Kapitel 21

Ju's POV

Zwanzig Minuten später hatte ich Lu schließlich fast durchs ganze Haus geführt, nur den Garten hatten wir noch nicht von Nahem betrachtet, ausschließlich von den Fenstern von oben.
"Was willst du jetzt machen?", fragte ich Lu, die mit mir unten im Eingangsbereich an der Treppe lehnte und mich mit ihren dunkelbraunen Augen ansah.
"Ich weiß nicht", sie warf einen kurzen Blick auf ihr Handy, "aber es ist jetzt fast acht Uhr, wolltest du vorher nicht Essen?"
"Ja, stimmt, könnten wir machen. Komm mit, die Treppe da geht nach unten in die Küche, kann ich dir direkt meine fam vorstellen und fragen, was sie vorhätten. Ich denke mal Pizza ist okay für dich."
"Ja, Pizza ist gut", antwortete sie etwas gleichgültig, anscheinend war ihre vorherige Energie immer noch nicht zurückgekehrt.
"Dann komm mit", lächelte ich sie an ud winkte sie mit mir in den Keller.
Mit schlappen Schritten folgte Lu mir.

Unten trafen wir auf Thomas, meinen Bruder Shawn und meine Eltern Conny und Mui, die sich am Tisch versammelt hatten und eine fröhliche Konversation führten.
"Jo Ju, was geht", machte Thomas auf uns aufmerksam, der uns wohl als erstes bemerkt hatte.
Augenbrauenwackelnd musterte Thomas uns, doch ich ging über die stillen Bemerkungen hinweg.
"Ich wollte euch jemanden vorstellen. Also, das ist Luisa.
Lu, das sind einmal Thomas, einer meiner engsten Mitarbeiter und sehr anstrengend, dann mein Bruder Shawn und meine Eltern Mui und Conny, die mich natürlich auch bei allem unterstützen. Shawn produziert übrigens auch Filme."
"Nett, euch kennenzulernen", meinte Lu mit einem leicht aufgesetzt wirkenden Lächeln, während sie den vieren die Hände schüttelte.
Wenn ich mich nicht in etwas hineinsteigerte ging es ihr also wirklich nicht so gut gerade.
"Freut mich auch, dich kennenzulernen", antwortete Mui grinsend.
Alle vier, insbesondere Thomas, warfen mit fragende und gleichzeitig wissende Blicke zu, die ich versuchte, zu ignorieren.
Ich betete nur, dass Lu das ganze Theater hier nicht mitbekommen würde.
Es konnte sich ja wirklich niemand benehmen, solche Kindsköpfe waren sie alle miteinander.
"Also, zweite Sache, wegen der wir hier sind", begann ich wieder zu sprechen.
"Wir haben festgestellt, dass es schon kurz vor acht ist und wollten fragen, ob ihr geplant hättet, zu essen."
"Nicht nur das, wir haben sogar schon bestellt, Ju", erwiderte mein Dad und die anderen nickten.
"Wir haben ein paar Pizzen mit verschiedenen Belägen bei Dominos bestellt, ich denke das passt", ergänzte Shawn und blickte mich erwartend an.
"Ja, das ist perfekt, wann ist das Essen circa da und wo wollt ihr essen?", erkundigte ich mich weiter.
"Wir sind schließlich ganz schön viele. Ihr vier, Carina, Tom, Annika, Rezo und unsere vier aus dem Team, und halt wir beide. Jimmy ist schon gefahren und Joon auch. Vince bleibt glaub ich aber auch nicht mehr zu lange da, das wären dann 11-12 Personen."
"Also wir hätten vorgehabt,  im Wohnzimmer zu essen und uns da halt auf der Couch, den Stühlen und am Boden aufgeteilt und ich denke mal das geht fit", sagte Thomas.
"Und Lu kann ja auch auf deinem Schoß si-."
"Danke für die Infos, wir gehen wieder nach oben", würgte ich Thomas' Sticheleien ab und drehte mich um.
"Die Pizzen kommen in ner viertel Stunde circa an", rief Shawn mir noch hinterher.
"Danke", erwiderte ich.
Lachend begannen meine Familie und Thomas wieder zu reden, und das relativ sicher über uns.
Etwas genervt und durchaus peinlich berührt ließen wir die vier Chaoten wieder in der Küche zurück, keine Sekunde länger würde ich es mit Lu vor Thomas aushalten.

