Aufbruch
~~Aufbruch~~
Stille war nach dem Kampf eingetreten. Die Wölfe hatten sich nicht von ihrem Platz bewegt. Ihre Körper entspannten sich allerdings langsam nach dem anstrengenden Kampf.
Die Lichtung, auf der sie sich befanden, war, aufgrund des mittlerweile erloschenen Feuers, komplett schwarz. Die Tiere versteckten sich weiterhin im Wald. Langsam begannen die Vögel in den Bäumen wieder zu zwitschern und das Leben nahm um die Wölfe wieder seinen Lauf. Sie spürten, dass die Gefahr vorüber war.
„Freunde", unterbrach Nyrona die Stille. „Dieser Wolf namens Lumus und sein Rudel sind aktuell keine Gefahr mehr für uns, dennoch können wir uns nicht sicher sein, dass sie nicht bereits den nächsten Angriff planen. Ich schlage vor, wir verschwinden hier so schnell wie möglich. Im Wald sind wir ein leichtes Ziel. Lasst uns raus in die offene Ebene gehen, wo wir den Feind am ehesten bemerken.
„Du hast Recht, Nyrona", sagte Yen und drehte sich zu den Bäumen um. „Mir ist der Wald zu unsicher." Sein Blick glitt zu Kian. „Wirst du uns begleiten?", fragte Yen den gelben Wolf.
Kian seufzte. „Ich werde euch begleiten, sobald wir einen sicheren Ort zum Reden gefunden haben. Ich möchte euch ebenfalls so einiges fragen."
Yen nickte und ging vorsichtig auf den Wald zu. Seine linke Schulter tat noch immer weh, doch die Blutung hatte aufgehört. Für diesen Umstand war Yen sehr dankbar. Eine blutende Wunde konnte er bei einer Flucht nicht gebrauchen.
Der schwarze Wolf wusste, dass ihm die anderen Wölfe folgten und nach kurzer Zeit trat Esaila neben ihn. „Soll ich mir mal deine Schulter ansehen?", fragte sie vorsichtig.
„Nein, das hat Zeit, bis wir draußen sind. Es wird schon die kurze Strecke gehen."
Esaila bedrängte ihn nicht weiter und ließ sich etwas zurückfallen.
Keiner sprach ein Wort, denn jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Ihre Freude darüber, endlich ein genaues Ziel zu haben, war seit dem Kampf verflogen. Der Hinterhalt hatte sie in die Realität zurückgebracht.
Verbittert biss Yen seine Zähne zusammen, denn die Geschehnisse des Kampfes begannen in seinen Gedanken herumzuwirbeln.
Das hasserfüllte Gesicht des braunen Wolfes schob sich in seine Gedanken. Erst nach dem Kampf, wurde ihm bewusst, was er angerichtet hatte. Er wusste, dass er der Einzige in seiner Gruppe war, der seinen Gegner getötet hatte. Seine Begleiter hatten alle ein zu gutes Herz, um einem anderen Wolf zu töten. Das wusste er. Er selbst hatte während dem Kampf die Kontrolle verloren und einem anderen Wolf das Leben genommen. Ein bitterer Geschmack breitete sich auf seiner Zunge aus. Yen versuchte sich mit dem Gedanken zu trösten, dass der feindliche Wolf ihn nicht in Ruhe gelassen hätte. Er wäre zu spät zu seinen Freunden gekommen, um ihnen zu helfen.
Da schlich sich die Frage in seine Gedanken, ob er überhaupt schon einmal getötet hatte. Ein Reh oder einen Hasen hatte er vor seinem Gedächtnisverlust sicher getötet, aber er wusste nicht, ob er in seinem früheren Leben jemals einen Artgenossen getötet hatte. Vor drei Monaten hatte ihn Kora gefunden. Es fühlte sich für Yen so an, als kannte er sich erst seit dieser kurzen Zeit. Laut den Geschwistern konnte er kaum älter als sie selbst sein. Die Geschwister waren drei Jahre alt und drei Jahre fehlten ihm in seinem Gedächtnis. In dieser Zeit hätte er einen anderen Wolf töten können. Mit einem Jahr war ein Wolf bereits ausgewachsen und der schwarze Wolf war für seine Rasse sehr groß.
Die Ungewissheit, dass Yen nicht wusste, wer er wirklich war, machte ihn verrückt. In manchen Nächten fand er keinen Schlaf, da er zu sehr über sein früheres Ich nachdachte.
Nachdem Aufwachen an jenem Tag, konnte er sich an gar nichts mehr erinnern. Selbst die Existenz der Elemente musste ihn Kora erklären. Nach Koras Erklärung, fielen Yen grundlegende Dinge, wie die Elemente und wie die Welt Daromi funktionierte wieder ein. Nur sein Leben und insbesondere sein Name blieben ihm weiterhin verwehrt.
