauf und ging stattdessen energisch die Treppenstufen nach unten. Draußen angekommen sah ich mich um; die Blätter fingen an, sich zu färben und von den Bäumen abzufallen. Es wurde langsam Herbst, schließlich war es Ende September.
Ich hatte mir keine Gedanken darüber gemacht, wo ich eigentlich hinwollte, also ging ich zum Park. Da war ich meistens, wenn ich meine Ruhe haben wollte. Dort war es ruhig und niemand wollte irgendetwas von mir. Auf dem Weg dorthin zündete ich mir eine Zigarette an. Ich zog daran und blies langsam den Rauch wieder aus. Es waren nur noch ein paar Schritte bis zum Park.
Dort angekommen, steuerte ich meinen Stammplatz an, hielt jedoch sofort inne, als ich bemerkte wer dort saß. Melody. Natürlich. Ich hätte es wissen müssen. Gerade als ich mich wieder umdrehen und davon gehen wollte, war es auch schon zu spät. "Luke warte!", hörte ich sie hinter mir rufen. Ich musste nicht einmal hinsehen, um zu wissen, dass sie auf mich zukam.
"Luke.." Sie griff nach meinem Arm und Traurigkeit schwang in ihrer Stimme mit. "Es tut mir Leid. Ich..", sie stockte. Ich stand noch immer mit dem Rücken zu ihr und würdigte die Blondine keines Blickes. "Lass mich in Ruhe." Ihr Griff lockerte sich, sodass ich mich losreißen könnte, aber ich tat es nicht. Stattdessen drehte ich mich schließlich doch um und sah in ihre traurig wirkenden Augen. Sie waren rot, Melody hatte geweint.
"Was willst du?", fragte ich mit genervtem Unterton, aber um ehrlich zu sein, meinte ich es gar nicht so. Ich war lediglich von Natur aus leicht reizbar, gerade wenn es um meine Privatangelegenheiten ging.
Sie zuckte vor der Kälte in meiner Stimme ein wenig zusammen. "Ich weiß es nicht. Mich entschuldigen, schätze ich.. Aber eine Entschuldigung macht mein Verhalten auch nicht rückgängig, darüber bin ich mir bewusst. Ich hätte nicht in deinen Sachen wühlen sollen. Ich weiß auch nicht, was in mich gefahren ist." Ihre Stimme zitterte.
"Warum hast du es dann getan?", fragte ich. "Wenn ich dir das sage, glaubst du mir sowieso nicht. Ich- ich wollte eigentlich nur ein Taschentusch suchen, aber dann bin ich neugierig geworden und... Hör zu, es tut mir wirkl-" Sie brach ab und zeigte mit besorgtem Blick auf etwas hinter mir.
"Luke!!", ertönte plötzlich eine Stimme und Melody zuckte ein wenig ängstlich zusammen. Mir lief es kalt den Rücken hinunter, als ich erkannte, wem die Stimme gehörte. "Sieh mich gefälligst an, wenn ich mit dir rede!"
Wie in Zeitlupe drehte ich mich langsam um. "Oder freust du dich gar nicht deinen Alten nach so langer Zeit wiederzusehen?" Er grinste mich widerwärtig an. "Hallo Vater", sagte ich ohne jegliche Emotion, ich durfte mir meine Anspannung nicht anmerken lassen, diesen Trumpf gönnte ich ihm nicht. "Du hast dich ganz schön verändert in den letzten Jahren."
"Und du bist immer noch der Alte", gab ich so ruhig wie möglich zurück, das Zittern in meiner Stimme versuchte ich zu unterdrücken.
"Und Humor hast du auch noch! So kenne ich dich ja gar nicht." Er schmunzelte und kam einen Schritt auf mich zu. "Wer ist denn deine kleine Freundin?" Mein Vater zeigte auf Melody, welche noch immer eingeschüchtert hinter mir stand. "Lass sie da raus." Er lachte kurz auf und sagte dann: "Warum sollte ich ihr etwas tun?"
Ich atmete tief durch und versuchte, mich selbst zu beruhigen. Nichts anmerken lassen, nichts anmerken lassen, nichts anmerken lassen. Mein Atem verschnellerte sich und ich hätte wetten können, dass mein Herzschlag deutlich zu hören war.
"Tu nicht so scheinheilig. Wir wissen beide, wozu du fähig bist."
Sofort verfinsterte sich seine Mine und sein schmieriges Grinsen von eben verschwand.
