Kapitel 23
Lu's POV
"Irgendwann lad ich euch mal ein", lachte ich mit meinem dritten Shotglas erhoben.
"Auf Ju!"
Die anderen stimmten grölend ein und wir kippten die brennende Flüssigkeit nach unten.
"Auf Juuu!" Rezo rüttelte ihn glücklich an der Schulter und boxte ihn freundschaftlich.
"Ey, Leute das ist mega der Banger", schrie Carina über die Musik und Gespräche im Club hinweg.
"Lasst uns nach vorne und tanzen!"
Sie griff meine Hand und bevor ich realisierte zog sie mich durch die Menschenmengen zu den Boxen, dicht gefolgt von den anderen, von denen ich auch irgendeine Hand reflexartig gepackt hatte.
Am Mischpult angekommen zog sie mich näher zu sich und wir begannen zu tanzen.
Es ging relativ schnell in stürmisches springen über und schon fand ich mich in einer Gruppe von acht Leuten wild tanzend wieder.
"Oh I, oh I, oh I, oh I-"
"I'M IN LOVE WITH YOUR BODY-"
"Oh I, oh I, oh I, oh I-"
"I'M IN LOVE WITH YOUR BOOODY!"
Grölend bewegten wir uns weiter zur Musik.
Inzwischen hatte mich Carina zum hundertsten Mal um meine eigene Achse gedreht und der Tequila machte sich wieder leicht bemerkbar, doch dieses Gefühl ignorierte ich für den Moment.
Alles was zählte war, dass ich gerade lebte, ich hatte mich selten so lebendig gefühlt, alles um mich herum war laut und bunt, ich war in Massen von Menschen die mir eigentlich Angst machten und auch das regulierte der Alkohol soweit.
Ich wusste nicht mehr wo oben und unten war und genau das liebte ich gerade. So konnte ich mein Leben echt gut aushalten.
Nun drehte der DJ den aktuellen Song etwas leiser, nur noch der eigentliche Beat war zu hören.
Carina reichte mich zu einer anderen Hand weiter, die mir grad angeboten wurde. Ich versuchte die zugehörige Person zu identifizieren, aufgrund der Kappe tippte ich auf Rezo. Seltsamerweise hatte ich kein mulmiges Gefühl, an der Hand einer mir vielleicht gar nicht bekannten Person zu tanzen, doch ohne nachzudenken genoss ich diese Freiheit. Das einzige, worauf ich mich konzentrierte, war die Musik, die jetzt wieder lauter wurde.
Unverkennbar schallte aus den Boxen die Anfangstöne von 'Bella Ciao' und die Stimmung stieg sofort.
"Stamattina, mi sono alzato, e ho trovato, l'invasor"
"Oh Partigano!", brüllte mich mein Gegenüber an, wer wohl wirklich Rezo war.
"Portami via!", grölte ich zurück.
"Oh bella ciao, bella ciao, bella ciao, ciao ciao."
Die Leute tanzten immer ausgelassener und ließen sich mit der Musik treiben.
Ich gab dem Beat alles was ich hatte und lieferte die wahrscheinlich peinlichste Tanzeinlage, doch wegen des hohen Alkoholpegels war das hier sowohl mir als auch allen anderen komplett egal und Rezo stieg mit ein.
Wir schrien und hüpften uns mit den schrägsten Tönen und komischten Bewegungen unsere Seele aus dem Leib, ich steckte all meine Energie in diesen Abend.
Das Lied war fast vorbei und alle waren unglaublich gut gelaunt, doch plötzlich ich spürte den Alkohol wieder stärker als zuvor. Die wilden Bewegungen hatten definitiv ihren Teil getan. Kurz überlegte ich. Zum einen befahl mein Herz mir, auf der Tanzfläche zu bleiben, war nicht gerade noch alles gut gewesen?
Zum anderen meldete sich jedoch mein Magen und mein Verstand schaltete sich ein.
Ich zog Rezo, der sich immer noch im Takt bewegte, schnell am Arm und schrie ihm zu:"Können wir kurz raus, mir ist nicht so gut."
Er nickte sofort verständnisvoll, packte meine Hand und führte mich im Schlepptau durch die ganzen Menschen nach draußen.
Hier war es, obwohl man die Clubgeräusche natürlich noch stark hörte, im Vergleich sehr viel leiser, woran sich meine Ohren erst gewöhnen mussten.
"Hier sind weniger Menschen, komm mit", meinte Rezo nur zu mir und führte mich etwas vom Ausgang und den torkelnden, kotzenden Menschen davor zu einer bröckelnden, niedrigen Mauer im Schatten einer ruhigen Gasse.
