5. Blockade

Gedankenversunken schaute ich auf den dunklen Holztisch vor mir. In der obersten rechten Ecke lag ein Stapel Bücher, darunter ein einfacher Linienblock und darauf eine kleine Tasche, in der sich ein Bleistift, ein Lineal, ein Radiergummi, etwas Tippex und ein simpler, grüner Plastik Kuli befand. Ein Werbegeschenk von irgend so einer Firma, die Bio Säfte herstellte. Wenn ich es nicht besser wüsste, hätte ich vermutet, dass ich zu diesem Zeitpunkt die Einzige war, die mit so wenig Stiften auskam. Ich hätte wohl vermutet, dass die meisten meiner Mitschüler mit Finlinern und Buntstiften überfüllte Federmappen mit sich rum schleppten. Tatsächlich hatte ich aber festgestellt, dass die Mehrzahl nicht einmal mehr eine Federmappe besaß. Sie besaßen lediglich einen Kugelschreiber. Nicht mehr und auch nicht weniger.

Links von mir saß Chris. Er gehörte zu dieser Mehrzahl. An unseren Tisch, direkt vor uns, grenzte der Tisch unserer neuen Deutsch Lehrerin, Ms. Morgan. Darauf ausgebreitet ein Stapel Blätter, Hefter und sämtliche Ordner. Sie selbst besaß eine kleine Federmappe aus schwarzem Stoff und mit einem bunten Pünktchenmuster verziert. An ihr hing ein kleiner Schlüsselanhänger. Ein kleiner Fotoapparat aus Edelstahl.
Ob sie auch gerne fotografiert? Es liebt Momentaufnahmen zu kreieren und Augenblicke in einem Motiv festzuhalten?
Nur wenige Meter von mir entfernt stand sie. Eine dunkelhaarige Frau, Ende 20, mit traumha-... *hust*... Ich meinte Stahl blauen Augen.

Sie stand vor der Klasse, einen weißen Zettel in der einen Hand und einen matt schwarzen Kuli in der Anderen. Wenn man genau hin schaute, konnte man erkennen, wie sie zitterte. War sie tatsächlich nervös? Ich meine... verübeln konnte ich es ihr echt nicht. Es ist die eine Sache Lehramt zu studieren Aber dann schließlich in einem Raum, voll mit abgewrackten Teenies zu sein und ihnen etwas bei bringen zu wollen, obwohl sich der Großteil einen Scheiß um seine Zukunft und Ausbildung schert und sich vermutlich lieber auf dem Schulklo das Hirn wegkiffen würde, als die wertvolle Zeit des Lebens damit zu verbringen etwas für sein Wissen zu tun, ist etwas anderes. Ja, ich stellte es mir tatsächlich schwierig für sie vor. Allgemein konnte ich mir deutlich ausmalen, wie "schwierig" wir manchmal sein konnten und wie schwer das für unsere so genannten Lehrer sein musste.

