Kapitel 3
Ju's POV
"Ja Annika, mach ich."
"Ja, ja ich kümmer mich drum."
"Ja, danke. Bis dann."
Wie in Trance beendete ich den Anruf und lies mein Handy sinken. Ausdruckslos starrte ich auf den Bildschirm meines Laptops. Die letzten Tage durchliefen im Schnelldurchlauf mein Gehirn und plötzlich begann ich zu realisieren was gerade geschehen war.
"FUCK! FUCK FUCK FUCK FUCK!!! Ich bin so ein Idiot! So ein fucking Idiot!" Ich hatte soeben alles verloren. Ich hatte versagt! Auf allen Ebenen! Immer und immer wieder hallten die Worte von Annika in meinem Kopf wieder. Ständig und ununterbrochen. "Ju, es tut mir wirklich leid, aber das sind zu große Kosten. Du machst zu viel Minus, merkst du es denn nicht? Das geht seit Monaten so, gib es auf! Lass es hinter dir, es schadet dir nur, Ju!" Immer und immer wieder spielte sich das Telefonat vor meinen Augen ab. Immer und immer wieder spürte ich denselben Schmerz wie ich ihn vor drei Tagen gespürt hatte. Wie ich Halloween doch hasste! Wie ich den 31.10.19 fucking hasste! Was hatte ich getan um durch diese Hölle gehen zu müssen? WAS? Ich spürte, wie Tränen in meine Augen traten, doch ich hielt nichts zurück. Es war mir egal! Soll doch geschehen was wolle, mir war alles egal. Ich hatte soeben mein Lebensprojekt verloren, mein kleines Baby das ich hütete wie einen Schatz. Ich habe mich ihm komplett ergeben und keine Kosten und Mühen gescheut um es nur irgendwie zu erhalten und das bekam ich dafür? Nichts außer Schmerz? Das war der Preis? Die ganze Arbeit, die ganze investierte Zeit, all das Geld, alles umsonst! Nichts, rein gar nichts hat sich an diesem Projekt gelohnt! Sinnlos, wie es alle gesagt hatten! Welcher YouTuber hat denn bitte schön eine Tanzschule? Richtig, jetzt niemand mehr!
Ich spürte die heißen Tränen auf meiner Haut und vergrub mein Gesicht in meinen Händen. Am liebsten wollte ich meine Augen nie wieder öffnen und alles hinter mir lassen! Mein ganzes Leben hatte keinen Sinn mehr! Nichts, woran man festhalten konnte. Keinen Antrieb für den man arbeiten konnte. Das alles hier war sinnlos und das würde es auch immer bleiben, da war ich mir sicher. Ich spürte wie sich meine ganze Wut und Anspannung löste. Zurück blieb nur noch Leere und ich begann zu schluchzen. Immer mehr und mehr Tränen rannten über mein Gesicht. Ich zog meine Füße näher an meinen Körper und begann zu weinen. Zusammengekauert saß ich auf meinem Stuhl im Büro und weinte, wegen einer verdammten Tanzschule. Ich begann zu zittern und ein kalter Schauer lief mir den Rücken hinunter.
Meine Ärmel waren mittlerweile schon durchnässt und meine Nase lief. Zaghaft streckte ich meine Beine wieder von mir und begab mich aus meiner Embryo-Stellung. Langsam öffnete ich meine Augen und rieb sie mit meinem Ärmel. Durch die Fenster schien der Mond in mein Arbeitszimmer und das Mondlicht spiegelte mich auf meinem schwarzen Laptopbildschirm wieder. Ich betrachtete mich. Meine Augen sahen gequollen aus und mein ganzes Gesicht war nass. Ich blickte mir in meine müden Augen und fand mich in meinem eigenen Schmerz wieder. Schnell wendete ich meinen Blick vom Bildschirm ab, bevor ich wieder zu weinen begann. Meine Tränen tropften von meinen Wangen auf meine Oberschenkel und begannen sich einen Weg durch die schwarze Jogginghose zu bahnen.
