Die Hoffnung stirbt als Letztes

~~Die Hoffnung stirbt als Letztes~~

Kurz nachdem sich die fünf Wölfe in Bewegung gesetzt hatten, sprang Nyrona in den Fluss, der sich links von ihnen entlang schlängelte. Da sie ein Wasserwolf war, zieht sie es vor sich im Wasser fortzubewegen. Yen bemerkte bereits bei der Vorstellung, dass Nyronas Pfoten Schwimmhäute besaßen, die sich wohl eher für die Bewegung im Wasser eigneten als an Land. Er konnte sich gut vorstellen, dass Nyrona für eine längere Zeit ohne Wasser Schwierigkeiten bekommen könnte.

Trotz dieses Nachteils bemerkte Yen, dass Wasserwölfe nicht schwächer als andere Elementwölfe oder normale Wölfe waren. So können Wasserwölfe dank ihres Körperbaus und ihrer Flinkheit besser schwimmen. Auch das Element Wasser untersteht ihnen und, je nachdem, wie gut diese Fähigkeiten bei ihnen ausgeprägt waren, können sie das Wasser lenken und formen. Sanja hatte ihn dieses Wissen nach ihrer ersten gemeinsamen Jagd beigebracht. Damals war er über die plötzlich entstandenen Erdmauer von Kora sehr verwundert gewesen.

„Nyrona deine Elementkraft ist doch gut ausgeprägt, habe ich Recht?", fragte Yen die Wasserwölfin, die daraufhin bestätigend nickte.

„Kannst du mir ein paar deiner Fähigkeiten demonstrieren? Ich habe nämlich noch nie einen Wasserwolf mit seinem Element gesehen. Alle Wölfe, denen ich bisher begegnet bin, waren zum größten Teil normale oder Erd- und Feuerwölfe."

Da musste Nyrona lachen. „Ich kann dir eines sagen: Du wirst einen Wasserwolf schon früh genug in Aktion sehen. Jetzt haben wir auf alle Fälle keine Zeit, dass wir dir unsere Kunststücke vorzeigen, da wir schon längst zu unserem Rudel hätten zurückkehren müssen", sagte die Wasserwölfin und tauchte kurz unter Wasser um einen Ast auszuweichen.

„Aber so viel kann ich dir sagen", setzte Nyrona an, „Wasserwölfe heißen nicht umsonst Wasserwölfe. Ich bin eine begabte Schwimmerin und das wirkt sich auch auf meine anderen Fähigkeiten aus."

Yen verstand und stellte keine weiteren Fragen über Nyronas Fähigkeiten. Doch nun betrachtete er die anderen drei Wölfe, die neben ihm rannten. Im Großen und Ganzen hatten alle einen normalen Körperbau wie er selbst. Das Einzige, was bei ihnen anders war, als bei Yen, waren ihre Schweife.

Nuriks Schweif bestand aus knisternden Flammen, die nur so vor Hitze strotzten. Der Schweif von Sikona dagegen bestand aus knirschenden und klirrenden Eiszapfen, die Kälte ausstrahlten. Esailas war im Vergleich zu Nuriks und Sikonas Schweifen eher harmlos. Dennoch fiel dieser Yen sofort auf, da er anstatt Fell aus langen Grashalmen bestand, die struppig und geschmeidig herabhingen.

Als Yen dies und viele andere Unterschiede bemerkte, wollte er über seinen recht harmlosen Körper nicht nachdenken. Die Tatsache, dass er kein Element besahs ließ ihn in diesem Moment traurig stimmen. Nach kurzer Zeit schüttelte er die trüben Gedanken ab und konzentrierte sich wieder auf die Gegenwart.

„Esaila, Nurik und Sikona. Könnt ihr mir kurz verraten, was eure Elemente für Vorteile und Nachteile mit sich bringen? Bei Wasserwölfen ist das ja leichter, doch bei euch kann ich keinen Nachteil erkennen."

Die angesprochenen Wölfe wurden langsamer und gesellten sich zu ihm.

„Das können wir dir gern solange erzählen, bis wir beim Rudel ankommen. Ich fange am besten an", begann Esaila zu sprechen.

