Kapitel 8

Lu's POV

"Man sieht sich, Pia. Schönes Wochenendeeee", winkte ich meiner Kollegin noch fröhlich zum Abschied und lächelte ihr zu, bevor wir uns in die entgegengesetzte Richtung nach Hause aufmachten.
Nach Hause.
Ich hatte seit Jahren kein 'zu Hause' mehr. Keinen sicheren Rückzugsort, keine schützenden Arme, keine beruhigenden Worte. Ich hatte einen verkaterten, gewalttätigen Mann am Hals, der mir nichts außer Probleme bereitete. Naja, Arbeit hatte ich dank ihm auch genügend.

Genervt ging ich den Gehsteig endlang. Eigentlich hätte ich pünktlich bei Chris sein sollen, doch mein Verstand war noch nicht dazu bereit, zu erkennen, dass das Hinauszögern eines Aufeinandertreffens nicht das Richtige war.
Lustlos schlurfte ich die Straße entlang und kickte die wenigen auf dem Weg liegenden Steine vor mir her. Das Licht der Laternen beleuchtete die Straßen ausreichend. Wieder lag diese bezaubernde Magie über Aachen, dieses unerklärliche Etwas, das die Stadt bei Nacht zu einer anderen werden lies. Ein leiser kühler Wind begann zu wehen.

Ich blickte mich um. In den Häusern brannte größtenteils noch Licht. Kein Wunder, es war ja gerade erst 19 Uhr. Ich sehnte mich auch nach einem schützenden, wohligen Haus, in das ich immer flüchten konnte. Ich wollte einen Ort, an dem ich sicher war. Ein Ort, an dem ich mich geborgen fühlte. An dem ich nicht bei jedem Geräusch aufschrecken musste, in der Angst verletzt zu werden.

Traurig senkte ich meinen Kopf und versank in Gedanken. Wieder spielte sich alles vor meinem inneren Auge ab.
Das Gesicht mit den roten Augen jagte mich.
Es machte mir Angst.
Die Erinnerung, die ich über den Tag verdrängt hatte, kamen nun wieder hervor.
Ich hörte Chris, wie er mich anbrüllte.
Wie er mich runtermachte.
Ich sah ihn regelrecht vor mir. Aufgebracht, wütend, jederzeit im Stande auszuholen. Ich sah ihn, wie er sich vor mir aufgebaut hatte. Ich spürte seinen heißen Atem, der unregelmäßig aus seinem Mund stoß. Ich roch seine Fahne und Gänsehaut überzog mich.

Diese Vorstellungen waren zu echt, zu viel für mich. Ich schüttelte mich, um ihn wieder aus meinen Gedanken zu bekommen, doch er blieb. Die Vorstellung lies mir einen Schauer über den Rücken laufen. Ich merkte, wie mein Herz schneller schlug, meine Atmung unregelmäßiger wurde. Angst erfüllte mich. Er trieb mich in eine Ecke und lies mich nicht entkommen. Ich war gefangen in meinen eigenen Gedanken.
Mit unmerklich schneller gewordenen Schritten begann ich nun, die Brücke zu überqueren, um zu der Laterne zu gehen, bei der ich mein Rad abgeschlossen hatte. Wie jeden Abend. Ich wollte so schnell wie möglich weg von den Gedanken hier, doch dieser Wille trieb mich direkt zu dem Grund meiner Angst.

Das wurde mir, bei meinem Rad angekommen, klar. Ich war hier sicherer als in unserem Haus. Ich hatte vor nichts zu fliehen hier draußen.
Nun wollte ich doch nicht mehr weg.
Ich wollte hier bleiben, meinen Gedanken könnte ich eh nicht entkommen. Auf jeden Fall nicht, indem ich zu ihm fuhr.

