B für Busgespräche, Benjamins Verehrer oder Banana-Bandana

Alice kümmerte sich nicht um die anderen Passagiere des Busses und starrte wie gewohnt aus dem Fenster. Es interessierte sie nicht, was die anderen Leute trieben, weil diese anderen Leute auch sie nicht beachteten. Es war ein typischer Montagmorgen, denn all die Menschen, die sich gelangweilt an ihre bakterienverseuchten Haltegriffe klammerten, starrten mit ihrem leeren Blick auf die leuchtenden Bildschirme vor ihrer Nase und vergaßen vollkommen, wo sie sich befanden. Es war ein Wunder, dass sie es überhaupt zur Bushaltestelle geschafft hatten, ohne von einem plötzlich daherrasenden Auto überfahren zu werden. Schade war bloß, dass der Autofahrer vermutlich gar nicht bemerkt hätte, dass eine Person die Straße zu queren versuchte. Schließlich wäre der Fahrer zu sehr von seinem Handy beansprucht. Handy, die Erfindung, die Menschen zu ignoranten Zombies wandelte.

Alice schüttelte den Kopf, da sie selbst es sinnlos fand, stundenlang auf einen Bildschirm zu starren und beobachtete weiterhin ihren ganz privaten Fernseher, die Umwelt. Das war der Grund, weshalb sie auch so normal war. Schließlich war sie keines dieser "Insta-Tumblr-Girls". An einer Station, nur noch ein paar Minuten von ihrem Arbeitsplatz entfernt, stieg ein attraktiver Mann in den Bus. Obgleich er vielleicht ungefähr in ihrem Alter sein mochte, hielt er kein Handy in seiner Hand und hatte die Umgebung fest im Blick. Das war der Grund dafür, dass Alice sofort den Platz neben ihrem von dem Stapel roter Hefte befreite und hoffte, dass der Fisch den Köder finden würde. Ein kurz von seinem Smartphone aufsehender Herr versuchte den Sitzplatz, einen der wenigen, zu ergattern. "Dieser Platz ist nicht für gehirnlose Zombies. Außerdem tut Ihnen das Stehen bestimmt gut. Ich kann Ihnen sagen, man verbrennt so mehr Fett als durch das Sitzen", zischte die Frau, die definitiv wusste, was sie wollte. Sie wollte genau diesen Mann, der sich nun langsam durch die stehende Menge zum freien Platz hin kämpfte, neben sich. Nach dem Prinzip "mein rechter, rechter Platz ist leer".

"Setzen Sie sich ruhig", bot Alice dem Mann an und hoffte, dass er keine Freundin hatte. Die Tatsache, im Moment noch selbst vergeben zu sein, blendete sie wenigstens für die Minuten aus, in denen sie den Brünetten beobachten konnte. Dieser antwortete mit leichtem Akzent: "Ich danke Ihnen. Auch dafür, den Platz gegen einen der Zombies verteidigt haben, denen sie wohl offensichtlich nicht angehören." Fast hätte sie geantwortet, aber bloß, weil sie es nicht leisten könne, doch der Fremde musste nicht alles aus ihrem Leben zu hören bekommen. "Hey, so nenne ich sie auch immer!", rief Alice stattdessen enthusiastisch. Woraufhin der Unbekannte erwiderte: "Ja, mein Affe tut das auch." Alice nickte bevor sie entgeistert fragte: "Du hast einen Affen? So zuhause herumsitzen oder wie?" Der Andere antwortete lachend: "So ungefähr. Aber ein ganz anderes Thema: schau dir den Typ dort vorne an. Der sieht aus als würde er regelmäßig ins Fitnessstudio gehen." In Alice' Kopf schrillen die Alarmglocken. Das war also die Seite an ihm, die sie dazu bringen würde, Ben auch in Gedanken treu zu bleiben. Sie hatte nichts gegen Schwule, doch wollte sie nicht wieder der Grund sein, aus dem er sich outete. Das hatte sie schon einmal mitmachen müssen. Dylan, mit dem sie in der achten Klasse ein Verhältnis gehabt hatte, schickte immer noch jährlich eine Weihnachtskarte an die Adresse ihrer Eltern.
Doch zurück zu einem anderen Thema. Welcher Mensch hatte schon einen Affen in seiner Obhut? Entsprach das überhaupt den hier geltenden Gesetzen? Vermutlich nicht. Und wieso bloß mussten die heißesten Männer immer schwul sein?