"Wollen wir uns jetzt zu Rezo, Marius und Passi ins Wohnzimmer setzten, bis das Essen kommt? Oder lieber zu Annika?", fragte ich Lu, als wir uns wieder im Eingangsbereich befanden.
Unsicher zuckte sie mit den Schultern.
"Dann lass uns erst zu Rezo und so gehen", entschied ich für uns.
"Ich zieh nur noch kurz meinen Pulli aus". Lu nickte und begann, nervös mit ihren Händen zu spielen. Ich wollte sie so gerne umarmen oder irgendwie anders beruhigen, doch ich wusste, dass sie Körperkontakt hasste und ich wollte auf keinen Fall etwas zerstören, wenn ich da etwas aufgebaut hatte.
Auf andere Weise wusste ich aber leider nicht, wie ich ihr helfen konnte.
"Brauchst du was?", fragte ich also.
"Hm? Ne, alles gut."
Sie wirkte definitiv abwesend.

"Ist dir nicht auch warm, ich finds voll heiß hier mit dem Kaminfeuer und so", fragte ich Lu verwirrt. Mir war wirklich unklar, wie sie nicht vor Hitze zusammenbrechen konnte.
"Nein, alles gut. Mir ist einfach kalt", lachte sie gekünstelt und versuchte, die Situation zu überspielen.
Immer schneller presste sie ihre Finger zusammen.
"Los, lass uns ins Wohnzimmer gehen."
Verwirrt sah ich sie an, doch ich sagte nichts dazu. Ich ließ mich einfach auf die Situation ein.
"Woher denn die Energie", grinste ich.
"Die war nie weg", meinte sie gefühlt hyperaktiv.
"Los, lass uns zu den anderen gehen jetzt", drängte sie mich weiter.
"Ist ja schon gut", meinte ich nur und wir gingen ins Wohnzimmer, um uns zu den anderen zu gesellen.
Ich war immer noch verwundert, doch ich ignorierte es schlichtweg. Ich bildete mir oft zu viel ein und bewertete Situationen über.

Auf der Couch fanden wir immer noch Marius und Rezo vor, Passi lehnte an der Säule, hinter der ein schwarzes, gemustertes Gitter festgeschraubt war.
"Ey, Ju. Ich wollte euch gerade suchen. Ich würde jetzt schon heimgehen, wenn das fine ist. Ich hoffe wirklich, das passt für dich."
"Ach bro, alles gut. Mir sind Geburtstagsfeiern echt nichts wichtiges. Schön, dass du länger geblieben bist Passi."
Ich schlug mit ihm ein und strich ihm kurz brüderlich über die Schulter.
"An euch Verbliebenen", meinte ich zu den anderen beiden," wir würden jetzt dann essen, Mui hat Pizzen bei Dominos bestellt, die in gut zehn Minuten ankommen."
"Das ist unfair digga", ließ Passi uns von der Tür her wissen.
Lachend erwiderte ich ihm:" Du wolltest jetzt gehen, dafür kann ich doch nichts. Außerdem wird was übrig bleiben. Wenn du morgen herkommst kriegst du was ab bro."
"Ich werd noch nie mit so viel Motivation zur Arbeit gekommen sein wie morgen", versicherte mir Passi lachend, bevor er sich mit einem lauten:" Bis morgen Leute" verabschiedete und die Tür ins Schloss fallen ließ.

