Kapitel 12
Ju's POV
Vorsichtig und behutsam hielt ich Lu in meinen Armen. Sie klammerte sich mit ihrer scheinbar letzten Kraft krampfhaft an meiner Jacke fest und ich versuchte ihren gefühlt leblosen Körper zu stützen.
Überfordert betrachtete ich sie.
Ich war immer noch dabei zu realisieren, was gerade geschehen war.
Und was geschehen wäre wenn ich mich nicht dazu entschieden hätte, doch noch einen Spaziergang zu machen, um meinen Kopf frei von den plagenden Gedanken der letzten Wochen zu bekommen.
Wenn ich auf meinen gesunden Verstand gehört hätte und nicht mehr in der Kälte mitten in der Nacht zur Brücke gegangen wäre.
Was, wenn ich die Bamschool nie verloren hätte.
Dann hätte ich sie nie kennengelernt.
Die Welt hätte einen wundervollen Menschen gehen lassen müssen.
Aber wieso?
Was hatte Lu dazu getrieben?
Inzwischen hatte sich ihre Atmung etwas beruhigt. Sie wirkte ein wenig gefasster, aber sie zitterte immer noch am ganzen Körper.
Als ich sie musterte wurde mir auch klar wieso.
Aus welchem Grund auch immer trug sie nur einen dünn scheinenden Pulli. Ich schüttelte den Kopf. Sie war mir wirklich ein Rätsel.
Doch das tat jetzt wenig zur Sache.
Unentschlossen, was ich tun sollte wippte ich leicht mit meinem Fuß. Ich wollte ihr meine Jacke geben und Lu wärmen, aber gleichzeitig wollte ich sie nicht loslassen.
Sie schien mehr und mehr zu entspannen, anders als beim letzten Mal, als ihr jede meiner Bewegungen einen Schrecken eingejagt hatte.
Ich konnte den Sinneswandel nicht erklären, auch die Reaktionen bei unserer letzten Begegnung nicht.
Aber mir war klar, dass dieses Verhalten einen schlimmen, traumatischen Grund haben musste. Auch die Situation vorher.
Alleine bei der Vorstellung davon was passiert wäre, wenn ich nicht genau dann hier gewesen wäre, verknotete sich alles in meinem Körper.
Wenn ich sie nicht hätte retten können.
'Ju, reiß dich zusammen! Es ist nichts passiert, kümmer dich doch jetzt um sie!', riss meine innere Stimme mich aus meinen Gedanken.
Ich blinzelte zwei mal hintereinander, um wieder komplett aufnahmefähig zu sein.
Immer noch hielt ich ihren zitternden Körper in meinen Armen.
Und immer noch wusste ich nicht, was ich tun sollte.
'Letztes Mal hast du sie auch angesprochen. Damals hast du ihr vielleicht schon einmal das Leben gerettet. Also, wieso nicht?', sprach mir meine innere Stimme wieder zu. Und das war richtig, wieso nicht wieder?
Ich schluckte einmal stark und räusperte mich.
Sofort zuckte Lu und ich spürte, wie sich all ihre Muskeln verkrampften.
"Lu?", sprach ich sie an, um die Situation nicht noch unangenehmer zu machen.
Vorsichtig hob sie ihren Kopf und sah mich von unten an.
Ihre Augen waren leer, ihr Gesichtsausdruck emotionslos.
Fragend schaute sie mich an.
"Dir muss mega kalt sein, du hast nicht mal eine Jacke an. Ich geb dir meine, ja?"
"Nein, musst du nicht. Wirklich!", erwiderte Lu mit schwacher Stimme.
"Bitte Lu! Du holst dir sonst so ne krasse Erkältung. Vielleicht hast du dann auch Fieber und so. Dafür will ich nicht verantwortlich sein. Und mir machts gar nichts, ich hab einen Pulli drunter", meinte ich hartnäckig zu ihr und lockerte langsam die Umarmung.
Lu stolperte einen kleinen Schritt zurück und ich wollte sie auffangen, doch meine ruckartige Bewegungen ließ sie nur ängstlich werden.
Vorsichtig wich sie einen weiteren Schritt zurück.
Dort war sie wieder. Die Angst, die sich in ihr wiederspiegelte. Alles verkrampfte, ihre Blicke hasteten von links nach rechts, ihr Atmung wurde schneller und unruhiger.
"Lu, es tut mir leid. Ich will dir nur meine Jacke geben, wirklich", versuchte ich ihr zu versichern, doch sie beruhigt sich kein bisschen.
Also ging ich ein paar Schritte zurück und zog langsam meine Jacke aus. Lu beobachtete jede Bewegung genaustens.
"Schau mal, willst du die Jacke nehmen wenn ich sie dir hinhalte?", fragte ich sie.
Sie überlegte.
Man sah ihr die Unentschlossenheit an, doch wider erwarten nickte sie kurz darauf.