Somit sprangen Yens Gedanken zu dem Geschehnis an diesem Tag zurück, das ihn am meisten belastete: Lumus.
Der knallrote Wolf kannte Yen. Der schwarze Wolf wusste, dass Lumus ihn nicht getäuscht hatte. Lumus hatte ihm dennoch kaum Informationen über sich gegeben, die ihm hätten helfen können sich zu erinnern. Er stand weiterhin vor einem großen Abgrund, denn er nicht überspringen konnte.
Yen beschäftigte zudem die Frage, wie sehr Lumus ihn kannte und ob sie Freund oder Feind waren.
Er schloss für kurze Zeit verbittert seine Augen. Nach kurzer Zeit vernahm er wieder das vertraute Geräusch der trampelnden Pfoten hinter sich und Yen wurde eins bewusst. Es war egal, was für ein Wolf er einmal war, jetzt hatte er Freunde, die hinter ihm stehen. In dieser kurzen Zeit in der sie sich kannten, entstand eine Freundschaft, die niemand zu brechen vermochte und Yen wusste, dass er auf sie jederzeit zählen konnte.
Somit verbannte er alle bösen Gedanken und rief sich die Gesichter seiner Freunde ins Gedächtnis. Dann öffnete Yen wieder seine Augen und sein mürrischer Gesichtsausdruck verwandelte sich in ein Lächeln.
Kurz blickte er hinter sich und schenkte dieses Lächeln seinen Freunden.
Zuerst waren die anderen Wölfe überrascht über diese Reaktion, denn sie alle hatten bemerkt, dass Yen mit seinen Gedanken beschäftigt war. Doch nun, da sie Yen lächeln sahen, stimmte jeder, selbst Kian, in das gütige Lächeln mit ein. Die Angst, die der Kampf hinterlassen hatte, war wie weggeblasen.
Als Yen seine Augen wieder nach vorne richtete, sah er, dass die Bäume sich lichteten. Überrascht blieb er stehen. War er so lange in seinen Gedanken versunken gewesen, dass er gar nicht bemerkt hatte, wie schnell sie vorwärtsgekommen waren?
Nach kurzer Überlegung schüttelte Yen seinen Kopf. Das konnte nicht sein, da sie bei ihrer Ankunft im Wald, einen halben Tag gelaufen waren, um den Wasserfall zu finden.
Die anderen Wölfe waren ebenfalls stehen geblieben. Alle, außer Esaila, wirkten genauso überrascht wie Yen.
Esaila trat vor. „Ich weiß, was euch durch den Kopf geht. Normalerweise hätten wir erst die Hälfte der Strecke zurückgelegt. Dieser Wald ist aber kein normaler Wald. Ich habe es gleich bemerkt, als ich das erste Mal eine Pfote auf den Waldboden gesetzt habe. Er hat irgendetwas Magisches an sich. Der ganze Wald scheint einen großen Organismus zu besitzen. Es ist auch für mich kaum zu begreifen und ich kann es euch schlecht genauer beschreiben."
Esaila blickte auf den Boden und legte traurig ihre Ohren an. Sikona trat zu ihr und stupste sie aufmunternd an.
„Wir verstehen, was du meinst, Esaila. Sozusagen kann der Wald bestimmen wohin seine Besucher geführt werden. Er scheint die Seherin zu beschützen. Es gibt keinen Grund, traurig zu sein. Schließlich warst du es, die uns schlussendlich zu der alten Wölfin geführt hat."
Die Eiswölfin hoffte, ihrer Schwester neuen Mut verschafft zu haben, doch diese ließ weiterhin die Ohren angelegt.
„Das ist es nicht, was mich bekümmert. In dem Wald fehlte mir die Einschränkung meiner Kraft, die uns bereits seit mehreren Monden aufgefallen war. Mein Element war so stark, als wäre meine Kraft nicht schwächer geworden. Mir wird erst jetzt diese Tatsache bewusst. Der Wald ist so mächtig, dass er mir seine Energie gegeben hat. Wisst ihr eigentlich, wie schwach wir geworden sind, seitdem die Elemente immer mehr verschwinden? Das lässt mich traurig werden. Unsere Kräfte sind fast nicht mehr vorhanden."
Tränen standen Esaila in den Augen, als sie ihre Schwester anblickte. Die Eiswölfin verstand ihre Schwester. Ihre Elementkraft hatte mit der Zeit abgenommen und sie hatten erst wesentlich später erfahren, was eigentlich vor sich ging. Esaila hatte im Wald ihre ursprüngliche Kraft zurück und wusste nun am besten, wie sehr die Kraft der Elementwölfe zurückgegangen war. Zwischen den beiden Geschwistern schob sich ein großer Körper. Yen senkte seinen Kopf, um der Waldwölfin in die Augen sehen zu können.
