Kapitel 14

Ju's POV

Unsanft riss mich der nervtötende Klingelton meines Handyweckers aus meinem unruhigen Schlaf. Normalerweise wäre ich um diese Zeit noch unglaublich müde und träge gewesen, vor allem an einem Samstag morgen, doch heute war es anders. Seit ich Lu gestern Abend bei Annika zurückgelassen hatte, konnte ich keinen klaren Gedanken mehr fassen. Ständig tönte ihre Stimme leise und die Situation aus den vergangenen Stunden spielte sich vor meinen Augen ab, und weiter. Ich hörte sie schreien, ich sah sie fallen. Auch in meinem Traum, an den ich mich noch schemenhaft erinnern konnte, ging es durchgehend um Lu und gestern Nacht. Es ging mir nicht aus dem Kopf.

Was sie wohl gerade tat? Schlief sie noch oder war sie schon wach? Hatte sie überhaupt geschlafen? War sie noch bei Annika zu Hause?
Und warum wollte sie unter keinen Umständen wieder zurück in ihre Wohnung? Welche Umstände hatten sie zu dieser drastischen Entscheidung gebracht, sich selbst etwas anzutun? Mein Kopf schien zu platzen vor Gedanken, auf die ich dringend eine Antwort brauchte.

Entschlossen setzte ich mich also auf und griff zu meinem Handy. Ich wählge Annikas Nummer und starrte gebannt auf den Bildschirm, in der Hoffnung, dass sie bald annehmen würde. Das Tuten des Anrufs unterbrach die drückende Stille in meinem Schlafzimmer.
Die Sekunden vergingen, doch der Anruf blieb unbeantwortet. Schließlich meldete sich der Anrufbeantworter:" Hallo. Hier ist die Mailbox von 'Annik-".
Frustriert legte ich auf und schmiss mein Handy aufs Bett.
"Ach fick dich", murmelte ich leise an mein Handy gerichtet und lies mich zurück auf die Matratze fallen.
Mit ausdruckslosem Blick starrte ich an die weiße Zimmerdecke und dachte nach. So sehr ich es versuchte, meine Gedanken wendeten sich nicht von Lu ab. Ständig spielte sich in meinem Kopf ab, was ich gestern Abend erlebt hatte.
Und zwischen diese ganzen sich wiederholenden Momente mischte sich Lu's Gesicht.
Ihre trüben Augen, die ich so gerne einmal strahlend sehen würde, ihr traurig nach unten gewinkelter Mund, den ich so gerne einmal lächeln sehen würde, ihre süße Nase, die perfekt in ihr Gesicht passte.
Ich verlor mich in ihren Augen, auch wenn diese gerade nur in meinen Erinnerungen vorhanden waren. Das tiefe, dunkle braun hatte etwas anziehendes, etwas magisches an sich. Und eine unglaubliche Schönheit, genauso wie Lu auc-...

Stockend unterbrach ich meine Träumereien. Ich hatte sehr über sie geschwärmt, viel zu sehr.
Dabei ich kannte Lu nicht einmal. Ich hatte nicht das Recht, sie so anzusehen.
Ich hatte ihr einzig und allein geholfen, sie war eine Bekanntschaft, nicht mehr.
Wir hatten noch nicht mal ein wirkliches Gespräch.
Und doch wollte ich, nein, musste ich sie aus ihrer verzwickten Lage holen, die ich selbst noch nicht ganz durchblickte.
Wie anstrengend das Leben sein konnte.

Nachdem ich also Annika ein weiteres Mal vergeblich angerufen hatte, stand ich auf und ging ins Bad. Wenn sie nicht ans Telefon ging musste ich mir wohl was anderes überlegen.
Ich wusch mir mein mit Augenringen gezeichnetes Gesicht und putzte mir flüchtig meine Zähne, mir war eh nicht nach Frühstück zumute.
Ich wollte einfach so schnell wie möglich zu Annika.
Schnell begab ich mich wieder in mein Schlafzimmer, nahm mir irgendeine Jogginghose und das oberste T-Shirt vom Stapel. Ich griff noch kurz zu einem Pulli, nahm mein Handy vom Bett und stecke es ein. Während ich zur Tür ging, zog ich mir den Pulli an.
Ich schlüpfte in meine gemütlichsten Schuhe, nahm Schlüssel und Geldbeutel von der Ablage, schnappte eine Jacke von der Garderobe und verließ meine Wohnung.
Hastig schloss ich ab und lief die Treppen nach unten zum Ausgang.
Ich setzte die Kaputze meiner Jacke auf, gab Annika bescheid und machte mich schnellstmöglich auf den Weg zu ihr. Hinter mir knallte die Tür ins Schloss.

