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Und wie leicht es doch ist, so zu tun, als ob... als ob man die Person ist, die die anderen in einem sehen.
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Das Klingeln ihres Weckers riss Jessie aus einem unruhigen Schlaf – wenn man denn von Schlaf sprechen konnte. Eigentlich hatten ihre Gedanken an Annah und den Virus sie die ganze Nacht über nicht wirklich schlafen lassen.
Aber nun war Zeit für die Uni und ihre Motivation ließ zu wünschen übrig, doch wie sollte es an einem Montagmorgen auch anders sein. Im Gegensatz zu ihrer Schwester Annah, die den Uni-Alltag liebte und bereits dort war, um eine Vorlesung zu besuchen, lag es mehr in Jessies Natur, draußen zu sein und etwas zu unternehmen. Ihr Lieblingsplatz an der ansonsten hochmodernen Universität war der Park, der zur Anlage gehörte. Fast bereute es Jessie, sich heute mit Annah nicht dort, sondern in der immer hoffnungslos überfüllten Kantine zum Mittagessen verabredet zu haben.
Jessie gab sich einen Ruck und ging ins Bad. Der Roboter hatte ihre Kleidung schon bereitgelegt, da Annah wie immer zwei gleiche Outfits «bestellt» hatte. Mit den Beschreibungen der Aktivitäten konnte man den Roboter etwas manipulieren, denn für die Schule oder Uni spuckte er eigentlich gewöhnliche Alltagskleidung aus. Doch ihre Schwester wusste, wie sie den Tagesablauf beschreiben musste, um ein stilvolles Outfit, welches sich ein wenig von den anderen abhob, zu erhalten. Heute war es ein schwarzer Hosenanzug mit einem weißen Blazer. Nicht jeder konnte sich mit dem eleganten Kleidergeschmack von Jessies Schwester anfreunden, doch sie selbst mochte Sportlichkeit und Eleganz gleichermaßen.
Bereit für die Uni ging sie in die Küche. Sie fühlte sich ungewöhnlich schlapp und ihr war schlecht. Was war nur mit ihr los? Dieser Arztbesuch konnte doch nicht solche Beschwerden mit sich ziehen. Vielleicht hatte sie aber auch nur eine harmlose Grippe. Gegenüber ihrer Schwester würde sie sich jedenfalls nichts anmerken lassen, geschweige denn sie darauf ansprechen. Annah würde sich nur unnötig Sorgen machen. So schlimm war es schließlich auch wieder nicht, die Symptome beeinträchtigten sie in ihrem Alltag nicht wirklich und würden sicher schon bald wieder der Vergangenheit angehören.
Jessie zwang sich, etwas Kleines zu essen, und machte sich anschließend auf den Weg. Mit der Magnetschwebebahn, deren Haltestelle nur etwa zweihundert Meter von ihrer und Annahs Wohnung entfernt war, fuhr sie zur Uni. Diese Bahnen transportierten Passagiere mit Spitzengeschwindigkeiten von A nach B, was auch nötig war. Denn entweder machte man mit 17 den Führerschein für ein Elektroauto oder man benutzte die öffentlichen Verkehrsmittel, anders gab es keinen Weg von einem Ort zum anderen. Und obwohl sie schon vor einem Jahr die Prüfung hätte machen können, hatte Jessie keine Lust darauf, sich jeden Morgen durch diesen wahnsinnigen Verkehr zu kämpfen und ließ sich lieber durch die Gegend kutschieren.
Annah hingegen hatte einen Führerschein, benutzte aber als Ausgleich zu ihrem ansonsten eher inaktiven Leben praktisch immer das Fahrrad, um zur Uni zu gelangen. Sie bezeichnete es als ihre tägliche Sporteinheit, welche die Gesundheit unterstützen sollte. Außerdem sei die Magnetschwebebahn nicht selten völlig überfüllt, wie sie sich immer beklagte.
Jessie sah das anders. Sie mochte die Fahrten mit den öffentlichen Verkehrsmitteln, denn so traf man auf viel mehr bekannte Gesichter und hatte die Möglichkeit, sich zu unterhalten. Heute war sie jedoch überhaupt nicht in der Stimmung, sie fühlt sich immer noch recht schlapp.
Nachdem Jessie die morgendlichen Vorlesungen hinter sich gebracht hatte, machte sie sich auf den Weg zum Hauptgebäude des Campus und setzte sich dort auf die Treppe. Die zwei Schwestern trafen sich immer dort.
„Hallo Jess! Wie war dein Morgen?", ertönte plötzlich Annahs Stimme hinter ihr.
„Gut und deiner?"
„Super, meine Lieblingsdozentin hat referiert und es war so unglaublich spannend!" Voller Begeisterung erzählte ihre Schwester von der Vorlesung, während Jessie versuchte, ihre Freude zu teilen und ihr an den richtigen Stellen beizupflichten. Doch plötzlich stoppten Annahs Erzählungen: „Du, sag mal, hörst du mir überhaupt richtig zu?"