„Esaila, das ist kein Grund, um traurig zu sein. Nur, weil dir das Fehlen deiner Kräfte schlagartig bewusst wird. Bedenke, die Elementkraft ist nicht alles, was einen Wolf ausmacht. Es gibt auch Wölfe, die wie jedes andere Tier 'normal' sind. Ich weiß, dass du nicht so selbstsüchtig denkst, doch was ich damit sagen will ist, dass wir nicht machtlos sind. Wir sind nicht umsonst losgezogen, um dieses Problem zu untersuchen. Mir ist es egal, wie sehr dieser Wald uns beeinflusst, solange wir alle unser Ziel erreichen. Lasst uns etwas weiterziehen und den Wald hinter uns lassen, damit wir in Ruhe über alles sprechen können."
Esaila stellte langsam ihre Ohren auf und nickte Yen zu. Dann folgten sie und die anderen Yen nach draußen.
Kaum hatten sie den Wald verlassen, spürte Esaila, wie ihre Elementkraft nachließ. Sie hob entschlossen ihren Kopf und folgte den anderen. Sie war nicht allein. Die Kraft war nicht gänzlich verschwunden, sondern das Greifen nach ihrer Quelle war schwerer geworden. Jede Elementkraft hat einen Ursprung, auf die ein Elementwolf zugreifen konnte. Der Ursprung war ein kleines Flackern hinter dem Herzen. Esaila spürte, wie ihre Flamme immer kleiner wurde, bis sie nur noch ein Funke war.
Direkt nach dem Wald kam eine weite Ebene. Die Ebene sah ganz anders aus, als die, in die sie in den Wald hineingegangen waren.
Die sieben Wölfe blieben nicht lange stehen, um den Ausblick zu genießen. Eine friedliche und ruhige Ebene brachte auch gewisse Gefahren mit sich. Sofort wandten sich die sieben Wölfe nach Südosten.
Kian trat neben Yen und lief schweigend neben ihn her. Yen wusste, dass der gelbe Wolf reden möchte, doch er fragte nicht nach und wartete lieber ab. Es dauerte nicht lange und Kian brach das Schweigen.
„Ich habe nicht vor, mich eurem kleinen Rudel anzuschließen, also könnten wir dann einen kurzen Halt zum Reden einlegen? Der Wald ist schon hinter uns und keiner käme auf die Idee, uns auf einer offenen Ebene anzugreifen."
„Ich kann dich verstehen. Meine Absicht war, uns in Sicherheit zu bringen. Ich schätze ..."
Plötzlich blieb Yen stehen und rümpfte die Nase. Er zog seine Lefzen nach oben und knurrte leise. Die anderen Wölfe hatten es ebenfalls bemerkt und blieben neben Yen stehen.
„Was ist das?", fragte Nurik und trat mit hoch erhobenem Kopf neben Yen.
Yens Knurren erstarb. „Das, was du hier riechst, ist der Geruch des Todes. Wisst ihr noch, als ich euch von meiner kurzen Reise von den freien Wölfen zu euch ins Rudel erzählt habe? Dort bin ich das erste Mal auf diesen Geruch gestoßen", sagte er verbittert.
„Das soll dieser Gestank sein? Das riecht wie verfaultes Fleisch, nasser Erde und Mist zusammen", stellte Nurik fest.
„Da hast du Recht. Überall, wo dieser Geruch ist, werden wir keine Wölfe und sehr wenig Lebewesen begegnen. Ich weiß nicht, woher dieser Geruch kommt. Wir suchen uns einen ruhigen Platz und ruhen uns aus."
Den letzten Satz sagte er an Kian gewandt. Dieser nickte zustimmend.
„Ich habe nicht nur Etwas mit Kian zu besprechen, sondern auch mit euch allen. Der letzte Kampf hat mich auf eine Idee gebracht."
Yen setzte sich in Bewegung und lief weiter. Die anderen folgten ihn etwas verwirrt.
Die Ebene wich einzelnen Baumgruppen, die weiter auseinander standen. Yen steuerte eine etwas größere Baumgruppe an und ließ sich neben dem Stamm einer Lärche fallen. Sofort bereute er den kleinen Sturz, denn der Schmerz in seiner Schulter flammte erneut auf. Yen unterdrückte ein Stöhnen und beobachtete, wie die anderen Wölfe es ihm gleichtaten.
Der schwarze Wolf blickte jeden von ihnen an, bis sein Blick bei Kian hängen blieb.