„Wie du ja weißt bin ich eine Waldwölfin und Wald ist die Abstammung von Erde. Im Wald fühle ich mich sicherer, als auf den großen Steppen. Dies ist schon mal ein Unterschied zu meinen Verwandten, den Erdwölfe. Zudem kann ich nicht, wie sie, die Erde bewegen. Meinem Element unterliegen die Pflanzen, wo die Erdwölfe an ihre Grenzen stoßen. Einer meiner wichtigsten Eigenschaften ist die, dass ich die Pflanzen verstehe. Ich weis, wie es ihnen geht, was sie gespürt haben und vieles mehr."

„So ist das also mit deinem Element. Ich dachte mir schon was Ähnliches", sagte Yen einleuchtend und wand sich an Nurik, der nun zu sprechen begann.

„Bei uns Feuerwölfen gibt es nicht viel zu sagen, außer, dass wir die wärmeren Gebiete bevorzugen und eiskalte meiden. Zudem mögen wir das Element Wasser nicht besonders. Beziehungsweise sagen wir es so: Ich mag es schon, es muss aber nicht unbedingt in meinem Fell sein."

Der Feuerwolf warf Nyrona einen bösen Blick zu, die daraufhin lachend unter Wasser verschwand.

„Wo es kalt ist, geht es uns Feuerwölfen schlecht, doch das trifft nicht auf Sikona und ihrer kühlen Ausstrahlung zu. Bei ihr geht es mir immer gut." Er lächelte seine kleine Schwester an, die das Lächeln erwiderte. „Besser gesagt, die meiste Zeit geht es mir in ihrer Gegenwart gut."

Nach diesen Worten fing er sich eine kalte Nase ein, da Sikona Schnee in sein Gesicht pustete. Wo der Schnee so plötzlich herkam, wusste Yen nicht und er hatte auch keine Zeit, weiter darüber nachzudenken, da Nurik, der sich abmühte, den kalten Schnee aus seinem Gesicht zu bekommen, weitererzählte.

„Wir sind die einzige Rasse, die es wagt mit dem Feuer zu spielen und mit der sich das Feuer auch einlässt."

Hier beendete Nurik seinen Bericht und trabte wieder an die Spitze der kleinen Gruppe. Nun kam Sikona an seine Seite und begann zu erzählen.

„Da Eiswölfe von Wasserwölfen abstammen, können wir das Wasser zu Eis und Schnee gefrieren lassen. Entweder durch unseren kalten Atem oder durch starke Konzentration. Erst dann können wir unsere Fähigkeiten ausnutzen, da das eigentliche Wasser unseren Befehlen nicht gehorcht. Eis und Schnee wiederum gehorchen meinem Willen. Da Wasser sich bekanntlich fast überall befindet, kann ich hier nicht von einem allzu großen Nachteil sprechen. Du bekamst gerade eine kleine Kostprobe von meinen Fähigkeiten, als ich Nuriks Schnauze mit Schnee bedeckt habe. Das Wasser in der Luft gefror zu Schnee. Der größte Nachteil, den wir haben, ist der, dass wir uns, im Gegensatz zu Feuerwölfen, in der Hitze nicht sehr wohl fühlen. Die Hitze schlägt uns sehr auf das Gemüt. Doch in kalten Gebieten sind wir das blühende Leben. Ich glaube, das reicht, was du über mein Element vorerst wissen musst. Wir sind gleich beim großen Rudel angekommen."

Die drei Wölfe schlossen ihre Berichte, die Yen zum Nachdenken gebracht hatten.

Yen stellte keine weiteren Fragen. Vorerst hatte er genug erfahren und früher oder später wird er die Fähigkeiten der Elemente schon selbst sehen.

Kurz nachdem sie ihre Unterhaltung beendet hatten, wurden die vier Wölfe langsamer. Yen tat es ihnen gleich und trat aus dem Wald, auf eine offene Lichtung. Dort blieben sie stehen. Nur das schwere Atmen der Wölfe war zu vernehmen. Kurz gönnten sie sich eine Atempause. Die Pause hielt nicht lange an und Sikona trabte munter weiter, hinter ihr ihre Geschwister und Yen bildete die Nachhut.

Sie trabten über die Lichtung, die kurz anstieg, aber größtenteils flach verlief.

Plötzlich blieben die Wölfe stehen und auch Nyrona im Wasser blieb auf einem Fleck und starrte, wie ihre Geschwister, auf den Boden. Yen verstand erst beim Näher kommen, warum sie dies taten.