Um dies zu belegen bedarf es einem simplen Beispiel. Ein Beispiel, wie ich es schon Tausende Male in meiner Zeit an dieser Schule erlebt habe und es vermutlich noch erleben werde. Ein Beispiel,  welches nahezu jedem Schüler bekannt sein müsste...
Man nehme an es ist Herbst. Das Wetter wird schlechter, die Tage werden mit jedem Mal düsterer und Temperaturen sinken. Es ist die letzte Unterrichtsstunde an diesem Tag. Die Hände schmerzen vom Schreiben und der Kopf eines jeden Schülers hämmert vom nachdenken. Der Lehrer steht vorne und erzählt irgendetwas über Potenzfunktionen. Du selbst sitzt an der Bank, halb zusammengesackt, den Kopf schwer auf dem Arm lastend. Immer wieder fallen die Augen zusammen. Langsam beginnt es sich alles um dich herum zu drehen. In nur wenigen Augenblicken würdest du endlich in das Land der Träume eintauchen. Doch dann... Was ist das? Du siehst in deinem Augenwinkeln etwas kleines oder doch großes, schwarzes am Fenster entlang krabbeln. Mühsam richtest du dich auf und richtest deinen Blick auf die weiße Fensterbank. Ist das ein Käfer oder...? „SPINNE!!!” schreit auch schon jemand aus der zweiten Reihe, bevor du deinen Gedankengang vollenden kannst. Plötzlich geht alles ganz schnell. Alle Blicke richten sich auf die kleine Spinne, (welche doch ziemlich abnormal lange Beine hat... und... Gott... So klein ist sie dann doch nicht) dann, erste Schreie von den Mädchen in der ersten Reihe. Der der der Spinne am nächsten war, springt von seinem Stuhl und rennt Richtung andere Hälfte des Raumes. Die Klasse scheint sich langsam zu beruhigen, als da! Herr Gott! SIE BEWEGT SICH! Die Spinne krabbelt langsam vom Fensterbrett hinab, auf die angrenzende Sitzbank. Mädchen schreien, Schüler und Schülerinnen springen von ihren Plätzen und du könntest schwören, das mindestens ein Mädchen bereits am weinen ist. Alle konzentrieren sich auf das kleine Wesen. Die Blicke sind fokussiert. Keiner wagt es dieses "Ungeheuer" aus den Augen zu lassen. In der Zwischenzeit sind alle aufgestanden und haben einen Kreis drum herum gebildet. Keiner kommt dem "Biest" zu nahe, es könnte einen ja anspringen. Jetzt reißt allmählich das Nervenkostüm des ohnehin schon angepissten Lehrers. Er schnappt das Klassenbuch und Wham... Ein lauter Knall und das was mal die Spinne war gleicht nun eher einer dunklen Tintenfütze. Alle starren ungläubig auf die Leiche. „Wie konnten sie das nur tun?” Ertönt es entsetzt aus der hintersten Ecke des Raumes. Eines der zuvor weinenden Mädchen mischt sich nun ein: „Ja, das arme Tier!” Nun hat unser Lehrer auch den restlichen Glauben an uns verloren. Verzweifelt holt er tief Luft und möchte zu einer Antwort ansetzten, als auch schon die Schulklingel ertönt. Alle schnappen ihre Sachen und hasten aus dem Raum. Sie hinterlassen einen verdutzten Lehrer, der einmal mehr nichts in seiner Unterrichtszeit erreicht hatte.

Ja, man konnte durchaus sagen, wir waren nicht leicht. Ab und zu traten mal mehr oder weniger extreme Fälle dieser Art bei uns aber auch bei anderen Klassen auf. Wir hatten unsere schwierigen Tage. Es gab sogar Momente, in denen empfand ich tatsächlich Mitleid mit den Lehrern. Tja, wie soll ich sagen... SIE tat mir in eben diesem Augenblick leid.

Nach wenigen Momenten der Stille schien sie sich jedoch wieder gesammelt zu haben. Sie räusperte sich und ergriff das Wort. „Also... Bevor wir mit dem Unterricht beginnen checke ich erst einmal die Anwesenheitsliste. Schließlich muss ich ja auch wissen mit wem ich es dieses Jahr zu tun habe.” Sie ließ ihren Blick über die Klasse schweifen. Ihre Lippen zierte ein leichtes Lächeln. Ihr Blick ruhte nun auf mir und mit dem Beenden ihres Satzes zwinkerte sie mir mit einem Auge zu. Ich hingegen starrte sie nur an. Ich erwiderte weder ein leichtes Nicken, noch ein nettes Lächeln. Was mit mir los war? Tja... Wie soll ich sagen... Ich hatte mich verloren. Klingt komisch? Ich weiß. Aber egal was ich auch versuchte, die Türkisblauen Augen hatten mich in ihren Bann gezogen und je länger ich sie anschaute oder wohl eher starrte, desto mehr Schienen mich die ozean-blauen Augen in ihre Tiefe zu ziehen.

Ein dumpfer Druck an meinem Arm ließ mich aus meinen Gedanken auffahren. Ahnungslos schaute ich zu Chris, der mir soeben in den Arm geboxt hatte. Ich schenkte ihm einen genervten Blick, welcher ihm deutlich machte, dass er das nie wieder tun sollte. Er hingegen reagierte gar nicht darauf und gestikulierte mit seinem Kopf in Richtung Ms. Morgan. Unsicher folgte ich seinem Blick und bemerkte wie mich meine Deutsch Lehrerin eindringlich musterte. Sie schmunzelte leicht und fuhr dann fort.