Alice hüllte sich in deprimiertes Schweigen, um ihre zu oft getragene Kleidung zu verstecken, und bedauerte, dass sie überhaupt ein paar Minuten bedeutungslosen Flirtens erwartet hatte. "Apropos: der Muskel-Mann starrt dich die ganze Zeit über an. Der findet dich wohl anziehend", flüsterte der Mann, dessen Name sie nun auch nicht mehr interessierte, verschwörerisch. Während sie noch bewunderte, dass Schwule immer so aufmerksam waren, sah sie in den vorderen Bereich des Busses und traute ihren Augen kaum. Zu allem Überfluss reichte ihr Nachbar ihr nun auch noch ein Taschentuch auf dem seine Nummer verzeichnet war. Dazu verlautbarte er die bezirzenden Worte: "Ich wäre ein Idiot, würde ich so eine interessante Frau ohne Aussicht auf ein weiteres Treffen gehen lassen. Rufen Sie mich an, sollten sie sich alleine fühlen." Ich kann keine Eigenschaft an Alice nennen, die sie interessant wirken lassen soll. Besonders attraktiv war sie zu meinem Leidwesen auch nicht. Ja, aber was weiß ich schon über Frauen.
Der - laut Beschreibung des Fremden - muskulöse Mann war indessen näher gekommen, sodass er die schmeichelnden Worte vermutlich mitbekommen hatte. Nun war die gerade eben noch vergebene Frau offiziell alleinstehend, konnte also ruhigen Gewissens die Unterhaltung mit dem hübschen Kerlchen neben ihr genießen.

"Leider ich kann nicht weiterhin unserem sehr unterhaltsamen Gespräch nachgehen. Hier muss ich aussteigen", sagte der Namenslose vorsichtig und sein Gegenüber wusste nicht, ob er dies wortwörtlich oder im übertragenen Sinn zu verstehen gedacht hatte. Er musste ihre Emotionen wohl aus ihrem Gesicht abgelesen haben, oder er hatte wirklich dieselben Gedanken wie sie,  denn kurze Zeit später fügte er hinzu: "Also ich muss hier raus." Verdammte Bewundernswertheit der Schwulen!
Tatsächlich erhob der Mimikninja sich von seinem Platz, den Alice unverzüglich wieder mit ihrem Heftestapel besetzte, und murmelte irgendeinen belanglosen Abschied. Aus Höflichkeit wiederholte sie seine Worte und wandte sich wieder einmal ihrem Fernseher armer Leute, dem Fenster, zu. Bis sie plötzlich von einem unsanften Zeigefinger angestupst wurde. Nein, wir befinden uns in keiner Facebook-Reallife-Show. Hoffentlich nicht. Vorausgesetzt, dass das Leben in Wirklichkeit keine Fernsehshow war, die in einem schmutzigen Straßenbahnfenster gespielt wurde. Oder, dass das Leben kein verrückter Film war. Falls schon möchte ich, verdammt nochmal, unverzüglich den Regisseur dieses Trashfilms sprechen! Anscheinend ist 'Das Leben' nicht unbedingt beliebt bei den unbeteiligten Zuschauern. Genau wie manch andere Dinge, die Alice und Benjamin gelegentlich im Wohnzimmer taten.

Ich spiele weder auf Sex noch auf ihren Drang zum Kiffen an. Was denkst du eigentlich von mir? Nein, ich rede lediglich über Essen. Please, let's not talk about sex, baby! Wer sah gerne Leuten beim Essen zu, ohne selbst etwas zu haben? Das war barbarisch! Deswegen hasste ich Kochsendungen. Und Werbungen.
Apropos Werbung. Der Film namens Leben machte jetzt eine kurze Pause, damit der Regisseur sich mit dem Finanzierenden unterhalten konnte. Die Spezialeffekte waren viel zu wenig ausgearbeitet und immer wenn man glaubte, dass es lief, ging irgendetwas schief. Das war der Nachteil daran, wenn man zu faul war, ein Drehbuch zu schreiben und stattdessen die Schauspieler entscheiden ließ.

