3.2
Als die beiden sich wieder zu den anderen an den Tisch setzten, entging Jessie Annahs fragender Blick in Bens Richtung nicht. Sie hatte ihm anscheinend einen klaren Auftrag erteilt. Ihr gemeinsamer Freund nickte ihr nur dezent zu und sofort entspannten sich Annahs Gesichtszüge wieder. Jessie fühlte sich irgendwie ein wenig hintergangen, aber gleichzeitig verstand sie die Sorge ihrer Schwester auch. Würde sie denn anders handeln? Wahrscheinlich nicht. Auch sie würde auf einen Arztbesuch bestehen, und zumindest hatte Annah ihren langjährigen Kollegen um Hilfe gebeten. Auch wenn die Wahl wahrscheinlich nicht ganz grundlos auf Ben gefallen war, bestimmt erhoffte sie sich Informationen, welche ein anderer Arzt ihr wohl nicht geben würde. Doch auch Ben konnte stur sein und Jessie vertraute ihm. Annah musste wohl oder übel einsehen, dass er dichthalten würde.
Für den Rest des Abends versuchte sie jedoch, dieses Thema zu vergessen und in die Diskussionen der anderen einzutauchen. Jane war ebenfalls da, zusammen mit einer anderen guten Freundin der beiden Zwillinge, Miamy.
„Jessie, hast du mitbekommen, dass sich im zweiten Jahr des Studiengangs für Philosophie ein neuer Student angemeldet hat? Er zieht nächste Woche hierher", berichtete Miamy nun aufgeregt. Sie studierte selbst Philosophie und war daher informiert. Dieser Studiengang war vom Aussterben bedroht, was Jessie nicht ganz verstehen konnte. Sie hatte sich selbst überlegt, dieses Fach zu studieren und liebte es, über philosophische Themen zu diskutieren, besonders mit Miamy. Ihre Freundin gehörte zu einer stolzen Minderheit der Universität. Neuanmeldungen während dieses Studiums waren beinahe eine Sensation, während Abmeldungen fast schon zum Alltag gehörten. In dieser hochmodernisierten Welt wollte keiner mehr einen Studiengang belegen, in welchem man lernte, zu diskutieren. Man werde nicht auf das Leben in einer Gesellschaft vorbereitet, in der Kommunikation immer weniger wichtig wurde, die Technik hingegen auf dem Vormarsch war und jeglichen Tätigkeiten, welche kein ausgeprägtes Sozialverhalten verlangten, den Kampf ansagte. Mit diesen Vorurteilen hatte man jedenfalls zu kämpfen, wenn man sich entschloss, gegen alle Widerstände Philosophie zu studieren.
„Und dann auch noch ein Junge, nicht schlecht!", entgegnete Jessie ein wenig spöttisch, um Miamy zu necken.
„Ach, komm, darum geht es doch nicht. Eine Neuanmeldung, das ist doch viel wichtiger! Egal ob Mann oder Frau. Du weißt, dass wir ums Überleben kämpfen müssen", gab diese etwas gereizt zurück. Aber Jessie wusste, dass sie es ihr nicht wirklich übel nahm. Sie lebte für die Philosophie, hatte sich jedoch daran gewöhnt, dass andere sie manchmal nicht ganz ernst nehmen konnten. Genauso war ihr aber auch bewusst, dass Jessie nicht zu diesen Menschen gehörte.
„Ich weiß, ich weiß. Das ist echt eine tolle Neuigkeit." Jessie lächelte versöhnlich.
„Ich bringe ihn dann mal zu unserer Runde mit. Sicher wird er sich hier auch wohl fühlen!" Miamys Stimme war voller Enthusiasmus und Vorfreude, und irgendwie ließ sich Jessie davon anstecken. Bald war das Gespräch von vorhin im Gefecht hitziger Diskussionen vergessen.
Es wurde spät und schließlich brachte Ben die beiden Schwestern nach Hause.
„Annah?", fragte Jessie, als sie im Badezimmer vor dem Spiegel standen.
„Ja, Jess. Was ist los?"
„Warum sprichst du nicht zuerst mit mir, bevor du Ben bittest, mich zu einem Krankenhausbesuch zu nötigen?" Auch wenn sie auf relativ engem Raum miteinander zusammenleben mussten, hatten sie sich im Erdgeschoss eines riesigen Wohnblocks ein eigenes kleines Paradies errichtet. Die Beiden liebten ihr Zuhause, dies hatten sie schon nach kürzester Zeit getan.
„Was soll ich denn tun? Als hättest du auf mich gehört! Du sagst mir ja nicht einmal, dass es dir nicht gut geht. Im Gegenteil, du versuchst es vor mir zu verstecken ..."
„Was ja anscheinend nicht geklappt hat", fiel Jessie ihrer Schwester ins Wort.
„Ich bin Medizinstudentin, natürlich sind mir deine Beschwerden aufgefallen. Außerdem kenne ich dich als deine Zwillingsschwester besser als jeder andere. Du kannst mir nichts vormachen!"
„Ich wollte doch nur verhindern, dass du dir Sorgen machst", verteidigte sie sich.
„Na und? Was, wenn es etwas Ernstes ist, das man behandeln muss? Und ich mache mir mehr Sorgen, wenn du versuchst, aus deiner Gesundheit ein Geheimnis zu machen, als wenn du offen mit mir darüber redest und wir das gemeinsam anschauen können. Dieser Krankenhausbesuch dient lediglich dazu, uns Klarheit zu verschaffen, was mit dir los ist. Kann ja sein, dass es nur etwas Kleines ist, was man vielleicht nicht einmal behandeln muss – aber ich will endlich Fakten!", antwortete Annah etwas gereizt.
„Morgen werde ich mit Ben einen Termin vereinbaren, versprochen", sagte Jessie. „Ich will ja selbst Fakten, statt hier weiterhin herumzurätseln."
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