1. Morning Mood
„Jessi?" hallte es durch die Flure unseres viel zu großen Hauses. „Jessica Annabell Rose Miller, du musst in einer halben Stunde an deinem Bus sein also schieb deinen Arsch aus'm Bett und mach dich fertig!" rief meine Mutter nun zum 5. Und letzten Mal an diesem Morgen.
Es war nicht so, als hätte ich sie nicht gehört, oder als hätte ich noch geschlafen. Tatsächlich war ich schon seid einer Stunde wach und starrte mit offenen Augen an die helle Decke meines Zimmers. Als wäre es nicht schlimm genug das heute der 1. Schultag war, begann der Horror natürlich auch noch an einem Montag. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich das ganze Drama schon mit der 10. Klasse beendet. Doch meine tollen Eltern hatten natürlich ihren ganz eigenen Plan für mich. Es war nicht so, das mir Schule nicht lag und meine Eltern das nur nicht einsehen wollten. Nein, leider war es nicht so einfach. Eher das Gegenteil war der Fall. Ich war schon immer die Klassenbeste, der Streber, wie meine Mitschüler, meine so genannten Freunde, mich stets nannten. Doch glaub mir, zu den Leuten, die stundenlang vor den Büchern hockten, um sich nach all der Zeit merken zu können, das bei der Replikation die Wasserstoffbrücken der DNA durch ein Enzym gespalten werden und es dann zu einer Verdoppelung des DNA Strangs kommt, gehörte ich noch nie. Den ganzen Mist mit dem Abitur hatte ich nur meinem Fotographischen Gedächtnis zu verdanken. Ja es hatte seine Vorteile. Ich stand in jedem Fach wo man auswendig lernen musste 1 und bräuchte mir nie Sorgen um meinen Notendurchschnitt machen.
Doch Gott wie ich es hasste an diesen Ort zu gehen. Der Pausenhof war stets überfüllt. Die Unterrichtsstunden waren langweilig. Die kleinen Kinder gingen mir tierisch auf die Nerven und Meine eigenen Mitschüler hielten sich für wichtiger als sie waren. Nicht zu vergessen ist, dass egal wo man hin ging, ganz gleich ob im Raum, auf dem Flur, im Bad oder auf dem Pausenhof, überall roch es nach einer Mischung aus Schweiß und billigem Parfum. Definitiv kein Ort an dem es einem leicht viel sein Wissen zu erweitern. Und die Lehrer machten einem das Ganze nicht viel leichter. Entweder spuckten sie beim Reden, so das man am besten hätte mit einem Regenschirm im Raum sitzen müssen, nuschelten als hätten sie eine Kartoffel im Mund, konnten einfach nicht erklären, oder sie konnten schlicht weg nicht mit Kindern/Teenagern umgehen. Doch das interessierte keinen in meiner Familie. Ich konnte mich weigern wie ich wollte, drum herum kam ich, wie die meisten in meinem Alter, nicht. Ich hatte schlicht weg keine Wahl. Auch das ließ sich aber auf Meine Fähigkeit, sich sämtliche Kleinigkeiten eines jeden Ereignisses zu merken, zurück führen.
Meine Eltern erkannten das "Potential" , wie sie es nannten natürlich schon sehr früh. Es begann ca. Im Alter Von 5, wo auch meine Familie raffte das irgendetwas mit mir nicht stimmte. Ich dachte es wäre normal sich auch nach einem Jahr noch daran zu erinnern, das Josh, aus dem Kindergarten, sich hat am 24. März abholen lassen, weil er beim Verstecken spielen vom Klettergerüst gefallen war und sich eine kleine Schürfwunde am Bein zugezogen hatte. Ich hing es nie an die große Glocke, doch früher oder später kamen auch sie dahinter. Dies war der Zeitpunkt an dem ich sämtliche Kontrolle über mein Leben verlor. Fortan hatten Meine Eltern mein Leben genauestens geplant, ohne das ich jemals eine Chance hatte Von meinem Veto Recht Gebrauch zu machen. Welche Schule ich besuchte, an was für ein College ich später gehen würde und was ich später machen würde. Nichts lag jemals in meiner Hand. Das hieß auch, dass ich mit meinen Noten nicht um ein Medizin Studium drum herum kommen würde. Diese Diskussion hatte ich schon oft hinter mich gebracht. Erfolglos, wenn ich anmerken darf. Alles was ich wollte, war reisen. Ganz gleich wohin. Das war mir egal, hauptsache weg von hier. Es gab nichts was mich hier gehalten hätte. Meine Eltern nervten mich, richtige Freunde hatte ich nicht und mein Freund wäre mit mir mit gekommen. Ich gebe ja zu, ich hatte mir das alles einfacher vorgestellt als es vermutlich gewesen wäre. Doch wenn ich schon studieren musste, dann sollte es Fotografie sein. So hatte ich mir meine Zukunft vorgestellt. Aber nein, egal was für Argumente ich meinen Eltern auch lieferte, eine Chance sie zu überzeugen hatte ich genau so wenig, wie eine Wahl.