„Ich glaube, wir haben uns noch nicht vorgestellt. Mein Name ist Yen oder besser gesagt, mein Name, den ich seit drei Monaten habe. Der graue Wolf neben dir heißt Ruki und ist erst seit Kurzem ein fester Teil dieses kleinen Rudels. Die anderen vier Wölfe sind Geschwister. Angefangen mit der türkisen Wölfin Nyrona. Ihre grüne Schwester Esaila liegt neben ihr. Nurik, den feurigen Wolf, kennst du ja schon und die letzte, blaue Wölfin heißt Sikona."
Kian nickte jedem vorgestellten Wolf kurz zu. Er brauchte sich nicht erneut vorzustellen.
„Nun, Kian", fuhr Yen fort. „Wir wissen bereits, dass du von einem Adler hergeführt worden bist, aber ich möchte sicher gehen. Wie komisch war der Adler in deinen Augen?"
„Ich konnte ihn nie richtig sehen. Als ich ihn das erste Mal traf, war ich beim Fressen und er kreiste kreischend über mich. Soweit ich erkennen konnte, hatte er einen schiefen Schnabel und war zudem auch noch recht klein für ein ausgewachsenes Exemplar."
Yen nickte bei diesen Worten. „Das ist Verox. Ich bin ihm damals begegnet, als ich allein auf Futtersuche war. Er wurde von Raben angegriffen, die, genau wie er, das tote Reh fressen wollten. Ich half ihm dabei, die Raben zu vertreiben."
Kian blickte ihn verwirrt an, doch er behielt seine Frage für sich.
„Zudem hat Verox auch Ruki zu uns geführt und nun auch dich. Wie es scheint, bist du ebenfalls durch unbelebte Gegenden gereist, wie ich."
„Da hast du Recht", bestätigte Kian Yen's Vermutung. „Um genau zu sein, kam ich aus dem Osten von Daromi. Mein Rudel, aus dem ich stamme, liegt in dieser Richtung und es bestand hauptsächlich aus Lichtwölfen. Das Rudel war sehr klein und das einzige Lichtrudel im Osten von Daromi. Eines Tages beschloss ich, durch das Land zu streifen und, als ich wieder zu meinem Geburtsort zurückkehrte, war niemand mehr da. Der Geruch von vorhin, hing ebenfalls über meinem Geburtsort. Ich begab mich auf die Suche nach dem Rudel und zog nach Westen. Meine Reise führte mich bis zu diesem Wald in dem ich auf den Adler und auf euch traf. Ich dachte mir, dass ihr vielleicht etwas über das Verschwinden der Wölfe wisst, doch ich hielt mich versteckt. Ein paar Tage später kamen diese fremden Wölfe dazu und ich wusste, sie wollten euch nichts Gutes. Sie verfolgten eure Spur. Leider habe ich euch aus den Augen verloren und bin stattdessen den anderen Wölfen gefolgt, die einen Hinterhalt planten, in den ihr dann geraten seid."
Hier endete sein Bericht und es wurde still. Jeder Wolf schien sich seine eigenen Gedanken zu machen. Ruki war es, der das Schweigen brach.
„Woher hast du gewusst, dass wir nicht böse sind?"
Ein schelmisches Grinsen stahl sich auf Kians Gesicht. „Möchtest du wirklich die Antwort wissen?" Ruki nickte langsam.
„Ich verrate es dir. Ich habe noch nie sechs Wölfe so unbekümmert und unvorsichtig durch die Gegend laufen sehen. Als ich euch das erste Mal getroffen habe, seid ihr wie Welpen in die Luft gesprungen und habt die Raben vertrieben, die hinter dem Adler her waren. Und zudem", sein Grinsen wurde breiter „habe ich noch nie einen so komischen Haufen wie euch gesehen. Selbst auf meiner Reise durch das Land nicht."
Ruki verschlug es die Sprache und Yen begann bedrohlich zu knurren, doch das Grinsen verschwand nicht aus Kians Gesicht.
Sikona legte ihren Kopf schief. „Nun, ich weiß zwar nicht, was an uns eigenartig sein soll, aber für mich hört es sich komisch an, wenn ein Wolf sein Rudel verlässt, wieder zurückkommt und dann beschließt, das verschwundene Rudel zu suchen. Zudem verfolgt dieser Wolf ohne ersichtlichen Grund einen Adler, um anschließend hinter einem kleinen, angeblich komischen Rudel tagelang hinterherzulaufen und diesem dann aus der Patsche zu helfen. Meiner Meinung nach finde ich genau diese Tatsache komisch."
Sikona sprach ruhig und gelassen. Wenn sie eines nicht mochte, dann war es jemand, der ihre Freunde beleidigte. Mit jedem Wort, das die Eiswölfin gesprochen hatte, verflog Kians Grinsen und wich einer mürrischen Grimasse. Zornig stand er auf und wandte sich Sikona zu. Er blickte ihr tief in die Augen. Nurik stand ebenfalls auf und stellte sich beschützend neben seine Schwester. Kian blickte Sikona direkt in die Augen.