Vor den vier Wölfen öffnete sich ein Abgrund, der steil nach unten führte. Neben ihnen war ein kleiner Wasserfall, dessen Rauschen Yen erst jetzt vernahm. Ungefähr hundert Meter unter ihnen war eine Felsnische, die von drei Wänden eingegrenzt war. Auf einer dieser Wände befanden sie sich jetzt und blickten hinunter in die Einkerbung. Yen konnte erkennen, dass sich am Boden der Felsnische ein großes Rudel befand.

„Unsere Heimat", sagte Nurik und blickte Yen an, der sich langsam vom Abgrund entfernte. Yen hatte genug gesehen. Abgründe bereiteten ihm Angst und ein Schauer lief seinem Rücken entlang. Er vermutete, dass dies mit seinem verlorenen Gedächtnis zusammenhing.

Nach wenigen Schritten und im sicheren Abstand zum Abgrund, blieb der große Wolf stehen.

Das Rudeln, das er gesehen hatte, war groß gewesen. Alle Arten von Wölfen tummelten sich in der Felsnische. Mehr konnte Yen in diesem kurzen Augenblick nicht erkennen.

„Ich werde den Wasserfall nach unten schwimmen und Mutter von unserer Rückkehr berichten", sagte Nyrona und war im nächsten Augenblick verschwunden.

Die restlichen Wölfe drehten sich zu Yen um.

„Ich schätze wir sollten uns beeilen", sagte Esaila.

Nurik und Sikona nickten ihr zu und gemeinsam rannten sie in Richtung der Öffnung der Felsnische.

Der Weg begann immer steiler abzufallen und kurz durch den Wald zu führen, bis sie wieder ebenen Boden unter den Pfoten hatten.

Daraufhin machten sie einen Schwenker nach links und rannten direkt in die Felsnische hinein. Nun konnte man das Tosen des Wasserfalls deutlicher hören. Die Nische schien wie ein Trichter zu sein, der seine Geräusche weit über das Land verbreitete.

Zudem drang an Yens Ohren die Geräusche von Wolfsgeknurre und Gebelle.

Da Yen die Wölfe bereits aus der Entfernung gerochen hatte, war es für ihn keine Überraschung, als vor ihnen Nyrona und eine ältere Wölfin auftauchten. Sie schienen auf die Neuankömmlinge gewartete zu haben.

Beim Näher kommen betrachtete Yen die Wölfin. Sie war ein normaler Wolf, mit grauem Fell und braunrotem Haar, dass von ihrer feurigen Verwandtschaft zeugte. Auch zwei Pfoten waren braunrot und ein Teil ihrer rechten Hinterkeule. Ihr restlicher Körper war in einem schlichten Grau.

Eine Tatsache fiel Yen besonders an dieser Wölfin auf. Es war die Art, wie sie sich hinsetzte und geduldig auf die Neuankömmlinge wartete. Ihr Blick strahlt Güte aus und sie hob ehrenvoll ihren Kopf. Zudem strahlte ihr Körper Anmut und Eleganz aus.

All diese Tatsachen zeigten Yen, dass dies die Leitwölfin des Rudels war. Die Leitwölfin und die Mutter der vier Geschwister.

Freudig empfing die Leitwölfin ihre Kinder. Sie umarmten und liebkosten sich. Die ganze Situation zeugte von tiefster Vertrautheit und Liebe.

Yen wollte dieser Familienidylle nicht zu nah treten und blieb einiger Entfernung stehen.

Die Leitwölfin beschäftigte sich nicht lange mit ihren Kindern und ging stolz auf Yen zu. Dieser wusste nicht so recht, was er in dieser Situation machen sollte und blieb unschlüssig stehen.

„Mein Name ist Marika. Ich bin die Leitwölfin des westlichen Gemischtrudel unter der Führung von Kito. Nyrona hat mir bereits von dir erzählt. Ich werde nicht von dir verlangen, dass du dich unterordnest. Dennoch will ich gütig zu dir sein und dir Unterschlupf gewähren", erklärte die Wölfin namens Marika.

Mit jedem Wort wurde Yen mehr bewusst, dass Marika eine großartige Leitwölfin war.

„Mein Name ist Yen. Ich danke für dein Angebot, das ich natürlich annehmen werde", entgegnete Yen schnell.

Marika nickte. „Nun Yen. Lass uns zum Rudel gehen und du erzählst mir solange, woher du kommst und was du hier in unserem Gebiet zu finden glaubst."