Und nun lag ich hier, eingehüllt in meine warme Bettdecke, den Gedanken hinterher hängend, wo ich genau jetzt auch im Flugzeug sitzen könnte, auf dem Weg zu einem fernen Ort, weit weg. Wenn ich mich nicht erneut auf eine sinnlose Diskussion mit meiner Mutti einlassen wollte, dann musste ich jetzt aufstehen. Widerwillig bewegte ich meinen müden Körper zur Seite und ließ mich aus dem Bett auf den harten Kiefernholzboden fallen. Autsch. Härter als ich es erwartet hatte. Auch wenn es eine recht unkonventionell Methode war aufzustehen, wurde ich davon wenigstens munter. Schwer atmend hievte ich mich hoch und taumelte Richtung Kleiderschrank. Schnell zog ich das erst beste an, was mir in die Hände fiel. Bevor ich den Raum verließ warf ich noch schnell einen kurzen Blick in den Spiegel, der die Wand neben meinem Bett zierte. Eine schwarze Skinny Jeans, ein schwarzes Shirt und ein rot-karriertes Flanell Hemd bildeten also heute mein Outfit des Tages. Es mag nicht die süßeste Kirsche auf der Sahne sein, jedoch passte das Outfit zu mir und meinem "neuen" ich. Meine neu gewonnene BadAss-Einstellung hatte ich meiner damaligen besten Freundin zu verdanken. Wir gingen in die 8. Klasse und ich war nicht gerade die Beliebteste. Das sollte sich jedoch nach kurzer Zeit ändern. Als ich mitbekommen hatte, dass mich meine damalige "BFF" nur benutzte um von mir abschreiben zu können und die Hausaufgaben von mir zu bekommen, hatte ich die Schnauze voll von Leuten die meinten sie könnten mit mir tun und lassen was sie wollen. Ich blockte vorerst jegliche Versuche von Leuten sich an mich anzunähern ab, tauschte meine pinken Katzenpullover und meine Neon-farbenen Haarclips gegen löcherne Skinny Jeans mit Nietengürtel und einer dunklen Lederjacke aus, ließ mir Pircings stechen und bekam einen Undercut als neue Kurzhaarfrisur. Voila, eine brandneue Jessi war geboren.
Ein letzter Blick auf die Uhr. Shit. 7.30Uhr, 7.40 ging mein Bus. Hastig griff ich nach meinem Rucksack und stürmte die Treppe hinunter Richtung Bad, wobei ich meinen Ranzen zuvor gegen die Haustür schmiss. Bevor mich noch irgendjemand ansprechen könnte verschwand ich im Badezimmer, die Tür hinter mir abschließend. Schnell spritzte ich mir ein paar kalte Tropfen Wasser in mein Gesicht und kramte auch schon im Wandschrank nach dem Haarspray. Ich legte meine Haare so, das Es einigermaßen gut aussah und tauchte auch schon in eine Wolke von dem klebrigen Spray ein. Noch rasch ein bisschen Mascara auf die Wimpern und Zähne putzen und dann wäre ich so weit. Tja, eigentlich wäre es so gewesen. Doch mal wieder machte mir das Schicksal einen Stich durch die Rechnung. Gerade wollte ich noch die Zahnpasta aus dem Schrank holen, als ich ins Leere griff. Verwundert richtete ich meinen Blick in den Schrank. Fuck. „Verdammt THEO, was hast du mit der scheiß Zahnpasta gemacht?!?” schrie ich durch das Haus, während ich wütend aus dem Badezimmer stürmte. „Dein Bruder ist schon weg. Er ist bei seinem Freund heute mit gefahren.” Ich schwor mir, irgendwann würde er das zurück bekommen. Noch gestern hatte ich die Tube erst neu aufgemacht und jetzt war sie weg, vermutlich leer, bloß weil der Kleine dachte, er könne sich mit mir anlegen.