Eine alte Laterne spendete spärliches Licht und der kühle Wind wehte durch meine Haare.
Mit einem tiefen Atemzug genoss ich die reine nächtliche Luft und schloss meine Augen, denn das Übelkeitsgefühl war noch nicht wirklich leichter geworden.
"Wir setzten uns mal hierhin", sagte Rezo in einem bestimmenden Ton und brachte mich, beinahe schon besorgt, zum sitzen.
"Aber...die anderen?" Fragend sah ich ihn an, so nah wie wir nebeneinander saßen musste er wahrscheinlich gerade meine ekelhaft stinkende Fahne einatmen.
Eine grauenhafte Alkoholfahne wie Chris sie immer hatte.
"Nichts ist mit den anderen, denen geb ich bescheid, die werden sich keine Sorgen machen, wir bringen erst mal dich wieder auf die Beine", wollte er mich beruhigen, doch ich war mit meinen Gedanken schon komplett abwesend.
Bei Chris.
Womöglich saß er gerade alleine vor dem Fernseher, hatte ein halbleeres Bier in der rechten Hand und lachte über eine dumme Reallityshow aus 2015.
Was, wenn ihm aufgefallen war, dass ich nicht da war.
Ich wusste nicht einmal mehr, unter welchem Vorwand ich aus dem Haus gegangen war.
Ich wusste gerade nur, dass ich wieder dort hin zurück musste.
Zurück in dieses stickige Loch, das sich als mein zu Hause betiteln ließ.
Zurück in dieses muffige Grotte, bewohnt von einem gewalttätig und mir hoch überlegenem Bären, der in seiner Höhle hauste und alles ihm untertan machte.
Dieser ungewaschene Bär hatte mich unter Kontrolle, er bestimmte über mein ganzes Leben, war Teil all meiner Handlungen, Grund für all mein Verhalten und in Gedanken immer bei mir, so sehr ich auch versuchte, mich gegen ihn zu wehren.
Durch diese paar Stunden hatte ich vergessen können, der Alkohol hatte mir ein freies Lebensgefühl gegeben, aber nun wurde ich noch krasser auf den Boden zurückgerissen, wahrscheinlich hatte ich mir diesmal bei meinem Aufprall ein Bein gebrochen, was dazu führen würde, dass ich nie wieder aufstehen könnte aus diesem Loch, nie mehr wieder!
Plötzlich überkam mich ein erneutes, sehr viel stärkeres Übelkeitsgefühl.
Unbeholfen begann ich zu würgen, was Rezo sofort auf mich aufmerksam machte. Mit gekonnten Bewegungen hielt er meine Haare zurück und streichelte mir etwas über den Rücken.
Und schon kamen die Shots wieder nach oben, Tropfen für Tropfen suchten sie sich ihren Weg nach draußen und es fühlte sich an, als würde keiner dieser Tropfen Alkohol alleine in meinem Bauch zurückbleiben wollen.
Das extrem ekelhafte Gefühl, sich ständig wieder übergeben zu müssen, hielt mich gefangen in einer ewigen Spirale aus schwerem Atmen und neuem Würgen.
Mit jedem Mal, mit dem der Alkohol meinen Körper verließ, wurde mir die körperliche Nähe zu viel und auch meine Gedanken nahmen überhand.
Ohne es zu bemerken, rollte mir eine Träne übers Gesicht, gefolgt von einer nächsten und vielen weiteren.
Übermannt starrte ich auf den Boden, nicht hatte sich verändert. Nichts war besser geworden, ich dummes Stück Scheiße!
"Lu? Du arme Maus, was ist los?", fragte Rezo besorgt und sah mir mitleidig in die Augen.
Die einzelnen Tränen waren mittlerweile in leises Schluchzen übergegangen, mein ganzer Körper zitterte.
Rezo legte einen Arm auf meine Schulter und wollte näher rücken, un mich zu umarmen, doch ich rutschte reflexartig weiter weg, womit ich ihn verwirrt und vielleicht auch verletzt ohne eine Antwort zurückwies, obwohl er die ganze Zeit nett war und sich nur um mich kümmern wollte.
Ich war so dumm!
Mein Selbsthass und meine Reaktion auf seine Annäherung ließ mich immer mehr verkrampfen und meine Luftzufuhr schlechter werden.
Warum war ich so?
So vorurteilbehaftet, so schreckhaft, so undankbar, so unerklärlich anstrengend?
Und warum gab sich dieser Mann, den ich weniger als 10 Stunden kannte, mit all dem ab.
Warum saß er gerade einen Meter neben mir, sah mich besorgt an, war für mich da und respektierte meine Grenzen?