Nachdenklich wand ich mich von meinem Rad ab und ging ein paar Schritte weiter zur höchsten Stelle der Brücke. Wieder schweiften meine Blicke in die Ferne. Ich beobachtete die wenigen Menschen auf den Straßen, die nach Hause ins Warme eilten, den Kopf gesenkt, den Rücken bepackt, die Hände in den Taschen, in Gedanken versunken wie ich auch.
Ich lauschte den Motorengeräuschen der Autos, dem Surren, das ich von den Bahnsteigen her vernahm, dem Knistern der Lampen und den vereinzelten Stimmen, die der Wind zu mir wehte.
Die Nacht hatte etwas beruhigendes an sich.
Manche fürchteten sich vor der Dunkelheit, doch sie war mein Rückzugsort.
Hier, und nur hier war ich sicher. Ohne, dass ich es bemerkte senkte sich mein Kopf und ich begann, die Gleise zu fixieren.
Meine Gedanken kreisten.
Während ich das Gefühl der Einsamkeit genoss, näherte sich unbemerkt ein Mann von der anderen Seite der Brücke.


Ju's POV

Ich lief nun schon eine gute halbe Stunde durch die Straßen Aachens. Die Schönheit dieser Stadt hatte mich vollkommen in ihren Bann gezogen. Es lag diese unerklärliche Magie über ihr.
Ein letztes Mal bog ich rechts ab und jetzt erkannte ich einige Meter vor mir die Brücke, zu welcher mich meine Intuition gestern geleitet hatte.
Noch nie war dieser Stadtteil etwas Besonderes für mich gewesen, doch irgendetwas in mir lies mich den Drang verspüren, wieder hierher zu kommen.
Ich steuerte weiterhin auf die Brücke zu, als ich eine Gestalt am Geländer erblickte.
Ich musterte die Person. Der Silhouette nach müsste es eine Frau sein. Sie sah nachdenklich aus, als würde sie den Gedanken ihrer eigenen Welt nachgehen.
Nun folgte ich ihrer Kopfhaltung, sie hatte ihren Kopf nach unten geneigt und es schien, als würde sie auf die Gleise blicken.
Etwas besorgt beschleunigte ich meinen Gang.
Ich konnte nicht einschätzen, was in ihrem Kopf vorging.

Als ich sie beinahe erreicht hatte, verlangsamte ich mein Tempo und dachte nach. Es war niemand weit und breit, sie stand an dem Geländer einer Zugbrücke und ich würde sie als ein fremder Mann antippen. Wie würde sie wohl reagieren? Ich hatte nicht die Absicht, ihr Angst einzujagen. Im Gegenteil, ich wollte ihr helfen. Ich beobachtete sie weiter. Ihre Ausstrahlung zog meine Blicke an. Wäre es nicht so dunkel gewesen hätte ich auch mehr als graue Klamotten an ihr erkannt. Sie schien relativ vermumt, was bei den Temperaturen nicht verwunderlich war.

Nun riss ich meine Blicke doch von ihr und überlegte ein weiteres Mal, ob und wie ich sie ansprechen sollte.
Ich stand hin und her gerissen ein paar Meter abseits. Es wären nur ein paar Schritte.
Schließlich atmete ich tief durch und gab mir einen Ruck.
Ich steuerte auf sie zu und tippte ihr behutsam auf die rechte Schulter.

Erschrocken drehte sie sich herum und nahm ihre Hände abwehrend vor sich. Ich blickte in dunkelbraune, angsterfüllte Augen. Ihre Atmung war merklich schneller geworden.
Ihre dunkelbraunen, langen Haare waren vom Wind leicht verweht.
Sie sah mich mit panischen Blicken an und schien wie erstarrt.
Ich schämte mich, ich hätte sie nicht antippen sollen. Es ging ihr sichtlich schlecht und das war das Letzte, was ich wollte.
Nun war es wohl oder übel an mir, etwas zu tun.