„Ja, ja, ich bin einfach nur etwas müde", antwortete Jessie schnell.
„Dieser Arztbesuch hat dich ja völlig aus der Bahn geworfen. Wenn denn wirklich die Konsultation für deine Müdigkeit verantwortlich ist. Hoffentlich wirst du nicht ernsthaft krank."
„Nein, keine Angst, das ist sicher nur eine kleine Verstimmung. Das geht bald wieder vorbei."
„Hoffentlich, sonst muss ich mein medizinisches Fachwissen an dir testen." Wie immer versuchte Annah, ihre Sorge mit Sprüchen und einem gekünstelten Lächeln zu überspielen, aber Jessie kaufte es ihr nicht ab. Um dieses Thema schnell wieder zu beenden, erzählte sie von ihrem eigenen Morgen. Davon, dass ein Studienkollege nicht aufhörte, sie anzubaggern und sich jede Vorlesung neben sie setzte, vom Dozenten, der sich über das mangelnde Interesse einiger Studenten aufgeregt hatte, und eine Menge anderer belangloser Dinge, Hauptsache, das leidige Thema war vom Tisch. Jessies Ablenkungsmanöver funktionierte sogar, und die restliche Mittagspause lang war ihr verändertes Verhalten kein Thema mehr.
„Ich habe gestern übrigens noch mit Mum und Dad telefoniert. Sie haben sich am anderen Ende der Welt gut eingelebt. Aber wie du dir sicher vorstellen kannst, vermissen sie uns schrecklich und Mum hat sich über die Zeitverschiebung beschwert. Ich soll dich von ihnen grüßen, aber das nächste Mal wollen sie auch mit dir sprechen", informierte Annah sie schließlich über das gestrige Telefonat mit ihren Eltern, bevor die Nachmittagsvorlesungen begannen und sie sich wieder verabschieden mussten.
„Wollen sie noch nicht zurückkommen, um nachzuschauen, ob wir auch wirklich klarkommen so ganz alleine?" Jessie lachte.
„Nein, aber sie werden sich vermutlich ziemlich oft melden, anfangs jedenfalls."
Da hatte ihre Schwester wohl recht. Wenn sie schon nur an die ewigen Diskussionen im Vorfeld dachte! Ihre Eltern hatten es sich alles andere als leicht gemacht, auszuwandern. Aber es war schon immer ihr Traum gewesen und Jessie war überzeugt, dass sie glücklich waren in ihrer neuen Heimat. Aufopfernd hatten sich ihr Vater und ihre Mutter um ihr Geschäft gekümmert und dabei die Kinder nie vergessen. Jessie dachte gerne an ihre Kindheit zurück, doch nun hatte ein neuer Lebensabschnitt begonnen. Annah und sie mussten nun auf ihren eigenen Beinen stehen, auch wenn sie immer noch finanzielle Unterstützung von ihren Eltern erhielten. Aber neue Herausforderungen machten Jessie keine Angst, im Gegenteil, sie liebte es, Erfahrungen sammeln zu können.
„Wie lange bleibst du heute hier?", wollte Jessie von ihrer Schwester wissen.
„Wahrscheinlich werde ich hier bis am Abend beschäftigt sein, denn in dieser Woche ist der Montag mein längster Tag. Du bist um drei Uhr fertig, oder?"
„Ja, ich werde wohl sofort nach Hause gehen."
Annah und Jessie hatten keinen regelmäßigen Stundenplan, so wie jeder Medizinstudent, egal, in welcher Fachrichtung. Dies war ein großer Nachteil, denn sie konnten nichts planen und waren auf den Erhalt des Stundenplans angewiesen.
„Also, bis heute Abend. Leg dich am besten etwas hin, wenn du nach Hause kommst, okay?", verabschiedete sich Annah.
„Werde ich machen, versprochen", versicherte ihr Jessie. Sie musste grinsen, als sie sich auf den Weg zur Fakultät für Psychiatrie begab. Ihre Mutter brauchte sich überhaupt keine Sorgen zu machen, schließlich hatte sie einen ebenso fürsorglichen Ersatz. Doch diese Geborgenheit und Sicherheit, welche Jessies Schwester sie immer wieder spüren ließ, taten auch gut.
Vier Stunden später konnte Jessie endlich die Haustüre zur Wohnung öffnen, bequeme Kleidung anziehen und sich etwas hinlegen. Danach fühlte sie sich wieder viel besser, erledigte Aufgaben, welche die letzten Tage etwas liegen geblieben waren, und schließlich kam auch Annah nach Hause. Während Jessie sich hinter den Herd stellte, erledigte ihre Schwester Hausarbeiten, und nach dem Essen quatschten sie noch ein wenig. Man hatte den Stein, welcher Annah vom Herzen gefallen war, fast hören können, als sie merkte, dass ihre Schwester sich wieder fast wie immer benahm. Nach einem anstrengenden Tag konnten sich die zwei Schwestern dann aber doch noch beruhigt ins Bett fallen lassen.
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