So nah und doch so fern
Es ist laut, als der Zug einfährt. Durch die U-Bahntunnel ist es noch lauter, als es eigentlich wäre, wenn der Zug draußen führe. Quietschend bleibt der Zug stehen und die Türen gleiten auf. Menschen strömen zu mir auf den Bahnsteig. Eine Frau schiebt einen Kinderwagen vor sich her, während sie telefoniert. Ein Mann im Anzug und mit Aktentasche rempelt mich an. Eine Gruppe von Rucksacktouristen unterhält sich aufgeregt in einer fremden Sprache. Alle gehen an mir vorbei, aber ich beachte sie kaum. Mit den Augen suche ich die Menge vor mir ab, nach dem vertrauten Gesicht, wegen dem ich hier bin. Ein blonder Kopf schiebt sich in meine Richtung, läuft dann aber an mir vorbei. Verwirrt drehe ich mich nach ihm um, doch er gehört nicht zu der Person, die ich suche. Sie ist nicht hier, denke ich, als die Leute, die an mir vorbei hasten, weniger werden. Ich atme aus und meine Schultern sinken nach unten. Sie ist nicht gekommen. Neben mir fährt der Zug ab. Ein letztes Mal drehe ich mich noch zu dem nun leeren Bahnsteig um und stutze. Da steht sie. Sie sieht anders aus. Jetzt ist ihr Haar strahlend weiß. Sie muss es gefärbt haben, denn sie ist nur wenige Jahre älter als ich und damit für weiße Haare eigentlich noch zu jung. Auch ihre Haut hat sich verändert. Sie ist heller geworden. Aber ihre Augen sind dieselben wie damals. Immer noch so strahlend blau, mit dem hellen Kranz um die Pupille. Alles vor mir ist hell. Der Bahnsteig, das Mädchen vor mir, ihre Kleidung. Bis auf die Rolltreppen und ein paar Züge, die in entfernteren Tunneln fahren, ist es vollständig still. Sie steht einfach nur da. Auf ihrem Gesicht ist kein einziges Gefühl. Kein Lächeln. Es ist, als würde sie mich nicht erkennen. Aber sie muss mich erkannt haben, warum würde sie sonst noch hier stehen und mich ansehen. Ich habe sie so vermisst, möchte sie in den Arm nehmen, sie steht schließlich kaum drei Meter von mir entfernt. Mit drei großen Schritten wäre ich bei ihr. Doch die Abwesenheit in ihrem Blick lässt mich innehalten. Plötzlich ist es, als wären aus drei Metern drei Kilometer geworden. Sie ist so weit weg. Ihr blick durchbohrt mich und doch scheint sie mich nicht zu sehen. Träume ich das alles nur? Nein, das kann nicht sein. Sie war so lange weg. Vielleicht ist das Mädchen, dass ich kannte nicht mehr da. Vielleicht ist sie auf ihrer Reise ein anderer Mensch geworden. Vielleicht will sie mich gar nicht sehen und hofft, indem sie mich nicht beachtet, würde ich einfach gehen. So wie ein Hund das Interesse an einem verliert, wenn man nicht mit ihm spielt. Die Vorstellung, dass sie mich nicht sehen will, treibt mir Tränen in die Augen. Nein, ich darf jetzt nicht weinen. Hoffnungsvoll strecke ich ihr die Arme entgegen. Sie reagiert. Jemand, der sie nicht kennt, würde es vielleicht gar nicht merken, aber ich merke es. Ihre Augen verändern sich. Sie sieht mich jetzt direkt an und nicht mehr durch mich hindurch. Was wird sie jetzt tun? Eine Weile stehen wir nur da und sehen uns an. Eine Weile, bei der ich mir nicht sicher bin, ob die drei Kilometer auf vier gewachsen oder auf drei Meter zurück geschrumpft sind. Und dann beginnt im linken Auge des Mädchens etwas zu glitzern. Sie schließt die Augen. Die Träne, die eben nur geglitzert hat, rollt jetzt über ihre Wange. Sanft und kristallklar. Dann heben sich ihre Mundwinkel langsam an. Sie ist glücklich! Auf einmal steht sie wieder nah vor mir. Sie öffnet die Augen, breitet die Arme aus und rennt auf mich zu. Es ist ein unglaubliches Gefühl, als sie mich endlich umarmt. Ich weiß nicht wie lange ich auf diesen Moment gewartet habe, aber jetzt ist er da. „Ich habe dich vermisst", flüstert das Mädchen. „Ich dich auch", murmele ich zurück. Und jetzt ist sie wieder ganz die Alte. Jetzt ist sie wieder meine Schwester.
(2015)
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