Ich trat einen Schritt zurück und verschränkte meine Arme hinter meinem Rücken, um machtloser zu wirken. Noch immer spiegelte sich die bloße Angst in ihren Augen, doch ich erkannte auch ein wenig Verwirrung.
Ich räusperte mich und unterbrach diese unangenehme Stille:"Uhmm, hi. Ich, ich wollte dich nicht erschrecken, ich will dir auch gar nichts Böses. Es tut mir leid, dass ich dir unnötig Angst eingejagt habe. Die Situation sah nur anders aus, als sie es wahrscheinlich war und ich, uhm, ja ich wollte-", stirnrunzelnd suchte ich nach dem richtigen Wort. "Ich, ich wollte dir, naja sagen wir, helfen", beendete ich meinen Satz.
Mit einem unbeholfenem, schiefen Grinsen sah ich sie an.
Ihre Atmung hatte sich ein wenig beruhigt und auch ihre Haltung war nicht mehr so verkrampft.
"Kein Problem, du musst dich nicht entschuldigen, du hast es ja nur gut gemeint. Mir geht's gut", erwiderte sie nun mit einem schwachen Lächeln.

Wieder schwiegen wir beide und ich betrachtete sie erneut. Auch ich spürte ihre Blicke auf mir, doch das war mir egal. Ich musterte ihr Gesicht. Im Licht der Laterne, die ein kleines bisschen von uns entfernt stand, erkannte ich sie besser. Ihre matt rosanen Lippen waren schmal, ihre Mundwinkel senkten sich leicht nach unten. Ihre Nase war von wenigen Sommersprossen überzogen. Sie war wunderschön, doch in ihren Augen fehlte jeglicher Glanz. Sie wirkten leblos.
Nun entdeckte ich etwas an ihrem linken Auge. Es war leicht angeschwollen und darunter zeichnete sich ein dunkelblauer Fleck ab.

Sie schien meine Blicke bemerkt zu haben und drehte sich etwas weg, damit ich keine freie Sicht mehr auf ihr Auge hatte.
"Wie heißt du?", fragte ich sie.
Zögerlich antwortete sie:"Luisa, aber Lu ist mir lieber".
"Ein schöner Name, ich heiße Julien, aber eigentlich nennt mich jeder Ju", lächelte ich sie an, doch sie zuckte nur mit den Schultern.
"Lu?", sprach ich sie daher erneut an. Sie Blickte auf. "Darf ich fragen was du dort gemacht hast?", meinte ich und wollte auf ihr linkes Auge deuten. Wider erwarten zuckte sie zurück, in ihren Augen kehrte für einen kurzen Moment die Angst zurück. "Alles gut, ich wollte dir nicht zu nahe treten, tut mir leid", entschuldigte ich mich sofort bei ihr.
"Nicht schlimm", antwortete sie mit brüchiger Stimme. "Ich hab mich heute morgen an einer offenen Schranktür in der Küche gestoßen, nichts weiter". Unsicher, ob ich Lu das glauben sollte, nickte ich.

Erneut kehrte diese bedrückende Stille ein. Es wurde mir peinlich, sie angesprochen zu haben. Sie schien eh schon wieder in Gedanken zu sein. "Lu?", sprach ich sie also wieder an. Sie antwortete mit einem leisen, fragenden:"Hm?"
"Ich wollte dich wirklich nicht stören oder erschrecken."
"Ja ja, schon gut."
Wieder herrschte Stille.
"Dann, ja, würde ich jetzt auch gehen, soll ich dich noch nach Hause begleiten?", meinte ich zu ihr.
Bei dem Wort 'zu Hause' hatte sich ihre Körperhaltung und ihre Mimik wieder schlagartig verändert. Sie wirkte zerbrechlicher, ängstlicher.
"Ne, alles gut. Ich bin mit dem Rad da", brachte sie schließlich hervor.
"Okay", war das einzige, was mir darauf einfiel.
"Bye", rief ich ihr noch ein wenig lauter hinterher, doch sie war schon zu ihrem Rad geeilt.
Lu war mir ein Rätsel.
Doch da sie schien, als hätte sie es eilig gehabt, drehte auch ich mich um und ging zurück, um mein Auto zu holen und anschließend nach Hause zu fahren.

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