„Hinterfrage niemals meine Beweggründe. Was ich mache, ist allein meine Entscheidung und nicht deine. Ich bin ein Einzelgänger und Kämpfer. Ich mag euer kleines Rudel komisch finden, doch ihr seid in meinen Augen keine Gefahr. Merk dir das, kleine Wölfin."
Sikona blickte Kian ruhig in die Augen. Sie fand nicht, dass sie etwas Falsches gesagt hatte. Zudem brauchte sie sich nicht vor einem Wolf zu fürchten, der kaum größer als sie selbst war.
Prompt wandte sich Kian ab und ging zu seinem Platz, um sich hinzulegen. Sikonas Bruder tat es ihm gleich. Die anderen konnte ihm seine Verwirrung ansehen, doch er sprach kein Wort.
Yen gähnte gelangweilt. Er hatte gedacht, dass Kian auf Sikona losging, doch der gelbe Wolf hatte doch mehr Verstand als es der erste Anschein erweckt hatte. Als der dunkle Wolf bemerkte, dass Sikona nicht bereit war, etwas zu erwidern, wandte er sich wieder an Kian.
„Wir danken dir, dass du uns deine Geschichte erzählt hast. Ich denke, ich kann dir tatsächlich weiterhelfen. Deinem Rudel ist wahrscheinlich das Gleiche passiert, wie den anderen auch. Aus irgendeinem Grund verlassen sie ihre Heimat. Wir vermuten, dass das Verschwinden etwas mit dem großen Finsternisrudel im Norden zu tun hat. Die Wölfe aus diesem Rudel steifen durch Daromi. Sie haben einen perfekten Zeitpunkt gewählt. Dir ist es sicher nicht ergangen, dass die Elementwölfe kaum noch ihre Kräfte einsetzten können."
Yen sah, wie Kian ihn mit einem Nicken zustimmte.
„Wir sechs Wölfe haben uns zusammen getan, um gegen dieses Grauen etwas zu unternehmen", fuhr Yen fort. "Deswegen waren wir auf dem Weg zu einer Wölfin Namens 'Die Seherin'. In dem Wald, aus dem wir kamen, fanden wir sie und sie hat uns verraten, wie wir den Wölfen helfen können."
Kian nickte dankend für diese Informationen. „Was genau hat euch die Seherin verraten? Zudem würde mich interessieren, wie ihr gegen so ein mächtiges Rudel bestehen könnt?"
Yen sah Kian kurz schweigend an. „Was glaubt ihr? Können wir ihm trauen?"
Die Frage war an die anderen fünf Wölfe gerichtet, die, bis auf Sikona, bisher nur wenig gesagt hatten. Zögerlich blickten sie Kian an.
„Natürlich können wir ihm vertrauen!", rief Sikona fröhlich und überraschte somit alle, einschließlich Kian. Dem Wolf, mit dem sie vor wenigen Minuten noch eine Auseinandersetzung gehabt hatte, schenkte die Eiswölfin ihr Vertrauen.
„Er hat unser aller Leben gerettet", sagte sie bestimmt und hielt ihren Blick weiterhin auf Kian gerichtet. Dieser musterte Sikona neugierig.
Nurik nickte. „Du hast Recht, Schwester. Ohne ihn hätte ich euch nicht mehr. Wir sollten es ihm sagen. Er verdient die Worte der Seherin zu hören."
„Ich finde Sikona und Nurik haben Recht, oder was meinst du, Esaila?", fragte die Älteste ihre Schwester und blickte sie an. Man sah, dass Esaila mit sich kämpfte und es entstand ein kurzes Schweigen.
„Ihr habt Recht. Wir sind ihm etwas schuldig", sagte die kleine Waldwölfin dann doch und seufzte. Auch Ruki nickte zustimmend.
„Gut, dann vertrauen wir dir, Kian", erklärte Yen und blickte den gelben Wolf an. Er sah, wie Kian Sikona dankend zunickte. Dies war zwar nur eine kleine Geste, doch, wenn man bedachte, wie er und Sikona vorhin miteinander gesprochen hatten, zeigte sie deutlich, dass Kian ein vernünftiger Wolf zu sein schien.
„Die Seherin hat an uns gezweifelt, was die Sache mit dem mächtigen Nordrudel angeht. Sechs Wölfe sind kein richtiges Rudel und, wenn wir in ihr Gebiet marschieren, schaden wir den Wölfen, denen wir helfen wollen, mehr, als das wir eine Hilfe gewesen wären. Sie würden binnen ein paar Augenblicken uns ausfindig machen und töten. Dennoch haben wir alle den Entschluss gefasst, den Wölfen zu helfen. Deshalb hat uns die Seherin eine andere Möglichkeit erzählt."
