Kapitel 24 | Fluchtort

„Darüber reden wir später!" knurrte mein Vater und stieg in das Verschwindekabinett. Als ich ein lautes Krachen von unten hörte, zuckte ich ruckartig zusammen. Samael hielt seinen Zauberstab zitternd in der Hand, während die anderen drei langsam, nacheinander durch den Schrank liefen. Ich wollte am liebsten hinunter und den anderen noch mehr Zeit verschaffen, doch dann entschied ich mich dagegen und zog Samael am Handgelenk durch das Kabinett. Die Tür schloss sich hinter uns und so liefen wir kurz durch die Dunkelheit, bevor wir auf der anderen Seite herauskamen.

Meine Eltern warteten schon fragend auf mich, während Selmar stur auf meine Hand an Samael blickte. Ich ließ ihn los und drehte mich zu dem Verschwindekabinett um. Schnell sprach ich einen Zauber, der diesen Durchgang zeitweise versperrte. „Wo sind wir?" fragte mein Vater und musterte mich. Ich antwortete nicht und lief nur zur Tür. Einen Spalt weit sah ich hinaus und wartete einen Augenblick, lauschte und lief dann auf den kleinen Flur hinaus. „Käuzchen!" rief jemand und so blieb Samael in der Tür stehen und trat wieder in den Raum zurück. Ich ging auf den großen, schlanken Mann zu und merkte schon früh den Geruch nach Schlamm und Moos.

„Spence!" meinte ich und streckte ihm die Hand entgegen. Seine knöchernen Finger umschlossen meine und ein kurzes Lächeln stahl sich auf seine schmalen Lippen. „Was machst du hier, Käuzchen?" fragte er und musterte mich. „Spence, du vertraust mir doch, oder?" Verwirrt sah er mich an und hob eine Augenbraue. Dieser Ort hier war geheim, niemand durfte hiervon wissen, doch ich schleppte meine Familie hier an. „Käuzchen, was hast du angestellt?" hakte er nach. „Lässt du meine Familie kurz durch?" fragte ich und so weiteten sich seine Augen. „Du hast deine Familie hier?" Er griff nach meinem Oberarm, sah sich leicht panisch um und zog mich ein Stück zurück gegen die Wand.

„Calithea, du weißt genau, dass das nicht geht! Und..." begann er, doch ich unterbrach ihn. „Spence, wir mussten flüchten! Gib mir einen separaten Raum, wo ich sie kurz unterbringen kann. Ich wollte das doch auch nicht, aber..." sprach ich und senkte nun den Blick. „Die Rosiers." murmelte Spence und so nickte ich, wenn auch Zathrian eigentlich ein Natley war. „Du stehst in meiner Schuld!" meinte der große Zauberer und ließ mich los. „Danke, Spence! Danke!" sprach ich, hauchte ihm dankbar einen Kuss auf die Wange und lief auf die Tür zu, hinter der Samael mit meiner Familie stand. Mit großen, fragenden Augen löcherten mich alle vier und suchten nach irgendeinem Hinweis darauf, wo wir waren.

„Wir dürfen bleiben!" erklärte ich und führte sie hinter Spence in ein kleines Wohnzimmer. Er blieb an der Tür stehen und seufzte. „Pass bloß auf, dass Molja nichts merkt!" meinte er noch mit seinem französischen Akzent, bevor er die Tür hinter sich schloss und uns allein ließ. „Wer war das, woher kennst du ihn und wo sind wir hier?" fragte mein Vater gleich darauf los. Ich deutete auf die Couch und so setzten sie sich hin und warteten gespannt auf Antworten. Während meine Eltern mich jedoch höchst unzufrieden ansahen, konnte ich Samaels Gesicht nicht lesen. Er verzog seine eiserne Miene nur kaum und ich wusste, es gefiel ihm auch kein Stück weit.

"Das war ein alter Kumpel von mir, Spence. Ich kenne ihn, seit ich dreizehn bin und wo genau wir sind, darf ich nicht sagen!" erklärte ich und hoffe inständig, dass sie es darauf beruhen lassen würden, doch so kam es natürlich nicht. Mein Vater hob eine Augenbraue und so seufzte ich. "Frankreich." fügte ich meiner kurzen Erklärung hinzu, woraufhin er nur den Kopf auf die Brust fallen ließ und meine Mutter aufstand und durch das Zimmer lief. "Er kann Okklumentik, aber das hat er sicher nicht allein gelernt!" meinte Samael nun, der noch immer kaum eine Miene zog. "Ich habe es ihm beigebracht, aber das ist jetzt auch völlig egal!" sprach ich. "Aber dir ist ja alles egal! Angefangen mit dem Fluch!"