Verdammt, ich bin total vom Thema abgekommen. Als Alice sich umdrehte, um von einer der überraschenden Wendungen des Lebens begrüßt zu werden, starrte sie direkt in die wütenden braunen Augen des Idioten, den sie versucht hatte zu ignorieren. "Du hast vor, Benjamin zu betrügen", flüsterte er anklagend.
Jetzt stand der Todesengel ihrer Liebe in Form eines unterbelichteten Teufels vor ihr und wartete auf eine Aufforderung, sich zu setzen, die die stolze Frau unter fast keinen Umständen über die Lippen brächte. Dieser Umstand jedoch ließ sie ihren Stolz vergessen und um Gnade betteln. Denn John war dafür bekannt, alles in den falschen Hals zu bekommen.

"Bitte, komm her! Ich kann das erklären", flehte Alice fast schon mitleidserregend. Unter keinen Umständen wollte sie einen verrückten Drogendealer wütend auf sich machen. Wieso sie dann die Nummer eines fremden Mannes annahm und überhaupt einen Verbrecher in ihr Herz ließ, erschien mir rätselhaft. Schließlich hatte er sich auch beim ersten Treffen nicht als Herr von Klasse gezeigt. Es war fast schon bedauernswert, welch großes Risiko ein Mensch für die Liebe auf seine Schultern nahm, nur, um später an den Lasten zu zerbrechen und zu Boden zu fallen.
In diesem Fall bestand das Risiko aus einer Kugel in ihrem Kopf oder der privaten Fortsetzung des Filmes "Der unglaubliche Hulk". Und, ganz ehrlich, niemand wollte, dass eine Fortsetzung dieses Desasters gedreht wurde.

Die Straßenbahn hielt und in ihrer Verzweiflung vergaß Alice, sich festzuhalten, sodass John sie davor bewahren musste, den Vordersitz zu küssen. Wenigstens etwas, das sie nicht küssen wollte. Sie nickte dankbar und konzentrierte sich wieder auf die Defensive. John nickte, als Aufforderung, die Sache zu erklären.
Die Frau begann nachzudenken. Anscheinend hatte er nur das Taschentuch gesehen, das der Fremde ihr gegeben hatte, und die bezirzenden Worte gehört. Als bekennender Idiot schloss gleich einen Seitensprung aus dieser Belanglosigkeit. Er hatte zwar ihre Blicke gesehen, nicht jedoch, was in ihren Gedanken tobte, weshalb er auch niemanden verurteilen konnte. Alice war ein freier Mensch und konnte Taschentücher annehmen von wem sie Taschentücher haben wollte. Trotzdem ärgerte es sie, dass der beste Freund ihres noch Geliebten ein verdammter Sherlock sein wollte.

"Ich habe nur ein Taschentuch gebraucht. Blöde Erkältung. Außerdem wäre der Mann gar nicht mein Typ gewesen", versuchte sie, sich zu verteidigen. John wirkte nicht überzeugt und zweifelte ihre Aussagen an: "Wieso gehst du arbeiten, wenn du krank bist? Und wieso hat er etwas auf den Fetzen geschrieben? Vielleicht gute Besserung? Wie süß von ihm! Eine letzte Frage: wenn du so eine schlimme Erkältung hast, wieso benutzt du das Taschentuch dann nicht?" Viel zu viele enttarnende Fragen, schoss es Alice durch den Kopf. Sie musste nun die letzte Karte ziehen, das sprichwörtliche Ass im Ärmel hervorholen. Mit zittriger Stimme sprach sie: "Außerdem ist er total schwul. Er hat es bloß noch nicht bemerkt. Hat einen Affen zuhause und hat dich anziehend gefunden. Mich ziehst du auch an, aber nur meine Kleidung vor Ekel." Als sie das Wort schwul erwähnte, wurde das Gesicht ihres Gegenübers um einiges fröhlicher. Und Alice verstand. In einem letzten Versuch, ihre zukünftige Ehe zu retten, schlug sie etwas vor: "Wir könnten uns auf einen Deal einigen. Ich gebe dir seine Nummer und wir beide vergessen, dass ich vielleicht mit ihm ein wenig flirten wollte. Einverstanden?" Seine Augen strahlten förmlich. "Einverstanden", erwiderte der Fast-Todesengel. "Aber wenn ich nur ein einziges Mal noch sehe, dass du kurz davor stehst Benjamin zu verletzen, leihe ich mir das Gewehr meiner Mutter." Seine Miene glich sich wieder den Wolken dieses regnerischen Tages an. Düster fuhr er fort: "Wir wissen beide, was ich damit machen werde. Dasselbe gilt auch, wenn du es jemandem erzählst. Ich glaube, du musst jetzt aussteigen."