Überrascht aber erleichtert hielt ich ihr also meine Jacke hin.
"Aber ist dir dann nicht kalt? Sicher nicht?", fragte sie mich mit einem besorgten Unterton.
"Nein, wirklich. Sonst würde ich sie dir ja nicht geben", versicherte ich Lu und sie schien überzeugter.
Nach einem kurzen Zögern ging Lu dann tatsächlich zu mir und nahm sich ruckartig meine Jacke. Ihre Schritte wirkten unsicher und schwach. Wahrscheinlich war es am besten wenn ich sie zu ihr nach Hause bringen würde.
"Lu?"
Sie zuckte zusammen, wie bei jedem Geräusch.
Fragend schaute sie mich mit ihren ausdruckslosen Augen an. Auch den Schmerz konnte man darin lesen. Was sie wohl durchmachen musste.
"Ich will dir nicht zu nahe treten, also wegen deinem Privatleben und dir persönlich, aber es ist schon nach Mitternacht und ich glaube wir sollten beide schlafen. Und ich wollte fragen, ob ich dich nach Hause begleiten soll oder darf, sonst mach ich mir zu viel Sorgen um dich, weiß du."
Ihr Mimik hatte sich komplett verändert. Bei dem letzten Satz war sie zurückgeschreckt, ihre Hände hatten sich verkrampft und eine Mischung aus Panik und purer Angst lag in ihren Augen.
"Hab ich was falsch gemacht? Ich wollte nichts tun, was dich verletzen könnte. Ich muss dich auch nicht nach Hause bringen!", sagte ich zu ihr.
Ich wollte wirklich nichts tun was ihr irgendwie schaden könnte und es tat mir leid, es dennoch getan zu haben.
Nun bemerkte ich, wie ihr langsam Tränen über die Wangen rollten.
Ich fühlte mich unfassbar schlecht.
"Lu, bitte sag mir was ich getan habe", meine ich verzweifelt.
"Nicht nach Hause, bitte", brachte sie unter den Schluchzern hervor.
"Klar, ich bring dich nicht nach Hause, sicher nicht! Du musst nicht nach Hause!", versicherte ich ihr sofort. Ich hatte zwar keine Ahnung wieso und auch keine Ahnung was ich jetzt machen sollte, aber nach Hause würde sie heute nicht mehr gehen.
"Das ist jetzt eine komische Frage, aber willst du dann zu mir nach Hause kommen?"
Lu schluckte. Ich sah, dass sie das definitiv nicht vor hatte.
"Okay, kein Problem. Musst du nicht. Wirklich! Aber, was wäre okay für dich?" Fragend sah ich sie an, doch sie stand nur regungslos vor mir.
Ich überlegte, wer sie mitten in der Nacht noch aufnehmen würde.
Wen kannte ich hier, der sie ohne Fragen bei sich schlafen lassen würde?
Ich könnte natürlich Rezo aus den Federn klingeln.
Es gab keinen besseren mentalen Unterstützer, niemand konnte einen besser verstehen und einem fürsorglichere, verständnisvollere, tröstendere Blicke schenken.
Aber ich wusste nicht, ob sie das okay finden würde oder ob doch eine Freundin von mir besser wäre.
"Lu? Soll ich es bei einer weiblichen Person versuchen?", erkundigte ich mich. Sie nickte mit einem schwachen Lächeln, welches sofort wieder verschwand.
Es machte mich auch etwas traurig, sie so zu sehen, und das obwohl ich sie nicht kannte, aber diese Gedanken schob ich schnell beiseite. Ich musste jemanden finden, bei dem Lu eine Nacht verbringen konnte.
Nach kurzem Überlegen fiel mir jemand ein.
Annika.
Sie war so eine fürsorgliche, liebevolle Person.
Jeder brauchte eine Annika im Leben, sie hatte mir schon so oft geholfen und zur Seite gestanden, mich aufgebaut und mir geholfen.
Sie hatte mich unterstützt und in meinem Leben weitergebracht.
Sie war eine wunderbare Person und ich war mir sicher, dass Lu bei ihr unterkommen dürfte.
Also nahm ich kurzerhand mein Handy aus der Hosentasche und rief ihre Nummer an.
Lu stand immer noch etwas entfernt von mir und beobachtete mich.
Ich schenkte ihr ein sanftes Lächeln, welches sie aber nicht erwidern konnte.
Gerne hätte ich sie umarmt, so wie vorher, doch ich bezweiflte, dass sie es nochmal wollte oder zulassen würde.
"Julien Zheng Zheng Kho Budorovits, es ist 1:04. Ich hoffe du hast einen guten Grund für deinen Anruf", nahm Annika den Anruf entgegen. "Ähm ja, hi Annika. Es tut mir mega leid, dich so spät wecken zu müssen. Aber ich hab nen Grund. Und ich hab eine Frage."
Unsicher lachend wartete ich auf ihre Reaktion.