Er wollte etwas sagen, doch dann schüttelte er nur den Kopf und verschränkte die Arme. "Was denn für ein Fluch?" fragte meine Mutter irritiert. "Lasst euch von niemandem sehen, höchstens Spence." meinte ich und drehte mich zur Tür um. "Moment, junge Dame! Wo willst du hin?" hielt mich mein Vater auf und so sah ich zu Selmar, der bis jetzt noch keinen einzigen Ton gesagt hatte. "Ich muss einfach mal raus!" sprach ich und lief hinaus. "Cal! Du bleibst hier!" hörte ich meine Mutter noch, doch da rannen mir schon die Tränen über die Pfoten. Ich bahnte mir einen Weg durch das Haus und fiel beinahe noch die Treppen herunter. Es dauerte nicht allzu lang, da saß ich schon am Seineufer und zog meine Beine an meine Brust. Ich ließ meinen Tränen freien Lauf, was leider in letzter Zeit öfter passierte.

Ich hatte mich mit Samael vor meiner Mutter gestritten und obwohl sie nichts Genaues mitbekommen hatte, wusste sie innerlich, dass zwischen uns etwas lag, was uns ganz und gar nicht gut bekam. Ich wollte in den Bücherregalen meiner Großtante Nerba nach einem Gegenzauber suchen, doch Samael meinte, dass er lieber mit dem Fluch leben oder sterben würde, als dass ich solch einen Gegenzauber für ihn sprechen würde. Samael wollte es selbst tun, doch die Wahrscheinlichkeit seines Todes stieg dadurch enorm. Natürlich hatten wir die einfachste Möglichkeit auch in Betracht gezogen, doch Ethan würde Samael nie freiwillig seinen Fluch erlassen. Ich überlegte hin und her, war wütend auf ihn und gleichzeitig so wahnsinnig enttäuscht, dass er mich einerseits so unterschätzte und andererseits so angeschrien hatte.

Irgendwann musste ich wohl eingeschlafen sein, denn als mich zwei französische Polizisten bemerkten, war die Sonne schon untergegangen. Ich sah sie kurz verwirrt an, entschuldigte mich dann jedoch und machte mich auf den Weg zurück. Ich hatte gerade die große Wohnung betreten, da hörte ich Molja. „Was steht drinnen?" fragte er und so kam ich der Tür näher und lauschte. „Natley hat irgendwie ihre Verbindung zu uns herausgefunden und droht uns jetzt." Spence. „Er fordert eine Auslieferung, wenn sie hier ist, und eine Fluchtmöglichkeit, sie wissen zurzeit anscheinend nicht recht, wohin." Mich wunderte es, dass die beiden nicht französisch sprachen, doch dann erklang eine weitere Stimme und ich wusste es.

„Natürlich wissen sie es nicht! Die beiden sind auf der Flucht, du Idiot!" fuhr die junge Frau Spence an. Ich musste mich zusammenreißen, nicht in diesen Raum zu stürmen und ihr den Kopf gegen eine Wand zu schlagen. Meine Hand war zur Faust geballt und mein Atem ging schnell. Wie konnte sie es nur wagen? Dass Molja auf Rosiers Seite stand, war klar, und Spence machte nur mit, weil er sonst alles verlieren würde, aber sie? Das konnte nicht wahr sein! Sie sprach ein weiteres Mal und gab Anweisungen, was mir keinen Zweifel an ihr ließ, obwohl ich die Blondine nur als unschuldiges, kleines Mädchen kannte.

Eine Berührung am Oberarm ließ mich zusammenfahren. Es war eine ältere Dame mit grauem Haar. Fragend musterte ich sie, doch dann schüttelte sie auch schon den Kopf und deutete auf die Tür mit dem Verschwindekabinett. Ich nickte und schlich mich den Flur entlang, wieder in mein Zimmer, wo ich direkt von meiner Mutter empfangen wurde. „Verbrenn ihn!" befahl sie, weshalb ich nur seufzend ihrem Befehl nachkommen konnte. Der große Schrank brannte bis aufs letzte bisschen nieder und so verließ sie ohne ein weiteres Wort mein Zimmer. Ich lief ins Bad und wusch mich, duschte lange, dachte nach und kam doch zu keinem Ergebnis.