Ich atmete schwer aus und ging in die Küche um mir mein Schulbrot zu nehmen. Wehmütig blickte ich aus dem Fenster und erneut würde ich an diesem Tag enttäuscht. Es regnete immer noch und jetzt sogar noch stärker als vorhin. An sich lieber ich Regen. Er passte stets perfekt zu meiner morgendlichen Stimmung. Es hatte immer etwas beruhigendes an sich, wenn man aus dem Fenster blickte und beobachten konnte, wie die einzelnen Regentropfen sich ihren Weg am Fenster hinab bahnten. Doch Regen bedeutete auch, das ich mich nun beeilen musste, da ich sonst den Bus verpassen würde. Wie die meisten in meinem Alter hatte auch ich einen Moped Führerschein und das dazu notwendige Fahrzeug. Wären meine Eltern auch nur halb so normal wie die Eltern meiner Klassenkameraden, hätte ich mir den ganzen Stress sparen können und heute mit dem Moped zur Schule fahren können. Aber nein. Es hatte mich schon viele Stunden gekostet, Meine Ma davon überzeugen zu können diesen Führerschein überhaupt zu machen aber natürlich auch nur unter einen Kompromiss: wenn es regnete musste ich mir den Bus fahren. Sie war schon immer in Sorge wegen allem und jedem und wollte somit sichergehen, das ich mich nicht wegen nassen Straßen brettern würde. Natürlich wollte ich ein. Hatte ich Eine Wahl? Nicht das ich wüsste, aber das hatte ich jetzt davon.
„Sagmal...” riss sie mich aus meinen Gedanken, nachdem sie sich zu mir in die Küche gesellte. „Huh?” „Wieso machst du das? ” verwirrt wendete ich meinen Blick vom Fenster ab und schaute sie an. Sie saß noch im Bademantel am Küchentisch und nippte gerade an ihrem Kaffee. „Was meinst du?” fragte ich genervt, während ich mir müde die Augen rieb. Ich spürte wie sie mich eindringlich musterte und Ihr Blick immer wieder von oben nach unten an mir hinab wanderte. Nach wenigen Sekunden der Stille fuhr sie fort: „Warum zieht du dich immer so an?” „Wie meinst du das?” „Naja so... so...” „So.. Was mom?” fuhr ich sie entgeistert an. Wenn sie ein Problem hatte sollte sie es mir sagen. Ich hasste es einfach wenn Menschen nicht auf den Punkt kamen. „So... Männlich.” Und da war er. Der Punkt an dem ich mich selbst vergaß. Bevor ich jedoch antworten konnte, setzte die noch einen drauf. „Du bist doch nicht etwa... oder?” „Oder was MOM? Na los, spucks schon aus! Was kann so schlimm sein das du es dir nicht wagst es auszusprechen?” zischte ich sie an. Es regte mich einfach auf. Ich wusste das irgendwann dieses Gespräch kommen würde, da ich nun mal nicht immer perfekt ladylike gekleidet war. Aber wen juckts? Mich definitiv nicht. Tja, Meine Ma war was all das anging eher altmodisch eingestellt. „Du bist doch nicht etwa... Trans... oder?” „Gott nein! Was wollt ihr bloß alle heute Von mir? Selbst wenn es so wäre, wo wäre das Problem? Verdammt wir leben im 21. Jahrhundert, komm mal klar.” brüllte ich durch das Haus. Ich weiß, ich weiß, das war nicht gerade die feinste Art mit seiner Mutter zu reden, aber es regte mich einfach alles auf. Und da war einfach der Punkt erreicht, wo das Fass überlief.
Bevor das ganze noch weiter eskalierte, schnappte ich mir meinen Rucksack und meinen Schlüssel und stürmte zur Tür hinaus. Hinaus in den strömenden Regen, wobei ich vor lauter Aufregung vergessen hatte meine Jacke anzuziehen. Scheiße. Schlimmer hätte dieser Tag echt kaum anfangen können. Ich steckte mir noch schnell einen Pfefferminzkaugummi, den ich noch in meiner Hosentasche gefunden hatte, in den Mund und machte mich auf zur Bushaltestelle, die sich direkt auf der gegenüberliegenden Straßenseite befand. Ich atmete noch einmal tief durch, als ich auch schon die hellen Lichter des Busses am Horizont aufleuchten sah. Geschafft und schlimmer konnte es ja kaum noch werden, oder?
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