Hier machte Yen eine Pause. Er sah, wie Kian ungeduldig mit seiner rechten Pfote auf den Boden klopfte. Der gelbe Wolf blieb geduldig und hörte lieber Yen zu, der mit seiner Erklärung fortfuhr.
„Es ist allgemein bekannt, dass die Elementwölfe ihre Kraft von den Elementgöttern haben. Die Kraft schwindet seit geraumer Zeit immer mehr. Die schwachen Elementwölfe können gar nicht mehr auf ihre Quelle zugreifen und den Starken gelingt das nur mit großer Mühe und von kurzer Dauer. Deshalb hat uns die Seherin geraten, den Göttern zu helfen, anstatt direkt gegen den Feind zu kämpfen. Es ist offensichtlich, dass das Böse genau diesen Moment ausgenutzt hatte."
Kian riss die Augen auf und konnte sich nicht mehr zurückhalten.
„Den Göttern helfen? Wie stellt ihr euch das vor? Sechs Wölfe wollen sechs Göttern helfen? Das klingt in meinen Ohren völlig schwachsinnig!"
Bei dieser Reaktion knurrte Yen kurz. „Es mag für dich schwachsinnig erscheinen, doch wir sind vernünftig und entschlossen. Vernünftig, da wir nicht direkt auf das Böse zulaufen und entschlossen, den Göttern und somit den anderen Wölfen indirekt zu helfen. Außerdem solltest du mich zuerst ausreden lassen."
Kian senkte entschuldigend seinen Kopf.
„Bitte, fahre fort", erklärte Kian und wurde erneut der aufmerksame Zuhörer.
„Den Göttern zu helfen, ist eine große Aufgabe, aber zugleich auch sehr schwierig. Deswegen begeben wir uns zu den heiligen Orten, wo die Macht des jeweiligen Gottes am stärksten ist, um herauszufinden, wieso ihre und somit die Kraft der Wölfe schwindet. Wir wissen nicht, was uns an solch einen Ort erwartet, doch wir sind bereit diese aufzusuchen und den Göttern zu helfen. Jedem einzelnen."
Hier endete Yens Bericht und Kian überdachte still seine Worte.
„Damit", begann der gelbe Wolf „wird dann vorerst nur den Göttern geholfen, nicht aber den anderen Wölfen. Der Terror wird weitergehen und sogar schlimmer werden. Ist euch das bewusst?"
Yen nickte. „Ja, das ist es und wir sind bereit, das Risiko einzugehen. Dieser Weg hat mehr Chancen auf Erfolg, als der andere. Der Weg erscheint dir umständlich und unnütz, aber bedenke, dass wir mit den Göttern auch den Elementwölfen helfen. Je stärker die Elementwölfe werden, desto stärker können sie gegen den Feind aus dem Norden kämpfen. Solange sie den Willen zum Kämpfen nicht verloren haben."
„Was ist, wenn ihr Will nach dieser langen Zeit verschwunden ist?", fragte Kian den großen Wolf
Den anwesenden Wölfen war bewusst, dass sie mit dem Umweg ein Risiko eingingen.
Yen blieb ruhig und Entschlossenheit flammte in seinem Blick auf. „Wie gesagt, bin ich bereit dieses Risiko einzugehen. Die Wölfe werden mit der Zeit ihren Mut verlieren, aber du vergisst, dass es neben uns sechs auch noch andere Wölfe gibt, die gegen das Böse vorgehen wollen. Das beste Beispiel bist du selbst."
Kian schnaubte genervt, doch er nickte zustimmend.
„Zudem hoffen wir darauf, auf unserem Weg den Beschützerwolf, von dem in der Legende die Rede ist, zu treffen", fuhr Yen unbekümmert fort.
Bei diesen Worten lachte Kian gehässig auf.
„Ihr glaubt an die Legende und an diesen 'Beschützerwolf'. Kein Wolf hat ihn je gesehen. Das ist doch nur eine Gutenachtgeschichte, die die alten Wölfe den Welpen im Rudel erzählen. Für mich ist das ein Ammenmärchen."
Kian ignorierte das leise Knurren von Sikona.
„Selbst mit diesem 'Beschützerwolf' ist dies eine riskante Reise. Was wollt ihr unternehmen, wenn ihr euer Ziel erreicht habt?", fragte Kian und blickte in die Runde. Er sah jedem an, dass sie über das Ziel ihrer Reise noch nicht nachgedacht hatten. Alle, bis auf Yen.