"Ich bin erstaunt, wie viel Selbstbewusstsein du bekommen hast, aber das heißt noch lange nicht, dass du mir überlegen bist. Ich wäre an deiner Stelle vorsichtig mit dem, was du sagst Luke."
Versuchte er gerade ernsthaft mir zu drohen?
"Was willst du tun? Willst du mich wieder auf mich einschlagen, so wie du es meine ganze Kindheit lang getan hast, weil ich nicht das Kind war, das du dir gewünscht hast?" Ich sah mich unauffällig um, ob außer uns sonst noch jemand hier war, doch der Park war wie leergefegt und dann war es auch schon zu spät. Ich hörte Melody aufschreien, spürte, wie die Faust auf meinem Gesicht ankam und wurde zurück in meine Kindheit gerissen.
Ich saß am Küchentisch und starrte auf das Blatt in meinen Händen. Ich wusste, was auf mich zukam, wenn er von meiner Vier in Mathe erfuhr. Von oben hörte ich immer wieder dumpfe Schläge und erstickte Schreie. Ich wusste, was passierte. Mein Vater war mal wieder betrunken nach Hause gekommen und meine Mutter hatte nicht das getan, was er von ihr verlangt hatte, bevor er gegangen war. Das machte sie zu seiner Zielscheibe.
Irgendwann verhallten die Geräusche von oben und ich hörte, wie jemand die Stufen herunterkam und sich im Bad einschloss. Danach kam eine zweite Person die Treppen heruntergepoltert und bewegte sich in Richtung Küche. Die Tür öffnete sich und mein Vater kam herein, noch immer blind vor Wut. "Was hast du da?", er riss mir das Papier aus den Händen und sah es sich an. Nervös spielte ich mit meinen Fingern und sah ich auf die Tischplatte. Ich hatte Angst. Vor ihm und seiner Reaktion. "Kannst du mir erklären, wie diese Vier entstanden ist?!", brüllte er, doch ich schüttelte nur vorsichtig den Kopf. Mein Blick ging weiterhin starr nach unten. "Sieh' mich gefälligst an, wenn ich mit dir rede!" Er packte mich am Kragen und riss mich vom Stuhl. Zitternd hob ich leicht meinen Kopf, um in sein vor Wut verzerrtes Gesicht zu sehen. Innerlich flehte ich Gott an, dass er endlich etwas unternehmen würde, doch wie jeder Mal blieb er still. Ich konnte nicht verstehen, wie Menschen bei all der Gewalt und Ungerechtigkeit, die auf der Welt herrschte, immer noch an einen Gott glauben konnten. Ich hatte meinen Glauben längst verloren.
"Das wird noch ein Nachspiel haben!" Mit diesen Worten ließ er mich los, aber nur um mir danach meine 'gerechte' Strafe zu erteilen.
Ich hatte schon vor langer Zeit aufgehört, die Schläge zu zählen. Zitternd schloss ich meine Augen und wartete, bis es vorbei war, damit ich mich in meinem Zimmer einschließen und still weinen konnte, obwohl mir innerlich zum Schreien zumute war.
Der zweite Fausthieb holte mich zurück in die Realität.
"Lassen Sie ihn in Frieden!", schrie Melody und kam auf meinen Vater zu, um seinen bereits erneut gehobenen Arm festzuhalten. Er sah aufgebracht zu ihr, riss sich aus ihrem Griff und ließ mich dann los. "Wir sehen uns wieder. Das war nicht das letzte Mal!", rief er und verschwand dann.
Wie in Trance stand ich da. Melody kam zu mir und wollte mich umarmen, doch ich stieß sie weg. Besorgt sah sie mich an. "Deine Wange ist ganz rot und geschwollen. Du.. Du solltest sie vielleicht kühlen." Sie streckte ihre Hand aus, um über die Stelle zu streichen, doch erneut wies ich sie ab. "Lass mich dir helfen", flehte sie, aber ich wand mich von ihr ab. "Ich brauche keine Hilfe", sagte ich und ging davon, ich wollte nur noch alleine sein.
"Doch du brauchst Hilfe und die werde ich dir geben. Egal ob du willst oder nicht", hörte ich sie hinter mir sagen. Ich wusste nicht, ob ich es mitbekommen sollte oder nicht.
Ich verließ den Park und ging nach Hause und in mein Zimmer.
Zum zweiten Mal an diesem Tag heutd hatte ich die Schachtel in der Hand und tat etwas, was ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr getan hatte.
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