Obwohl er den Geist eines Mörders und das Lächeln eines Psychopathen - Alice wollte nicht wissen, wem er das aus dem Gesicht geschnitten hatte, doch vermutlich seiner Mutter, der Killerbiene - besaß, sprach er wahre Worte. Sie war mehr als froh darüber, nicht mehr länger mit Mister Ripper in einem Waggon sitzen zu müssen und verschwendete keine Zeit damit, noch weitere Abschiedsworte zu murmeln. Das süßeste Lebewohl waren wohl immer noch Blicke, die wie Giftpfeile ins Herz stießen und es langsam schwarz färbten. Wegen dieser netten Geste wäre die Bogenschützin fast den Weg aus der Straßenbahn gefallen. Ein hämisches Lachen fand seinen Weg aus Johns Psychopathenmund. Der Mann machte ihr fast mehr Angst als die Ankündigung einer Fortsetzung von "Der unglaubliche Hulk". Doch eines wusste die geschockte Frau nun. Ihm wollte sie bestimmt nicht mehr nachts auf der Straße vor ihrem Haus begegnen.

Nachdenklich gestimmt setzte Alice ihren heute ausnahmsweise aufregenden Weg zu ihrem Arbeitsplatz fort. Niemals hätte sie gedacht, dass Benjamins bester Freund die Gesellschaft anderer Männer mehr schätzte als die von Frauen. Jedoch hätte sie auch nicht glauben wollen, dass der selbstgekrönte Idiot gefährlich sein konnte. Trotzdem drängte sich ihr eine Frage auf. War er schon einmal in ihren Freund verliebt gewesen?
Benjamin war attraktiv, hatte einen guten Charakter - solange man ihn nicht betrog - und die beiden fanden immer etwas zu lachen, auch ohne Gras. Und da fiel es ihr wie Schuppen von den Augen, zumindest glaubte sie das.

John sei bloß eifersüchtig auf Alice, weil sie der Mann seiner Träume sie liebte. Doch da er nicht wolle, dass Ben verletzt wurde, habe er ihr das Reden mit einem anderen Mann so übel genommen. Kluges Mädchen mit einem schlauen Köpfchen. Eigentlich konnte sie seine Denkweise nur zu gut verstehen. Die Person, die sie zuvor als Psychopath betitelt hatte - gut, das ist meine Schuld - strahlte nun in einem anderen, menschlicherem Licht, auch wenn die zwei einander immer noch hassten. Irgendwie fühlte die Frau, in einem Anflug akuter Nettigkeit, sogar ein wenig Schuld auf ihrem Rücken, denn schließlich konnte ihretwegen eine Person nicht glücklich werden. Das war ein richtig blödes Gefühl. Zu wissen, dass man selbst die Verantwortung trug, doch aus Egoismus nichts dagegen tun wollte, konnte eine Person sehr belasten. Aber wer wusste schon, ob Ben sich auch von Männern angezogen fühlte.

Alice schalt sich und gab sich selbst eine gedankliche Ohrfeige, da dies einfach nicht ihre Angelegenheit war. Nun, zu einem gewissen Anteil war auch sie in die Liebesangelegenheiten ihres zukünftigen Ehemannes involviert. In diesem Sinne gab sie der Stimme, die befahl, ihr eine gedankliche Ohrfeige zu geben, eine gedankliche Ohrfeige. Kompliziertes Leben, komplizierter Film, kompliziertes Buch zu Alice' Film. Doch das ist erst der Anfang dieser komplizierten und verrückten Geschichte. Ein kleines Kapitel, auf das noch einige weitere folgen werden.

* * *

Good evening, my friends. Und wirklich evening. Weshalb ich jetzt Feierabend mache. Um drei Uhr in der Früh.

Eure müde Rosie, die auf Feedback hofft

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top