„Dem Armboxer zu Folge nehme ich an, dass du Jessica Annabell Rose Miller bist, nicht wahr?” Ich schluckte. Wie lange hatte ich sie so angestarrt und wie oft hatte sie meinen Namen jetzt aufgerufen, ohne das irgendwer reagiert hatte?
„Mm... Nur... Je.. Jess...” Ohne das ich etwas dagegen hätte tun können blieben mir die Worte förmlich im Hals stecken. „Okay Jess, kein Grund nervös zu sein.” Einmal mehr zwinkerte sie mir zu und wendete sich dann wieder den Rest der Klasse. Ich spürte wie mir Hitze in den Kopf schoss und mein Gesicht sofort einer Tomate glich. Gott war das peinlich. Schleunigst versuchte ich meinen Aussetzer von gerade eben zu vergessen und konzentrierte mich auf den fortlaufenden Unterricht.

Gerade als mein Kopf wieder eine normale Farbe angenommen hatte, war auch Ms. Morgan mit der Anwesenheitsliste fertig.
„Nun, da wir das auch geklärt hätten können wir ja jetzt mit dem Unterricht beginnen.” Ein genervtes Gemurmel breitete sich im Raum aus, wovon sie sich jedoch nicht beirren ließ. „Wenn euch das schon schlecht gelaunt stimmt, wird eure Laune gleich vermutlich vollständig im Keller sein. Ich weiß es ist kein beliebtes Thema, aber behandelt werden muss es trotzdem. Das Thema wird die Lyrik sein.” Sie behielt Recht mit ihrer Vermutung. Kaum hatte sie die letzten Worte ausgesprochen, wurde das vorherige Gemurmel zu einer deutlich verständlichen Diskussion.

„Leute,bitte ein wenig Ruhe. Ich weiß das Lyrik nicht ganz einfach ist und sein wird, besonders weil vor allem eine Interpretation der Gedichte im Mittelpunkt der Thematik steht. Doch da müsst ihr genau so durch wie ich. Um die ganze Situation ein wenig aufzulockern, möchte ich dass ihr zu Beginn der Thematik ein eigenes Gedicht verfasst. Und bevor ihr euch beschwert..., Das Thema eures Gedichtes ist mir egal, genau so wie die Länge. Die einzige Voraussetzung ist, dass sich das Gedicht reimt und das es etwas mit euch zu tun hat. Ob es euer Lieblingsessen ist oder eine Geschichte die ihr erzählen wollt, das ist egal. Seit kreativ und macht etwas draus. Es wird eure erste Note sein.” Mit diesen Worten beendete sie ihren Vortrag und die Klasse schwieg. Ich schaute mich um und sah wie einzelne Leute bereits anfingen mit schreiben.

Nach fünf Minuten der Stille schnellte dann doch ein Finger nach oben. „Ja?” „Wie viel Zeit haben wir für das Gedicht?” Ms. Morgan's Gesichtszüge wurden weicher und sie lächelte leicht. „Ihr habt noch diese Woche Zeit. Nächste Woche sammel ich es ein” Schweigend senkte die Schülerin ihren Blick wieder auf ihr Blatt. Wir sollten allen Ernstes ein Gedicht einfach so aus dem Nichts schreiben? Was dachte sie sich nur dabei? Aber noch wichtiger... Was sollte ich schreiben? Es gab durchaus viele Themen die mir zu diesem Zeitpunkt durch den Kopf gingen, doch Ich war mir nicht sicher ob ich schon bereit war diese auch mit jemandem zu teilen. Immer wieder setzte ich den Stift an und begann irgendwas nieder zu schreiben. Immer wieder endete es in einem zerknüllten Blatt. Ich gab auf. Wie sollte ich etwas in Worte formulieren, was ich selbst nicht wirklich verstand? Natürlich hätte ich es mir einfacher machen können. Hätte über meine Lieblingsfarbe philosophieren können, oder mich über das Schulsystem auslassen können. Aber warum sollte ich über etwas schreiben was mich selbst nicht überzeugte. Außerdem gab es auf den Shit eine Note. Es musste einfach gut werden. Und wenn ich eine Sache gelernt hatte, dann das vor allem tiefgründige Themen ein Schlüssel zu einer guten Benotung waren.

Ich legte meinen Kopf in Meine Hände und starrte auf ein weiteres leeres Blatt Papier. Verdammt nochmal... Was sollte ich nur schreiben?

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