Totalschaden~ Papiermaulbaum Teil 2 🍂💥🍁
~•••~
~ Totalschaden ~
von noensparty
Papiermaulbeerbaum - Broussonetia papyrifera
~ Herbstzeitlose, wuseln, olivgrün, Apfeltee, Häufchen ~
~•••~
Ein seltsames Prickeln erfasst mich am Nacken, wie gestern Nacht und mit einem Mal stehe ich unter Strom. Erschrocken blicke ich zurück, wirbele herum und sehe wieder diese funkelnden eisblauen Augen vor mir. Seine Haare, diesmal wild und offen. Statt eines dunkelgrauen Anzugs trägt er eine tiefsitzende Jeans und ein weißes Poloshirt darüber, oben aufgeknüpft. Mir verschlägt es kurz die Sprache.
"Du gehst nicht an dein Telefon", stellt er ganz richtig fest, während ich versuche mich zu sammeln.
Erschöpft lasse ich mich auf mein rudimentäres Bett fallen, sehe zu ihm auf.
"Ich hab' das Geld nicht", murmle ich wahrheitsgemäß.
Ben hinter ihm macht eine Handbewegung in meine Richtung und geht in die Küche, lässt mich damit mit dem Kerl allein. Fassungslos schüttle ich den Kopf.
Arik vergräbt die Hände in den Taschen, mustert mich kurz. Es fällt mir schwer den Blick zu erwidern, eine seltsame Spannung scheint in der Luft zwischen uns zu liegen. Er kommt ein paar Schritte auf mich zu und sieht sich um, sein Blick zeigt mir deutlich, was er denkt. Und dass ich hier nicht wirklich wohne, scheint ihm auch klar.
"Dachte ich mir schon...", beginnt er.
"Was ist mit deinem Auto?"
"Totalschaden", gebe ich leise von mir.
"Hmm...", er presst die Lippen zusammen, "das tut mir leid."
Erstaunt sehe ich zu ihm auf.
"Warum sollte dir das leidtun?"
"Naja, es war sicher dein erstes Auto."
"Schon...", stammele ich.
"Sowas ist hart... und mit der Versicherung... warum hast du die nicht bezahlt?"
"Dachte ich hätte...", gebe ich schwach von mir. "Oder meine Mutter.... hat sie aber nicht..." Ich presse die Lippen zusammen.
Und in seinem Gesicht blitzt die Erkenntnis auf, mit was für einem Loser er es hier zu tun hat. Ein Seufzen entweicht mir und ich kann seinem forschenden Blick einfach nicht mehr standhalten.
"Ist ja jetzt auch zu spät...", murmele ich, habe dabei das Gefühl, dass jegliche Kraft, die bis eben noch in meinem Körper war, gerade aus mir entweicht.
Arik seufzt jetzt ebenfalls, scheint sprachlos. Er blickt aus dem Fenster, nagt nachdenklich an seiner Unterlippe. Schöne volle rote Lippen, denke ich und ermahne mich direkt für diesen dummen Gedanken. Nichts was da in meiner Fantasie ist, wird jemals die Realität erreichen.
Selbst er hat so schnell erkannt, was für ein Häufchen Elend er da vor sich hat und kann es kaum noch ertragen.
Die Stille in dem Raum wiegt schwer auf meiner Brust. Ich will etwas sagen, zeigen, dass ich so, wie gerade, eigentlich gar nicht bin. Dass ich eigentlich ein lebensfroher Typ bin, mit dem man wirklich Spaß haben kann... Doch wer würde mir das gerade noch glauben?
Ben kommt endlich zurück, sieht erst mich und dann Arik fragend an.
"Sorry, Jona ist immer was unfreundlich. Wasser, Bier?" Er hält ihm beides als Wahl unter die Nase. Arik greift nach der Wasserflasche.
"Danke", nuschelt er.
Er trinkt ein paar kräftige Schlucke, stellt es dann auf den kleinen Tisch vor mich. Wieder treffen mich seine Augen und ich muss schwer schlucken. Ich weiß nicht, ob es an seinen hellen Augen liegt oder an seinem Blick. Jedes Mal, wenn er mich ansieht, trifft es mich wie ein Blitzschlag.
"Jona also... nicht Jonathan", stellt dieser vor mir ganz richtig fest.
Ich verziehe die Mundwinkel, meinen richtigen Namen spricht seit Jahren niemand mehr aus, nur meine Eltern hielten daran fest.
"Jepp, Jona"
"Rik, oder Ari, wie du magst", er lächelt dabei.
Skeptisch blicke ich ihn an. Deutlich überrascht, dass er noch immer nicht einfach die Flucht ergriffen hat. Ari klingt süß und passt nicht wirklich zu dem hochgewachsenen Blonden. Ich bin erstaunt, dass er mir diesen so ohne Weiteres verrät, wo er mich doch eigentlich gar nicht kennt.