„Das ist eine gute Frage, Kian. Ich habe mir noch nicht allzu viele Gedanken dazu gemacht. Doch ich bleibe auf meinem Weg und versuche die Wölfe zu retten. Dafür riskiere ich gern mein Leben."
Bei diesen Worten stand Yen entschlossen auf und die anderen fünf, bis auf Kian, taten es ihm gleich. Sie riefen ihm zustimmend zu und waren froh über diese Worte.
Kian betrachtete das Spektakel gleichgültig. Doch nach kurzer Zeit stahl sich ein schelmisches Lächeln auf sein Gesicht und er schüttelte leicht den Kopf.
„Ich sehe, ich kann euch nicht umstimmen", sagte Kian und die anderen Wölfe wurden wieder still. „Ich sehe ein, dass dieses Unterfangen momentan tatsächlich das Beste ist. Den Göttern zu helfen wäre mir nie eingefallen, da ich mit ihnen, bis auf meine Elementkraft, keine Verbindung habe."
Da trat Yen zu Kian und blickte ihn tief in die Augen.
„Nun aus deinen Worten schließe ich, dass du dieser Idee nicht abgeneigt bist. Deshalb frage ich dich, im Interesse von uns allen, ob du dich uns anschließen möchtest?"
Kian zögerte kurz. Nach kurzer Überlegungszeit, stand er auf. Neben Yen wirkte der gelbe Wolf winzig.
„Ich möchte ebenfalls helfen und eurer Vorhaben klingt nicht schlecht. Außerdem habe ich allein keine Chance, mein Rudel zu finden. Ich werde mich euch anschließen. Aber ... „Weiter kam Kian nicht mit seiner Erklärung, denn er wurde von freudig japsenden und heulenden Wölfen umringt. Nurik stupste ihn mit seiner Nase an.
„Ich freu mich, dass du uns begleitest", sagte der Feuerwolf. „Willkommen in unserem kleinen Rudel."
Kian schnaubte.
„Lasst mich doch ausreden", rief er und es wurde schlagartig still. „Was ich noch sagen wollte ist, dass ich schon immer auf mich selbst aufpassen musste und auch lieber allein reise. Dies werde ich, so gut es geht, auch fortsetzen. Ich werde in eurer Nähe bleiben. Ich möchte mich bei euch bedanken, dass ihr mich aufnimmt", erklärte Kian mürrisch und drehte sich um. Die anderen sahen Kian an, dass er in diesem Moment mit sich selbst kämpfte. Es widerstrebte ihn. Somit entfernte er sich ein Stück und legte sich wieder hin.
Nurik wollte zu ihm laufen, doch Yen stellte sich ihm in seinen Weg.
„Lass ihn, Nurik. Er ist schon über seinen Schatten gesprungen, indem er uns begleitet. Zwar scheint er einen harten Kern zu haben, doch auch dieser wird irgendwann einmal aufgehen und blühen."
Nurik nickte verständnisvoll und Yen ging zurück auf seinen Platz an dem Baum, um sich erneut vorsichtig hinzulegen.
Die anderen taten es ihm gleich, bis auf Esaila. Die Waldwölfin trat vorsichtig zu Yen.
„Darf ich mir jetzt deine Schulter ansehen?", fragte sie.
Yen gab einen brummenden zustimmenden Laut von sich.
„Ich würde gern noch etwas mit euch besprechen. Danach würde ich mich freuen, wenn du dir meine Wunde anschaust."
Esaila verstand und legte sich neben Yen. Neugierig spitzte sie ihre Ohren.
„Wie ihr ja wisst, habe ich letztens zu Sikona und Ruki gesagt, sie sollen ein Team bilden, wenn es zu einem Kampf kommt. Beide Elemente ergänzen sich super. Beim letzten Kampf wurden wir alle getrennt, doch Ruki ist zu Sikona geflogen, um ihr zu helfen. Das war eine gute Herangehensweise bei einem Kampf. Ihr seid mit euren Elementen zusammen stärker. Deshalb möchte ich, dass auch ihr anderen Teams bildet und miteinander übt. Ich denke, ihr könnt es schaffen, dass eure Elemente miteinander harmonieren und sich somit gegenseitig perfektionieren. Ich weiß, dass jeder von euch seine Kraft sehr gut kontrollieren kann und somit ein starker Einzelkämpfer ist. Doch zusammen sind wir noch stärker. Unsere Feinde können ihre Kraft vielleicht genauso gut kontrollieren. Nyrona hat heute einen Kampf mit einer ebenbürtigen Wasserwölfin bestritten."
Die angesprochene Wölfin nickte beschämt mit dem Kopf.
„Deshalb will ich euch in Teams aufteilen. Der Feind erwartet bestimmt nie, dass ihr eure Kräfte auch bündeln könnt, wenn ihr schon zusammen kämpft."