Meine Eltern saßen beide auf der Couch, den Rücken zu mir. Es war zu verlockend, ein Teil meiner Probleme wäre mit einem Zauber weg, nur ein Zauber. Ich wusste, ich war stärker, als sie, das hatte ich schon früh herausgefunden, doch beide gleichzeitig? Noch einen Moment zögerte ich, bevor ich meinen Zauberstab erhob. „Amnesia!" sprach ich leise und schon hatte ich ihre Erinnerungen an Frankreich gelöscht, an Spence und das Haus. Es tat mir im Herzen weh, aber es war besser für sie. Für sie und für mich. „Thea?" erklang Selmars fragende Stimme, doch als ich mich umdrehte, sah ich einen Hauch an Angst.

Ich erhob auch gegen ihn den Zauberstab und so lief mir eine Träne über die Wange. Mein Bruder war mein Heiligtum, ich erzählte ihm alles, vertraute ihm mein Leben an, doch jetzt löschte ich seine Erinnerungen teilweise aus. Auch er wehrte sich, keine Frage, doch auch bei ihm war der Zauber schnell getan. Mit leerem Blick sah er mich an. Ich verdrückte mir weitere Tränen und lief nach oben. Molja würde mich umbringen, wenn er wüsste, dass meine Eltern in seinem Haus waren. Allerdings hatte ich ein größeres Problem, denn die Frau, die mit ihm und Spence geredet hatte, kannte ich leider aus der Schule.

Langsam näherte sich Samael mir. Ich hatte mir mit meinem Lieblingszauber eine relativ große Parkanlage in meinem Zimmer geschaffen und saß schweigend am Ufer eines kleinen Sees. Ich seufzte und wollte mich gerade zu ihm umdrehen, als er sich hinter mich setzte und mich in seinen Schoß zog. Etwas überfordert hatte ich meine Arme gehoben und sah fragend an mir herunter, da er seine Arme um meine Taille geschlungen hatte. Er merkte es und schmunzelte. Schnell hatte er meine Hände eingesammelt und umarmte mich, sodass meine Arme vor mir verkreuzt waren. Sein Kinn legte er auf meiner Schulter ab und seufzte glücklich.

Nach und nach entspannte ich mich und gab mich ihm und seiner wunderschönen Umarmung hin. Wir sagten kein Wort und genossen einfach die Zweisamkeit und Wärme, die uns umhüllte. Ich ahnte, dass es einen Grund gab, warum Samael zu mir kam, doch das war mir gerade egal. Die Sonne ging allmählich unter und ich kuschelte mich immer weiter an seine starke Brust. Es war nicht umsonst mein Lieblingszauber, ich konnte selbst entscheiden, wie sich die Umwelt veränderte. Ich zog langsam meinen Zauberstab aus meiner Tasche und schon sprangen auf der anderen Uferseite zwei kleine Hirsche herum. Samael schmunzelte fröhlich und strich mir über das Haar.

„Cal, das ist wunderschön!" murmelte er und drückte mir einen Kuss auf den Hals. Ich schmunzelte und verschränkte unsere Finger, zog kleine Kreise auf seinem Handrücken. Seufzend sah ich in den Sonnenuntergang und dachte dabei an meine Eltern und Selmar, deren Erinnerungen ich verändert hatte. „Darf ich?" fragte Samael und hob unsere Hände. Ich spürte seine dünne, sanfte und warme Magie und ließ meine kleine Barriere fallen. Er drang in meinen Kopf ein und ich wehrte mich nicht, versperrte nur die ein oder andere Erinnerung. Seine Magie durchfloss mich und ich merkte, wie er zwar nach dem suchte, was gestern geschah, doch er streckte seine Fühler auch etwas weiter aus.

„Du hast deine Eltern vergessen lassen, was geschehen ist?" fragte er und zog die eleganten Fäden seiner Magie zurück. Ich rutschte von seinem Schoß und setzte mich neben ihn, sodass wir einander in die Augen sehen konnten. „Samael, ich..." begann ich, obwohl ich nicht den blassesten Schimmer hatte, was ich ihm sagen sollte. Mein Blick wanderte zu dem weichen Gras, auf dem wir saßen, und so überlegte ich und spielte mit meinen Fingern. „Schon gut, komm her!" meinte er und zog mich wieder zu sich heran. Ich umschlang seinen Körper mit meinen Beinen und drückte mich an ihn. "Eigentlich müsste ich dich auch vergessen lassen." murmelte ich und setzte mich wieder auf. "Erzähl mir von deinen französischen Freunden!"

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