Yen willigte ein und folgte ihr, um seine Geschichte erneut zu erzählen. Er bemerkte die dankbaren Blicke von Nurik, Esaila und Sikona nicht, die sie ihrer Schwester Nyrona zuwarfen.

So erzählte Yen bereitwillig seine Geschichte und Marika hörte aufmerksam zu. Beim Rudel angekommen endete Yens Geschichte.

„Und so machte ich mich auf den Weg, die Ursache für das Sterben der Wölfe und das Verschwinden der Elementkraft zu finden und kam schließlich in euer Gebiet."

Marika hörte aufmerksam zu und verfiel, am Ende von Yens Erzählung, in Schweigen.

Nach ein paar Schritten kamen sie beim Rudel an und Marika erhob ihre Stimme, um Yen den anderen Wölfen vorzustellen und zu erklären, dass dieser einige Zeit beim Rudel bleiben durfte.

„Du wirst einige Zeit hierbleiben. Ich werde dich beobachten und entscheiden, ob ich dir sage, was ich weiß. Meine Kinder werden dir alles Wichtige zeigen und dich die nächsten Tage begleiten. Ich hoffe, du enttäuscht mich nicht", erklärte Marika an Yen gewandt.

Mit diesen Worten verschwand sie in einer Höhle und ließ Yen verwirrt zurück. Die Geschwister kamen zu ihm und stupsten ihn freundschaftlich an.

„Mama scheint dich zu mögen. Normalerweise ist sie zu fremden Wölfen nie so nett", stellte Sikona lachend fest. Die Geschwister stimmten in das Lachen ein und zeigten Yen die Gegend und erklärte ihm, was er beachten musste.

Anfangs fühlte sich Yen in diesem fremden Rudel nicht wohl. Die anderen Wölfe, die zum größten Teil normalen Wölfen waren, musterten ihn zu Beginn misstrauisch. Da ihre Leitwölfin diesen jungen Wolf Unterschlupf gewährte, gewöhnten sie sich schnell an ihn.

Yen war ein guter Jäger mit einem scharfen Spürsinn und somit fand er im Rudel immer mehr Anerkennung.

Der schwarze Wolf schloss schnell kleine Freundschaften und war auch glücklich, nicht mehr alleine zu sein, da die vier Geschwister immer um ihm herum waren und auf ihn aufpassten.

Er verstand sich mit Nyrona, Esaila, Nurik und Sikona immer besser.

Sie nahmen ihn bereitwillig in ihr kleines Vierergespann auf.

Zudem waren die Geschwister glücklich, dass Yen bei ihnen war. Yen bemerkte schnell, dass die Geschwister hohe Anerkennung im Rudel hatten, aber ansonsten mit keinem anderen Wolf eine direkte Freundschaft aufgebaut hatten. Die Geschwister waren eine seltsame Gruppe und immer abseits vom Rudel unterwegs.

Zudem hatten die Geschwister ein anderes Weltbild als die andere Wölfe. Ihr Blick auf die Welt ähnelte dem von Yen. Aus diesem Grund verstanden sich Yen und die Geschwister nach kurzer Zeit sehr gut.

Immer mehr schätzte er ihre Gesellschaft und sie die seine. Er genoss diese sorglose Zeit im Rudel.

Trotz allem fühlte sich Yen in der Felsnische und bei dem Rudel nicht wohl und aufgehoben. Sein Instinkt trieb ihn nach draußen in die große weite Welt. Doch er konnte noch nicht weiterziehen.

Yen wartete darauf, dass Marika ihm etwas über das Sterben der Wölfe und das Verschwinden der Kraft erzählte. Erst dann wollte er weiterziehen.

Marika beobachtete ihn sehr oft bei der Jagd, beim Schlafen, beim Fressen, beim Spielen mit den Jungwölfen. Fast immer spürte er ihren Blick in seinem Rücken.

So vergingen eine Mondphase und Yen hatte keine Aussicht auf ein baldiges Weiterziehen.

In einer Vollmondnacht stahl sich Yen aus dem Rudel und folgte einem geheimen Pfad, den ihm die Geschwister gezeigt hatten, bis er an einer Felsnase ankam. Dort legte er sich nieder und blickte hinauf zu dem Vollmond, der auf den Wald unter ihn schien.

Der junge Wolf lauschte in die Ferne, wie er es jeden Abend seit seinem Abschied von den freien Wölfen tat. Jedes Mal glaubte er Koras Geheul zu vernehmen, das ihn mit Sehnsucht füllte, doch immer wieder Mut gab.