Langsam spürte ich das Wasser durch den Stoff sickern. Ich wischte meine Tränen weg und setzte mich auf. Es konnte doch nicht sein dass mich eine geschäfliche Sache so berührte und aus der Bahn warf! 'Das war jetzt so geschehen und fertig! Es war rein geschäftlich und das Projekt ist gescheitert. Das ist nicht weiter schlimm!' redete ich mir selbst ein. Erneut ließ ich meinen Blick durch das Arbeitszimmer schwanken und blieb am Fenster hängen. Der Himmel war sternenklar und der Mond beleuchtete Aachen. Wie ein imposanter Herrscher trohnte er am Himmel. Seit ich denken konnte begleiteten der Mond und die Weiten des Universums mein Leben. All die unentdeckten Sachen, die Dinge, bei denen man Fantasie braucht um sich vorstellen zu können was dort oben war, faszinierten mich. Wie frei man dort oben wohl war. Welche Geheimnisse sich dort verbargen. Was dort oben wohl alles für immer im Verborgenen bleiben wird.
Schön langsam hatte ich mich wieder gefasst und atmete tief durch. 'Schau, so schlimm ist es nicht. Du bist nicht schwach und schon gar nicht traurig wegen so etwas!', murmelte ich und griff nach meinem Handy, das seit dem Telefonat neben der Tastatur auf dem Tisch lag. Ein Blick auf das Display verriet mir, dass es schon fast Mitternacht war. Eigentlich sollte ich schlafen gehen um den morgigen Tag wenigstens einigermaßen durchzustehen, doch ich war noch überhaupt nicht müde. Vielleicht würde mir ein kleiner Spaziergang an der frischen Luft noch gut tun? 'Schlimmer konnte es ja eh nicht werden' dachte ich mir und stand endlich aus meinem Stuhl auf. Meine Beine kribbelten ein bisschen und mir wurde von der ruckartigen Bewegung kurz schwarz vor den Augen aber dann hatte ich mich wieder gefasst. Ich steckte mir schnell mein Handy in die Hosentasche und schob den Stuhl an den Tisch. Ich ging die paar Schritte zur Office-Tür und machte das Licht aus. Nach einem letzten Blick in den leeren Raum schloss ich die Tür und tapste die Treppe nach unten in den Eingangsbereich. Die Regale warfen Schatten im Mondlicht auf die Fliesen und ich lies mich auf den untersten Treppenstufen nieder um der Stille zu lauschen. Um diese Zeit hielt sich eigentlich immer noch jemand hier auf um Videos zu schneiden oder so aber heute schien ich der Letzte zu sein.
Das Haus machte einen imposanten Eindruck. Die hohen Wände mit den schwarzen Schränken davor wirkten bei Nacht so mächtig und magisch. Der Kauf des Hauses damals fiel nicht schwer, wir hatten uns relativ schnell in den Bau verliebt und ehrlich gesagt war doch alles besser wie diese 2 Zimmer WG in Köln für uns vier. Meine Mom hat mir viel bei der Einrichtung geholfen und einen Großteil hatten wir auch selbst gebaut. Über ein Jahr lang hatte ich auch hier gewohnt, doch irgendwann konnte ich mich hier immer schlechter entspannen und schlafen war eigentlich gar nicht mehr möglich. Ich verband das alles zu sehr mit Arbeit und brauchte einfach meinen Safeplace, meine eigene Wohnung. Ich hab mich mit der Hilfe meiner Mutter lange in Aachen umgesehen. Beinahe alle Wohnungen waren vermietet oder verkauft und es war schwierig bei Maklern einen Termin zu bekommen. Nach ein paar Missverständnissen und umständlichen, unfreundlichen Verkäufern hatten wir dann doch eine gute Wohnung gefunden und gekauft. Auch bei der Einrichtung hatte mir unter anderem meine Mom sehr viel Hilfe geleistet. Ich war ihr für alles dankbar was sie über die Jahre für mich getan hatte. Ich liebte sie aus tiefstem Herzen und ich bemühte ich das zu zeigen, sie verdiente diese Liebe definitiv.