Alle nickten zustimmend, selbst Kian.
„Gut, dann möchte ich, dass Esaila und Nyrona miteinander kämpfen. Eure Elemente brauchen einander. Macht euch dies Ergänzung zunutze."
„Das werden wir", sagten beide fröhlich.
„Das wird dir nicht gefallen Kian, aber ich möchte, dass du dich mit Nurik zusammentust. Soweit ich gesehen habe, kannst du Blitze nach Belieben erschaffen. Somit ist dein Element genauso zerstörerisch wie Nuriks. Zusammen seid ihr ein starkes Team für die Offensive."
Yen sah, wie Nuriks Augen vor Freude aufblitzen.
„Die Idee finde ich gut. Auf der Lichtung haben wir ganz schön Feuer gemacht. Unsere Elemente sind auch in dem Sinn gut, da sie einander auch schützen. Die beste Verteidigung ist noch immer der Angriff selbst. Ich bin dabei", rief Nurik.
Kian gab nur ein zustimmendes Brummen von sich.
Yen seufzte erleichtert. „Ich bin froh, dass wir das geklärt haben. Jetzt kannst du dir meine Schulter anschauen, Esaila."
Die Waldwölfin nickte und stand auf, um die Verletzung zu behandeln, indem sie Kräuter aus der Gegend verwendete.
Yen legte währenddessen seinen Kopf auf seine Pfoten.
„Yen?", fragte Sikona vorsichtig, als dieser seine Augen schloss. Sofort öffnete der schwarze Wolf seine Augen wieder.
„Wie kann ich dir helfen?", fragte Yen.
„Wenn wir alle in Teams aufgeteilt sind, was machst dann du?"
„Stimmt, das habe ich gar nicht erklärt", rief er und hob seinen Kopf. „Nun, da ich keine Elementkraft besitze und ich damit auch der Einzige bin, kämpfe ich entweder allein oder unterstütze euch. Außerdem bin ich groß und das verschafft mir einen gewissen Vorteil."
Sikona wedelte nervös mit ihrem Schwanz. „Aber, wenn ..."
Weiter kam sie nicht, da ertönte über ihr ein Schrei. Alle bis auf Kian blieben ruhig. Der Blitzwolf stand erschrocken auf und suchte den Himmel ab.
Die andern beobachteten amüsiert, wie ein Adler sich Richtung Boden drehte.
„Dieser Vogel bringt mich irgendwann noch um", brummte Kian und legte sich wieder hin.
Er bemerkte nicht, wie Verox von hinten angeflogen kam, seine Flügel wölbte und den Schnabel öffnete. Ein weiterer Schrei ertönte und Kian senkte seinen Kopf aufgrund des schrillen und hellen Klangs. Verox glitt an den Wölfen vorbei und landete auf einem Baum hinter Yen.
Dies ist das erste Mal, dass sich der Adler in der Nähe der Wölfe auf einem Baum setzte. Gemütlich begann der Adler sein Gefieder zu putzen und schien die Wölfe kaum zu bemerken.
„Siehst du, Sikona. Ich bin auch nicht allein. Verox und ich haben schon einmal miteinander gekämpft. Wir bilden das letzte Team in unserem Rudel."
„Du hast Recht. Ihr seid bestimmt ein wunderbares Team, wenn nicht sogar das Beste von allen. Ihr beide seid etwas Besonderes, insbesondere Verox."
Bei seinem Namen pfiff der Adler fröhlich. Dann machte er es sich bequem und schloss seine kleinen Augen.
„Ich fürchte, wir sollten ebenfalls etwas schlafen. Die erste Wache übernehme ich", sagte Yen und legte seinen Kopf auf den Boden.
Die anderen machten es ihm nach. Alle waren, aufgrund des anstrengenden Tages schnell eingeschlafen.
In Yen breitete sich ein warmes Gefühl aus, als er seine Freunde betrachtete. Ein Gefühl, das ihm sagte, dass er nun ein Teil von einem Ganzen war. Ein zufriedenes Lächeln stahl sich auf seine Lippen.
Mit diesem Gefühl schlief auch er bald ein, trotz der Wache, die er eigentlich halten sollte.
Mit einem Lächeln sah er aus, wie ein normaler schlafender Wolf ohne Sorgen und Kummer. Doch, wie es häufig der Fall war, sieht es in seinem Inneren ganz anders aus.
~~Aufbruch Ende~~
Was werden die Wölfe auf ihrem Ziel erreichen?
Wird Kian je ganz über seinen Schatten springen?
Was für Gefahren erwartet sie im Gebiet des ersten Gottes?
Der Aufbruch zu einer unbestimmten Zukunft.
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