Es war still in dieser hellen Nacht. Nur ein paar Grillen waren zu hören.

Yen vernahm nach kurzer Zeit ein Rascheln in den Büschen nahe der Felsnase. Nach kurzer Zeit trat Sikona mit gesenktem Kopf aus den Schatten und blieb neben ihm stehen.

„Du vermisst sie. Habe ich Recht?"

Yen nickte nur und Sikona setzte sich hin. Er tat es ihr gleich.

„Du musst wissen, dass Freunde niemals weit weg sind. Sie sind hier drinnen. Für immer."

Mit diesem Satz deutete Sikona mit einer Pfote auf Yens Brust.

„Immer, wenn man Freundschaft schließt, wandert ein Teil seiner eigenen Seele in den anderen Körper und anders herum", erklärte Sikona mit ruhiger Stimme.

Yen war gerührt von ihren lieben Worten.

„Danke", brachte er nur heraus und blickte erneut den Vollmond an.

„Ich kann deine Gefühle verstehen. Ich würde sie auch vermissen. Doch du bist nicht allein auf dieser Welt. Außerdem hast du sie ja verlassen, um ihnen zu helfen. Um der ganzen Wolfheit zu helfen", erklärte Sikona weiter.

„Da hast du recht. Ich werde nicht solange ruhen, bis ich an meinem Ziel angekommen bin, von dem ich nicht genau weiß, was es ist", gab er ihr gegenüber zu.

„Ich glaube, ich erzähle dir meine Lieblingsgeschichte", erklärte Sikona nach einer kurzen Pause.

„Unsere Oma hat sie uns immer wieder erzählt. Sie zeugt von Hoffnung und Vertrauen. Ich hoffe du kennst sie noch nicht. Am liebsten habe ich sie, wenn sie geheult wird. Hörst du mir zu?"

Yen nickte ihr aufmunternd zu, froh über ihre Gesellschaft.

Da hob Sikona ihren Kopf in Richtung Sterne und Mond und begann die alte Geschichte über die Entstehung der Elementkraft und die Prophezeiung zu heulen.

Yen stellte schon sehr früh fest, dass Sikona sehr schön heulte. Sie wusste, wann sie welche Gefühle mit einbringen und, wann sie ihr Heulen anschwellen und wieder abschwellen lassen musste. Er fand es atemberaubend und Yen konnte sich die Geschichte gut vorstellen.

Schon bald roch Yen andere Wölfe, die wenige Augenblicke später aus dem Unterholz auftauchten. Es waren Nyrona, Esaila und Nurik.

Alle drei gesellten sich ohne ein Wort zu sagen zu ihnen, hoben ebenfalls ihre Köpfe und stimmten wunderbar und ohne Fehler in das Geheul von Sikona ein.

Es war ein atemberaubendes Geheul, das genau abgestimmt war.

Einmal schwellte nur eine Stimme an, doch dann wieder alle zusammen.

Das Heulen bewegte sich wie ein Zauber in der Luft.

Yen, der der Geschichte lauschte, bekam das Bedürfnis, ebenfalls mitzuheulen. So hob auch er seinen Kopf und stimmte mit ein.

Sein Geheule und das der Anderen war so wunderbar und schön, dass die Wölfe im westlichen Gemischtrudel ihre Köpfe hoben und der alten, fast vergessenen Geschichte, lauschten. Vor allem eine Wölfin hörte dem Spektakel aufmerksam zu.

Yens Geheule rundete die Prophezeiung ab und zu fünft heulten sie, als seien sie ein Geheul. Ein einziger Wolf, voll mit Hoffnung und Vertrauen.

Als die Geschichte zu Ende war, stimmte Sikona ein neues Geheul an, dem die Anderen bereitwillig folgten. Dies erzählte von dem Beginn einer wunderbaren Freundschaft, die sich gerade entwickelte und in dieser Nacht einen von vielen Höhepunkten erreicht hatte.

Sie heulten, bis sich der Morgen am Horizont ankündigte und verstummten alle nacheinander. Sikona bildete den Schluss und, als sie aufhörte, legte sich eine beruhigende Stille über das Land.

„Die Geschichte ist wunderschön, Sikona. Danke an euch allen, dass ihr sie mit mir geteilt habt", brach Yen die Stille.

Die anderen Wölfe nickten ihm freundlich zu.