Schließlich stellte ich fest, dass ich seit einer Weile auf der Treppe saß und ausdruckslos an die Wand starrte. Ich zog mich am Geländer hoch und seufzte. Jetzt war ich mir schon mehr sicher, dass ich die frische Luft benötigte. Ein wenig schläfrig nahm ich mir meine dunkelblaue Jacke vom Kleiderhaken und schlüpfte in die Schuhe, die unaufgeräumt an der Seite des Eingangsbereiches lagen. Vom Schlüsselbrett schnappte ich mir noch die Hausschlüssel und öffnete die Tür. Ein Hauch von klarer, kalter Luft kam mir entgegen und ich atmete befreit einmal tief ein und aus. Dann zog ich die Tür hinter mir zu und machte mich auf den Weg. Ich hatte kein festes Ziel, ich ging einfach los. Die Straßen und Gassen waren leer, niemand war zu dieser späten Zeit noch draußen, schon gar nicht bei diesen Temperaturen. Viele Häuser waren mit Kürbissen und Skeletten bestückt, Spinnenweben ähnliche Gewebe schmückten die Eingänge. Stirnrunzelnd verlangsamte ich meine Schritte und stoppte vor einem Reihenhaus. Halloweendekoration? War heute Halloween? Schnell ging in die vergangenen Tage durch. 31.10. Ja, heute war Halloween. Nicht mal das hatte ich mitbekommen. Damals hatte mir das Verkleiden und um die Häuser ziehen so viel Spaß gemacht. Lächelnd setzte ich meinen Spaziergang fort und lies meine Gedanken abdriften, zurück in die Vergangenheit.
Halloween war wirklich wunderbar gewesen! Das Verkleiden, in andere Rollen schlüpfen, länger wach bleiben dürfen und viele Süßigkeiten sammeln hatte mir so viel Spaß gemacht. Als ich jünger war, bin ich oft mit meinem Bruder Shawn gegangen. Er musste zwar auf mich aufpassen aber wir hatten beide kein Problem damit und verstanden uns gut. Als ich dann selbst auf mich aufpassen konnte, bin ich an Halloween immer mit meiner besten Freundin gegangen. Wir hatten uns in der Grundschule angefreundet und waren über Jahre unzertrennlich gewesen. Nach der Grundschulzeit sind wir sogar auf das gleiche Gymnasium gewechselt, doch dort waren wir in getrennten Klassen und verloren uns nach und nach aus den Augen. Sie fand neue Freunde und wir trafen uns nach und nach nicht mehr gemeinsam. Schließlich ging unsere Freundschaft in die Brüche. Seitdem hatte ich nichts mehr von ihr gehört.
Ich musste lächelte. Unsere Freundschaft war trotzdem eine sehr wertvolle, die ich immer noch zu schätzen wusste. Wir sind im Guten auseinander gegangen und die Erinnerungen werde ich nie vergessen. All die Filme, die Zeltabende, unsere Lachflashs im Unterricht und wie wir die Lehrer genervt und verarscht haben werde ich immer in meinem Herzen behalten.
Ein Zuggeräusch riss mich aus meinen Träumereien. Ich blickte auf und versuchte zu erkennen wo ich hingegangen war. Ich stand auf der Brücke zum Bahnhof. Alleine in der Kälte stand ich dort und ließ meinen Blick über die Gleise und den Stadtteil dahinter schweifen. Trotz der Züge wirkte es friedlich. So ruhig und auffangend. Als würde der Mond einen mit seiner Magie in seine Welt führen, weg von all den Gedanken und Problemen, einfach um Ruhe zu finden und runterzukommen. Eine schöne Vorstellung! Gedankenverloren musterte ich den Mond und begann erneut in meiner Welt zu versinken.
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