"Und ihr jetzt", erkundigte sich Rezo und musterte mich und Luisa.
"Wir chillen uns zu euch, deswegen sind wir eigentlich hier", erwiderte ich. Mit diesen Worten schmiss ich mich neben Rezo auf die Couch und auch Lu nahm zu meiner linken Platz - mit etwas Abstand natürlich.
"So", begann Rezo zu reden,"darf ich dich mit Fragen durchlöchern?"
Freudig blickte er Lu an, die leicht grinsend nickte und die Augen gespielt genervt verdrehte.
"Och Jungs", seufzte ich nur.
"Alles gut", gab Lu zurück, womit ich mich zufrieden geben musste.
"Okay, geil", freute sich Rezo und beugte sich etwas nach vorne, um besser mit Lu reden zu können.
"Erstmal ne basic Frage, was arbeitest du so?"
"Also, ich hab Kommunikationsdesign studiert und arbeite jetzt, seit ich vor drei Jahren hierher gezogen bin, in Aachen als Innenarchitektin."
Rezos Augen weiteten sich und er warf vielsagende Blicke in meine Richtung, wohlwissend, was ich studiert hatte.
"Da könnt ihr euch ja unterhalten", lachte er.
"Ju hat das gleiche studiert", erklärte Marius, der durchgehend grinste und uns still beobachtete.
"Wirklich?", fragte Lu überrascht in meine Richtung.
"Jap, aber mein Leben verlief ausversehen ein bisschen anders."
"Könnte man so sagen", lachte sie und drehte sich dann wieder zu Rezo, der sie weiter mit Fragen bombardierte.
Doch ich konnte mich nicht mehr so wirklich auf die Konversation konzentrieren. In meinem Kopf war nur noch dieses wunderschöne Lächeln, das sie viel zu selten zeigte.
Die Gefühle, die Lu in mir auslöste, wenn sich ihren beiden Mundwinkel nach oben bewegten, waren unbeschreiblich. Das Funkeln ihrer Augen, wenn sie glücklich war, war das schönste, was ich jemals gesehen hatte. Ihre Schönheit zog mich durchgehend in einen Bann und ließ mich durch ein Meer aus Gefühlen gehen, in dem ich Mal für Mal ertrank.

Lu's POV

"Und wo kommst du so her?", fragte Rezo mich weiter. Er wirkte echt sympathisch, ich mochte ihn jetzt schon gerne. Mir war relativ egal, dass er mich mit Fragen überhäufte, ich kam ganz gut klar mit seinem Redeschwall, schließlich musste ich dann nicht allzuviel reden, außer den Antworten, die ich gab.
"Ich bin in Stuttgart aufgewachsen, meine Eltern leben da immer noch. Ich kann sie zwar selten besuchen, aber sooft es geht fahr ich natürlich zu ihnen."
"Und dann bist du vor drei Jahren hierher gezogen?"
"Genau."
"Und wohnst du hier in einer WG oder alleine?"
Ich schluckte. Fuck. Wie fiel ich jetzt nicht auf. Scheiße.
Panisch blickte ich zu Ju, welche mir jedoch nicht helfen konnte und nur genauso hektisch zurückschaute.
Um die Stille nicht noch länger und komischer zu machen, fing ich einfach an, irgendwas zu reden.
"Also am Anfang habe ich hier in einer WG mit meiner besten Freundin gewohnt. Die hat sich dann aber fürs Reisen entschieden und hat jetzt eine Weltreise gemacht. Sie war vor ein paar Wochen sogar bei mir zu Besuch. Ich wohne seitdem alleine, aber das gefällt mir auch gut, ich komme damit klar."
Rezo nickte und verarbeite die ganzen falschen Informationen über mich, die ich ihm gerade gegeben hatte.
Doch anscheinend war ihm nichts aufgefallen.
Mir war natürlich klar, dass ich mein Leben nicht ewig auf einem Lügenkonstrukt aufbauen konnte, aber für jetzt war das definitiv das beste.
"Wie cool, das klingt alles so spannend digga", lachte er.
"Ich lebe seit 2 Jahren hier und unternehme gar nichts, so lame."
"Ja, aber ich mache jetzt auch nicht so viel. Ich arbeite halt meistens, sonst nichts."
"Ja, same."