„Yen", begann Sikona, „du hast auch einen Teil meiner Seele in dir. Ich werde immer bei dir sein!" Sie stand auf und umarmte Yen, indem sie ihre Schulter an seine schmiegte.

„Auch ich werde immer bei dir sein, mit meinem Seelenstück!", sagte Nyrona und umarmte ihn ebenfalls.

Esaila tat es ihren Geschwistern nach und erklärte: „Mögen wir für immer befreundet sein, Yen!"

Nurik war der Letzte, der vortat. Er blieb stehen und legte seinen Kopf schief, so als müsste er sich erst entscheiden. Doch seine Entscheidung war schon lange gefallen.

„Ich sage dir eins. Mich wirst du definitiv nicht mehr so schnell los!"

Mit diesen Worten umarmte er Yen, der die Geste erwiderte. Daraufhin lachten die Wölfe.

„Ich danke euch. Auch ein Teil meiner Seele ruht nun in euch und ich werde immer bei euch sein. Ich danke euch auch für die Hoffnung, die ihr mir mit dieser Geschichte gegeben habt. Ich werde sie und euch niemals vergessen", erklärte Yen den vier Geschwistern.

„Das brauchst du auch nicht. Wir werden nämlich immer bei dir sein", sagte Sikona und wieder lachten alle. Doch es stecke viel mehr hinter diesen Worten, als Yen dachte.

Sie wurden aus ihren Gedanken gerissen, als ein Heulen ertönte. Der heulende Wolf verlangt die Rückkehr der fünf Wölfe. Die Jungwölfe wussten, dass dies das Heulen der Leitwölfin Marika war, die eine Entscheidung getroffen hatte.

Nicht weit vom Gebiet des westlichen Gemischtrudel entfernt, kämpfte ein Wolf um sein Überleben. Er war geschwächt vom Kampf, der sich ein paar Tage zuvor in seinem Rudel zugetragen hatte.

Es war ein blutiger Kampf gewesen. Kein Wolf aus seinem Rudel hatte überlebt, außer er selbst.

„Wieso haben sie das getan?" sprach der junge Wolf zu sich selbst. Ihn verwirrte der Angriff der fremden Wölfe. Vor allem konnte er nicht verstehen, wieso ein so friedliches Wolfsrudel wie seines angegriffen und fast vollständig ausgelöscht wurde.

Der Wolf blieb stehen und blickte sich nach möglichen Verfolgern um. Doch es waren keine zu sehen oder zu riechen. So gönnte er sich eine Pause und betrachtete seine Wunden.

Seine linke Schulter war aufgerissen, doch sie begann bereits zu heilen und es würde keine Narbe zurückbleiben. Unter anderem waren seine Pfoten von der Hetzjagd aufgerissen.

„Ich bin halt kein richtiger Kämpfer!", stellte der einsame Wolf traurig fest.

Mit der restlichen Kraft war er der Gefahr entflohen, die in seinem Gebiet gewütet hatte. Seine sterbende Mutter hatte ihm genügend Zeit zu entkommen verschafft.

„Was hätte ich sonst tun sollen? Es war ihr letzter Wunsch und so etwas durfte ich nicht abschlagen. Ich sollte überleben um ...", sagte der Wolf zu sich selbst, „... um diesen Wolf zu suchen und ihm zu helfen. Er ist die Hoffnung aller!"

Der Wolf beendete seine Pause und trabte seinen Weg weiter. Er versuchte die Bilder des Kampfes aus seinem Kopf zu verbannen. Ohne Erfolg.

„Mama... Papa... Ich... ich werde euch nicht enttäuschen!", rief er in die Weiten der Welt hinaus.

„Ich muss die alte Heilerin finden. Ich muss sie und dann ihn finden. Vielleicht kann sie helfen...", murmelte der Wolf und wanderte weiter in die vom Vollmond erhellte Nacht.

Das hoffnungsvolle Heulen, das aus der Richtung des westlichen Gemischtrudels kam, hörte er nicht.

Er hörte nicht das Heulen, dass auch für ihn Hoffnung bedeutete und ging seinen Weg weiter

~~Die Hoffnung stirbt als Letztes Ende~~

Was für eine Entscheidung hat Marika getroffen?

Geht die Reise von Yen bald weiter?

Wer ist dieser junge verletzte Wolf?

Erreicht dieser die Heilerin?

Hoffnung, ein Wort, dass Mut verbreitet und den Zusammenhalt stärkt. 

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