3.1

Und plötzlich war das alles größer, größer, als ich es mir je gedacht hätte.

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Die nächsten Wochen liefen immer ähnlich ab. Jessie ging ihren Pflichten nach, fühlte sich zwar immer noch nicht zu hundert Prozent fit, konnte dies jedoch mit etwas mehr Schlaf gut kontrollieren und ausgleichen. Die Schwindelanfälle traten gelegentlich, aber nicht sehr oft auf, und sie entschuldigte ihren Zustand nun nicht mehr mit dem Arztbesuch, sondern mit ihrem recht stressigen Alltag. Vor Annah konnte sie die leichten Beschwerden relativ gut verstecken, was eine große Erleichterung war.

Heute war Einführungstag der neuen Studenten und sie hatte sich gemeldet, den Neulingen den Uni-Alltag etwas näher zu bringen.

„Wie werde ich mich auf diesem riesigen Campus nur zurechtfinden?"

Jessie musste lachen, als sie die verzweifelte Aussage einer Studentin vernahm. Es war ihr an ihrem ersten Tag nicht anders ergangen, doch glücklicherweise hatte sie schon einige Vorkenntnisse durch ihre Schwester gehabt, welche das Studium etwas früher als gewöhnlich begonnen hatte. Die Intelligenz war bei der Geburt eben nicht ganz fair verteilt worden, auch wenn Annah und Jessie Zwillinge waren. Doch sie hatte sich dadurch nie minderwertig gefühlt, schließlich hatte auch sie es an die Uni geschafft, halt eben nur in der regulären Zeit. Annah konnte ihr hochfunktionelles Gehirn ruhig behalten, schließlich half sie damit Menschen.

„Es ist nicht annähernd so kompliziert, wie du denkst. Vertraue mir", sagte Jessie lächelnd zu der Studentin. Andere Menschen zu unterstützen bereitete ihr Freude, aus diesem Grund hatte sie auch den Studiengang psychiatrische Medizin gewählt.

Etwas später am Abend wurde Jessie dann aber doch wieder mit ihrem Gesundheitszustand konfrontiert. Annah und sie trafen sich mit Studienkollegen im Stammcafé der beiden. Dieser Ort war eine kleine Oase im hektischen Treiben der Stadt und die beiden Schwestern hätten ihn um nichts in der Welt hergegeben.

Das Personal kannte jeden der Gruppe und wenn es gerade etwas ruhiger war, setzten sie sich manchmal sogar dazu und quatschten mit. Es fühlte sich oft wie eine kleine Familie an, in der immer sehr viel gelacht wurde. Man erzählte sich gegenseitig von den Vorlesungen, lästerte über nervige Dozenten und philosophierte über medizinische und psychologische Fragen.

Wie immer genoss Jessie den Abend sehr, brauchte jedoch nach einiger Zeit eine kurze Pause und entschuldigte sich bei den anderen. Sie müsse auf die Toilette. Lange hielt sie es dort nicht aus, gleichzeitig wollte sie aber auch noch nicht zurück. So ging sie nach draußen, um sich dort kurz die Beine zu vertreten.

Plötzlich trat jemand hinter sie. „Was ist los mit dir, Jess?" Die Frage kam von einem ihrer besten Freunde aus Kindheitstagen, Bennet Johnson, doch er wurde eigentlich von allen Ben genannt. So, wie sie von vielen Jess genannt wurde, obwohl ihr voller Name eigentlich Jessie war.

„Es ist alles in Ordnung, Ben. Ich weiß nicht, was du meinst."

„Ach, komm. Ich kenne dich doch. Du bist so ruhig, das passt überhaupt nicht zu dir. Außerdem funktioniert dein Vorhaben, Annah in Sicherheit zu wiegen, nicht wirklich. Sie macht sich ebenfalls Sorgen und hat mich gebeten, mit dir zu sprechen. Ich soll deinen Stolz brechen und dich dazu bewegen, im Gesundheitszentrum vorbeizuschauen, damit ich eine Untersuchung durchführen kann."

Mehrmals versuchte Jessie, Bens Ausführungen zu unterbrechen, doch Widerspruch war zwecklos, das wusste sie. Er war einige Jahre älter als sie und hatte das Medizinstudium bereits abgeschlossen. Zurzeit war er daran, seine Assistenzzeit hinter sich zu bringen, konnte jedoch schon eigenständig Patienten behandeln. Und noch viel größer als sein medizinisches Wissen war seine Sturheit, wenn er sich erst einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte.

„Und? Wann hast du Zeit?" Er ließ nicht locker.

„Das ist doch sicher nur eine kleine Verstimmung. Warum machen alle so ein Drama darum?", versuchte Jessie ein letztes Mal, sich zu wehren.

„Bei jedem anderen würde ich diese Aussage akzeptieren, aber aus deinem Mund hört sie sich einfach falsch an. Wer treibt praktisch täglich Sport, ernährt sich gesund und wessen Arztbesuche lassen sich an einer Hand abzählen? Eine grundlose Verstimmung passt nicht zu dir, das musst du doch auch einsehen. Besonders nicht über mehrere Wochen hinweg", erwiderte Ben entschieden.

„Okay, ist ja gut. Ich schaue im Krankenhaus vorbei. Aber du sprichst nicht mit meiner Schwester über die Konsultation bei dir, verstanden?", befahl sie.

„Es wird schwierig, weil sie mich mit Fragen löchern wird. Aber du weißt ja, Schweigepflicht! Außerdem bin ich mit euch beiden befreundet und werde deshalb beiden einen Gefallen tun. Ich habe dich überredet ins Gesundheitszentrum, den Schlimmsten aller Orte für dich, zu kommen, und im Gegenzug komme ich dir entgegen und behalte die Befunde für mich. Ein fairer Kompromiss, würde ich sagen", beruhigte er sie mit seiner gewohnt lockeren Art.

Jessie kannte ihre Schwester und wusste, dass Ben mit diesem Versprechen ein großes Opfer erbrachte. Niemand war so stur wie Annah, wenn sie etwas unbedingt wissen –wollte – erst recht, wenn es um die Gesundheit ihrer Zwillingschwester ging.

„Du merkst also auch, dass es dir nicht gut geht. Ein klares Indiz dafür, dass ein Arztbesuch nötig ist", folgerte Ben aus ihrer Bitte. Und eigentlich hatte er ja recht. Insgeheim hatte Jessie trotz allem Angst, dass wirklich etwas mit ihr nicht stimmte. Dies war auch der Grund für ihre Verweigerung, sich untersuchen zu lassen. Momentan fühlte sie sich ständig unwohl, was wirklich untypisch war. Was, wenn sie ernsthaft krank war? Seit Jahren war sie nur für ein paar Impfungen beim Arzt gewesen, wie auch bei dem Arztbesuch kürzlich, oder sie hatte eine kleine Erkältung, was aber wirklich selten vorkam. Diese Beschwerden, welche sie momentan plagten, waren jedoch anders, irgendwie fremd, und das machte ihr Angst.

„Komm, wir gehen wieder rein und setzen uns zu den anderen, okay? Ich werde dich morgen kontaktieren und einen Terminvorschlag machen, sobald ich bei der Arbeit bin und Zugriff auf meine Termine habe. Aber bitte mach dich nicht verrückt, okay?"

„Ich versuche es." Ihre Antwort hörte sich nicht halb so unbesorgt an, wie sie es beabsichtigt hatte.


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