Unsere Konversation wurde von einem Klingeln apprupt unterbrochen.
"Das ist wahrscheinlich die Pizza", meinte Ju und stand auf.
"Ich geh schon", gab er allen im Haus rufend bescheid," aber kommt mal ins Wohnzimmer, es gibt Essen."
Sofort hörte man, wie sich oben die Bürotüren öffneten und auch vom Kamin her Leute aufstanden.
"Wir sind quasi da", rief Annika von drüben, welche sich kurz darauf noch einen der Couchplätze sicherte.
Auch Carina und Tom folgten ihr und nahmen ebenfalls neben ihr Platz. André und Vince ließen sich auf dem Teppich nieder, genauso wie Thomas und Shawn. Conny und Mui, die kurz darauf zu uns stießen, klauten sich die Gamingstühle aus Ju's Arbeits- und Aufnahmeraum.

Schließlich kam auch Ju zu uns, mit 12 Pizzakartons beladen. Sofort stand Rezo auf und half ihm, seine Ware sicher abzustellen.
"So Leute, ich weiß nicht genau welche Pizzen wir haben, aber es gibt vegane, vegetarische und welche mit Schinken oder so, bedient euch", verkündigte Ju, bevor er sich wieder zwischen mir und Rezo niederließ und ebenfalls, wie alle anderen, gierig zu den Pizzen griff.
"Lu, welche willst du?", erkundigte er sich bei mir.
"Gib mir eine mit Schinken", antwortete ich ihm gleichgültig.
"Hier."
Ich lächelte und nahm das Stück dankend an.
Im Raum breitete sich friedliche Stille aus, alle aßen genüsslich ihre Pizza und für einen kurzen Moment war alles ruhig.
Ich genoss diesen Zustand sehr, ich war eine sehr leise und menschenscheue Person. Es war schon verwunderlich, dass ich überhaupt zugesagt hatte, aber Ju zuliebe wollte ich natürlich auch da sein. Erstens war es sein Geburtstag, und solche Einladungen lehnte ich nicht ab. Und zweitens, wollte irgendetwas in mir auch Ju sehen, in seiner Nähe sein, sich in seinen Augen verlieren und ihn ewig anstarren können.
Ich hatte ein großes Verlangen danach, was mir sehr fremd und abscheulich vorkam.
Zum einen hatte ich ja irgendwie einen Freund und zum anderen, wie hatte ich mich denn verändert?
Ich sollte mich schützen vor dieser Welt, vor bösen Kreaturen die mir Schlimmes zufügen könnten, vor gefährlichen Männern, die mich leiden sehen wollten.
So sehr ich kämpfte, im Hinterkopf spukte immer mein Stereotyp von Männern, denen ich aufgrund dessen schwer vertrauen konnte.
Warum fühlte ich mich also hier, umgeben von beinahe nur Männern, so viel sicherer wie sonst?
Ich hatte Angst vor mir selbst, meinen Schutzmechanismus zu verlieren und alles irgendwann noch einmal erleben zu müssen, doch ich konnte keine Distanz zu Julien aufbauen.
Und auch Rezo machte es mit mit seiner so empathischen und freundlichen Art unglaublich schwer, ihn zu ignorieren.

Schweigend nahm ich also hier auf der Couch in einem fremden Haus neben lauter Männern Bissen für Bissen von meiner Pizza, während mein toxischer Freund zu Hause saß und dachte, ich wäre nur unterwegs.
Als hätten wir eine gesunde Beziehung.

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