Warum tat es das, wenn ich ihm nichts wiedergab
Warum für mich?!
"Sorry", bekam ich unter den ganzen Schluchzern hervor und blickte ihn mit traurigem, verweintem Blick an.
Verwundert sah er mich an.
"Wofür denn überhaupt?"
"Dass ich so bin. Dass ich dir nichts wiedergebe. Dass ich mich nicht erkläre. Dass du gerade wegen mir hier draußen sitzt. Warum machst du das?"
Weinend schaute ich ihm in die Augen, ich verstand ihn einfach nicht.
"Ach Lu, schau, jetzt hör mal zu. Du musst dich für nichts entschuldigen. Du musst dich nicht erklären. Du musst gar nichts. Und ich genauso wenig.
Ich mach das weil ich dich nicht einfach alleine hier sitzen lassen würde, ich kümmer mich doch gerne."
"Aber warum?", fragte ich lauter und verzweifelter.
"Warum Rezo, warum?!"
Weinend brach ich neben ihm auf der Mauer sitztend zusammen.
"Warum? Ich versteh es nicht! Ich versteh gar nichts mehr! Ich will weg hier ic-"
"Shhhhh", versuchte mich Rezo zu unterbrechen.
"Bitte, ich weiß nicht wie ich dir helfen kann aber ich bin da und das weil ich mich hier um dich kümmere, weil du das wert bist Lu! Wir beruhigen uns gemeinsam, wenn du weg willst können wir auch spazieren gehen, was auch immer dir hilft."
"Nein, ich will ganz weg! Ich will nicht heim! Ich will nicht von hier weg, nicht nach Hause! Ich will nicht, dass diese Nacht vorbei geht! Ich will n-"
"Lu! Du.musst.nicht.nach.Hause! Ich sorge dafür! Du bist in Sicherheit! Du bleibst bei uns, du musst nirgends hin! Lu! Luisa?"
Rezo versuchte irgendwie, meine Aufmerksamkeit zu erlangen, doch ich konnte nicht mehr klar denken.
Ich wollte nicht zu Chris, ich wollte nicht heim, ich wollte nicht, dass alles wieder so weiter ging.
Ich konnte nicht wieder nach Hause, aber meine dumme Fresse wurde immer nur von meiner Angst gesteuert und konnte nicht um Hilfe fragen.
"Ich will das wirklich nicht!" Zitternd wischte ich mir die Tränen aus meinem Gesicht, welche sofort wieder durch neue ersetzt wurden.
Ein weiterer Gedanke an Chris zog mich wieder tiefer und ich begann wieder unkontrollierter zu weinen.
"Lu. Luisa, schau mich an, ja", befahl mir Rezo mit einem sanften aber bestimmenden Ton.
"Du musst das nicht, wir finden einen anderen Weg, glaub mir das. Es gibt immer einen Ausweg, Luisa!"
"Ich will keinen Ausweg mehr", flüsterte ich mich gebrochener Stimme.
"Ich will das hier nicht mehr."
Rezo sah mich traurig und besorgt an, Mitleid spiegelte sich in seinem Gesicht wieder.
"Lu, ich kennen weder dich noch deine Geschichte, aber ich verspreche dir, dass ich dir nichts antun werde. Und das wir irgendwie einen Weg finden werden. Ich bin da für dich."
Vorsichtig breitete er seine Arme etwas aus und sah mich an, ein kleines Bisschen Hoffnung lag in seinen Augen.
"Hm?", meinte er lächelnd.
Unsicher sah ich ihn an. Mein Bauchgefühl sendete zwar leichte Grund-Warnsignale, doch mein Verstand ignorierte sie. In seinen Augen lag nur Hilfsbereitschaft, sein Herz war voller Gutmütigkeit, ich musste den Schritt wagen, und wann, wenn nicht jetzt. In diesem Moment entschied mein Körper entgültig, Rezo zu vertrauen.
Zaghaft rutschte ich wieder näher heran, bis ich ganz dicht neben ihm saß.
Ich zog meine Beine an und lehnte mich ganz behutsam an seine Schulter. Er begann, schützend einen Arm um mich zu legen und streichelte mich leicht. Erschöpft atmete ich aus, mein Körper begann langsam, sich zu entspannen.
Ich fühlte mich gut. So warm und geborgen. Rezo gab mir ein Gefühl von Sicherheit.
Natürlich nicht so wie Ju und ich hoffe inständig, dass Ju das auch wissen würde, doch er hatte etwas so beruhigendes und comfortendes an sich.
Ich atmete tief durch, die kalte Luft durchströmte meinen Körper.
Kurz räusperte ich mich, bevor ich an Rezo gerichtet sprach:"Danke!"
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