Nach gut fünfzehn Minuten stand ich vor Annikas Wohnung und drückte auf den Klingelknopf. Ich war noch nie so schnell hierher gekommen, aber das lag wahrscheinlich an meiner Angespanntheit.
Nach einer kurzen Zeit, die für mich wie eine Ewigkeit vergangen war, streckte Annika dann ihren Kopf durch die Tür. Verwundert musterte sie mich und schenkte mir einen verwirrten Blick. "Ja?", fragte sie mich. Anscheinend hatte sie meine Nachricht nicht gelesen. "Guten Morgen Ju, i guess", sie lächelte mich zwar an, konnte mein Erscheinen aber trotzdem noch nicht deuten. "Hi, guten Morgen", erwiderte ich. "Wie geht's Lu? Hat sie geschlafen? Ist sie noch da?"
"Ach Juu". Die Verwirrung verschwand etwas aus ihren Augen und sie kam einen Schritt auf mich zu, um mich zu umarmen. Ich wollte zwar eigentlich lieber eine Antwort, aber ich wehrte mich nicht. "So früh wie du hier antanzt hast du ja gefühlt kein Auge zugemacht". Sie lachte ein wenig und ließ mich wieder los.
"Ja, Lu ist noch da und bevor du fragst, komm rein. Wir waren grad am Frühstücken, man bedenke die Uhrzeit". Sie lächelte und bat mich mit einer einladenden Geste herein.
"Und bitte, Ju, überrumpel sie nicht, ja? Sie ist trotzdem ein normaler Mensch, behandel sie bitte so", flüsterte sie mir hinterher.
"Klar". Ich nickte.

Ich folgte Annika in die Küche, vorsichtig, um Lu nicht zu erschrecken.
"Ich hab uns einen Gast mitgebracht, der unbedingt nach dir sehen wollte", meinte Annika schmunzelnd und trat zur Seite. Lu blickte auf und unsere Blicke trafen sich. Ihre braunen Augen blickten in meine Seele.
"Äh, hi Lu", unterbrach ich die Stille. "Guten Morgen. Wie geht's dir so?"
Ich musterte sie ein wenig. Ihre Hände lagen leicht verkrampft auf Annikas hölzernem Küchentisch, ihr Körper wirkte beinahe leblos, wie eine Hülle. Sie sah ausgelaugt aus, so leer.
"Ja, geht", antwortete sie auf meine Frage, bevor sie wieder auf ihren Teller starrte.
Ich schenkte ihr ein kleines Lächeln, welches sie wahrscheinlich nicht mal wahrgenommen hatte.
"Wie hast du geschlafen?", fragte ich. Ich wollte die Konversation weiter führen.
"Gut", meinte Lu ausdruckslos. Lustlos schob sie ihr Brot auf dem Teller hin und her, bis sie es schließlich in die Hand nahm und aufstand.

Lu's POV

"Ich würde mich dann wieder auf den Weg nach Hause machen", gab ich den beiden bescheid, die mich fragend anschauten. Annikas Blick verdüsterte sich, doch sie sagte nichts. Ju sah mich etwas ungläubig an.
"Sicher? Willst du dich nicht noch ausruhen?"
Ich schüttelte verneinend den Kopf.
"Okay". Er zuckte mit den Schultern. "Soll ich dich dann noch nach Hause begleiten?"
"Danke, das passt. Ich finde alleine nach Hause."
So sicher war ich mir damit zwar nicht, da ich eigentlich noch nie hier war, doch Ju konnte nun mal unter keinen Umständen mit zu mir nach Hause, zu Chris.
Bei dem Gedanken an ihn zog sich schon wieder alles in mir zusammen.
Es gab eben keine andere Wahl.
"Aber vielen Dank, dass ihr für mich da wart". Ich schenkte ihnen das herzlichste Lächeln, das ich zu Stande brachte. "Ich bring dich noch zur Tür", meinte Annika zu mir und schob mich vor ihr her.
Ju blieb in der Küche, aus dem Augenwinkel sah ich, wie er am Tisch platz nahm und vor sich starrte. Er sah wirklich müde aus, anscheinend hatte er genauso gut geschlafen wie ich.
Was solls.
"Also", sagte Annika auch schon. "Du-", sie blickte mir tief in die Augen, "du willst wirklich zu Chris nach Hause, einfach so weiter leben?"
Ungläubig sah sie mich an.
"Ja, das will ich". Ich musste zwar eher, aber das beachten wir nicht.
"Weißt du, so oft bin ich nicht zu Hause, wir begegnen uns nicht viel, und ich habs im Griff, so schlimm ist es nicht. Vertrau mir. Das wird wieder, mach dir keine Sorgen. Du fasst es auch vielleicht schlimmer auf als ich es erlebe, vielleicht habe ich durch die ganzen Emotionen etwas übertrieben, aber es ist definitiv okay".
Ich drehte mich schon zur Tür und wollte diese öffnen, doch Annika hielt mich mit festem Griff am linken Handgelenk zurück.
Schmerzhaft wurde ich an meine Schnittwunden erinnert und zuckte zurück. Zudem erhöhte ihre schnelle, bestimmte Bewegung meinen Puls und ich ging in Deckung.
Sofort zog Annika ihre Hand weg und sah mich mitleidig an.
"Oh Gott, tut mir leid, ich wollte dich wirklich nicht erschrecken!"
"Alles gut", meinte ich, um sie nicht mit dem Schuldgefühl zurückzulassen, "aber ich würde wirklich nach Hause gehen".
"Natürlich", nickte Annika.
"Meine Nummer hast du ja", sagte sie, kurz bevor ich die Tür hinter mir schloss.
"Ja, ich werde mich bei Gelegenheit melden. Und danke für alles".
Mit diesen Worten zog ich die Tür hinter mir zu und machte mich wieder auf den Weg nach Hause.
Zu Chris.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top