"Stell die Frage", meinte sie schläfrig und genervt.
"Okay, also...könntest du jemanden aufnehmen, nur für ne Nacht oder so?", fragte ich unsicher.
"Ju, wieso?"
"Es ist kompliziert und ich kann eigentlich nichts erklären weil ich selbst nichts weiß aber ich hab eine junge Frau bei mir. Und bei mir heißt auf einer Brücke. Denk dir was dazu, ich erkläre dir morgen den Rest, ja?"
Ich hörte sie nur schwer atmend.
"Auf jeden Fall hat sie glaub ich krasse Probleme bei sich zu Hause und zu mir will sie auch nicht. Soll auch gar nicht böse klingen, falls es das grad tat.
Aber egal.
Mmh, also... kann sie zu dir?"
Unsicher und mit zusammengepressten Lippen starrte ich auf mein Handy.
"Natürlich, bring sie vorbei, das klingt nach ner scheiß Situation", antwortete Annika sofort und man hörte die Besorgnis in ihrer Stimme.
"Danke! Vielen, vielen Dank! Wir kommen vorbei. Bis dann."
"Kein Problem Ju, bis gleich."
Mein Handy tutete, ich machte es aus und steckte es zurück in meine Tasche.
Dann blickte ich wieder zu Lu.
Sie stand da, zitternd und doch ohne sich zu bewegen.
Sie schien in Gedanken zu sein.
"Lu? Ich bringe dich zu einer Kollegin und guten Freundin von mir, Annika. Wir müssen nur kurz gehen, ich hoffe das ist okay."
"Ja klar. Danke", erwiderte sie und bemühte sich um ein Lächeln.
"Keine Ursache", meinte ich.
"Dann lass uns losgehen."
Mit einer einladenen Geste bewegte ich sie zum Gehen.
Schweigend gingen wir nun nebeneinander, auf dem Weg zu Annika. Gerne hätte ich Lu in den Arm genommen und sie gewärmt oder ihr einfach ein Gefühl von Schutz oder Geborgenheit gegeben, aber ich ließ es, um sie nicht zu erschrecken oder ihr Vertrauen zu mir irgendwie wieder zu zerstören. Wenn sie mir denn irgendwie vertraute.
"So, hier ist es", sagte ich und zeigte auf eine Tür zu einem beigen Mehrfamilienhaus. Lu nickte leicht und schaute zu mir. Ich trat einen Schritt nach vorne und klingelte. Drei Sekunden später ertönte ein Surren und ich öffnete Lu die Tür. Vorsichtig trat sie ins Treppenhaus und blickte mich etwas erwartend an.
"Drei Treppen nach oben, folg mir einfach", sagte ich zu ihr gewandt und drehte mich dann nach um. Etwas hastig stieg ich die Stufen nach oben.
Hinter mir ging Lu.
Sie setzte behutsam und wackelig einen Fuß vor den anderen, den Blick auf den Boden gerichtet.
Sie tat mir so unendlich leid.
"Hier wären wir", meinte ich wenige Zeit später zu Lu, als wir beide vor Annikas Wohnungstür standen. Erneut betätigte ich die Klingel und drei Sekunden später riss Annika auch schon die Tür auf.
Sie musterte Lu kurz und warf mir dann vielsagende Blicke zu, in welchen sich Mitleid widerspiegelte.
"So, Annika, das ist Luisa, beziehungsweise Lu. Lu, das ist Annika, eine lange und gute Freundin von mir."
"Hey Lu", begrüßte Annika sie mit einem warmen Lächeln.
"Komm doch rein."
Zögernd drehte sie sich noch einmal zu mir und blickte mich an.
Ich nickte ihr aufmunternd zu und wies mit meiner Hand zu Annikas Tür.
Vorsichtig trat Lu ein und senkte ihren Blick unsicher zu Boden.
"Ich zeig dir das Zimmer, in dem du heute schlafen kannst, okay? Du kannst auch noch Tee haben. Oder hast du Hunger?"
Mit diesen Worten drehte sich Annika und führte Lu in ihre Wohnung.
"Danke", flüsterte ich ihr noch hinterher, bevor sie die Tür schloss.
Erleichtert, Lu in sicheren Händen zu wissen, machte ich mich auf den Weg nach Hause.
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Heyyyy💜🫶🏻
Nach zwei Wochen melde ich mich auch mal wieder mit einem neuen Kapitel (mit dem ich auch mal wieder ned ganz zufrieden bin🙃)
Vielen Dank an queen_of_the_99 für die Ideen zu diesem Kapitel.
Ohne dich hätte ich immer noch nicht weitergeschrieben 🫠💜
Und liebe Grüße an Juloverin, ich bin froh dich besser kennengelernt zu haben☺️💜
Schaut gerne bei den beiden vorbeiii💜
Ansonsten wünsche ich euch einen wunderbaren Tag ♡♡♡
LG, Malina💜🫶🏻
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