"Gibt's 'ne Chance, dass ich dir das Geld irgendwie in Raten zurück zahlen kann...?" Ich sollte wenigstens so tun, als wollte, als könnte, ich den Schaden begleichen. Irgendwann.
Einen kurzen Moment sieht er mich an, scheint abzuwägen, dann nickt er.
"Sicher", er kramt ein schwarzes Leder Portemonnaie aus seiner Gesäßtasche und zieht eine Visitenkarte hervor.
"Falls du meine Nummer nicht gespeichert hast, steht sie hier drauf, meld' dich einfach, ok? Oder komm zu mir in die Firma, dann klären wird das."
Ein kurzes Lächeln gleitet über seine Lippen, er mustert mich ein letztes Mal genau. Seine Augen wandern von den letzten Spuren des Unfalls, an Stirn und Nase zu meinen Lippen hinab - als wolle er damit sicher gehen, dass alles ok ist. Sein Blick dabei wirkt deutlich besorgt, aber es liegt auch ein seltsames Funkeln darin, das ich einfach nicht deuten kann.
Dann hebt er die Hand zum Abschied und geht. Ich blase die Luft aus der Lunge, unbewusst muss ich sie angehalten haben. Ich rieche wieder sein teures Parfüm, das noch in dem Raum verweilt, obwohl er schon längst fort ist.
Verwirrt schüttle ich den Kopf. Er war anders, ganz anders als ich erwartet hatte. Arik war irgendwie entspannter als gedacht und nett... und viel zu alt für mich, denke ich frustriert. Und warum denke ich überhaupt über so etwas nach? Rücklings lasse ich mich auf mein provisorisches Bett zurückfallen.
*
In den nächsten Tagen habe ich wieder und wieder seine Visitenkarte in der Hand, bis sie schon ganz abgenutzt und zerknittert ist. Doch ich kann mich einfach nicht überwinden, kann ihn einfach nicht anrufen. Es würde ja doch nichts ändern.
Doch nach einer Woche nötigt mich Ben zu ihm zu gehen, bevor die Polizei hier noch vor der Tür steht - das Letzte, was ich gerade noch gebrauchen kann, wie er meint.
So stehe ich zwei Wochen nach dem Unfall vor einem schicken modernisierten Altbau, gar nicht weit weg von meiner heimlichen Lieblingslocation und betrete eine Firma, die sich anscheinend auf Software Entwicklung spezialisiert hat.
Ich habe nicht viel mehr als mich selbst dabei und die Klamotten, die ich am Leib trage, plus die 100 Euro, die mir Ben geliehen hat, als Anzahlung oder wie er sagte "Symbol meines guten Willens".
Mir läuft die Zeit davon. Das weiß ich selbst.
Mit einem mulmigen Gefühl fahre ich hinauf und der Fahrstuhl hält in der dritten Etage. Ich höre Stimmen, Fußgetrampel, bevor der Aufzug sich öffnet. Eine Frau mit blondem Haar sieht mir skeptisch entgegen, neben ihr, zwei ältere Herren im Anzug.
Ich gehe aus dem Fahrstuhl und sie führt sie hinein.
"Schön, dass es so kurzfristig geklappt hat!", trällert sie ihnen zu.
"Ich setze dann gleich die Verträge auf."
Dann schließt sich die Aufzugtür wieder und ich sehe mich dieser Fremden allein gegenüber.
Nervös fingere ich an dem Ärmel meines Hoodies herum, schaffe es nicht sie richtig anzusehen. Ihr Haar ist zu einem strengen Dutt zusammengebunden, ihre Lippen knallrot, ihre Augen dazu dunkel touchiert. Sie wirkt in ihrem dunkelgrauen Blazer streng, vielleicht ist es auch ihr Blick auf mir. Ihr Mustern fühlt sich an wie tausend kleine Messerstiche und erinnert mich an meine alte Mathelehrerin.
Ich habe gar nicht darüber nachgedacht, was ich anziehe, dachte mit einer dunklen Jeans und Hoodie kann man nichts falsch machen...
"Kann ich Ihnen helfen?" Die Verachtung in ihrer Stimme ist kaum zu überhören.
"Jona Belling", murmele ich. "Ich wollte zu Arik." Warum mich mit Höflichkeitsfloskeln herum schlagen, wenn sie mich eh wie Dreck behandelt?
"Ja sicher!", sie rümpft die Nase.
"Sind Sie wegen der Praktikumsstelle hier? Dann kann ich Ihnen direkt sagen, in dem Aufzug brauchen Sie gar nicht erst zum Vorstellungsgespräch gehen."
Ich verdrehe die Augen und sie sieht es.
"Ist was Privates", gebe ich mutig von mir und muss grinsen. Die Vorstellung, dass mich mit diesem schönen Mann mehr verbindet als ein dämlicher von mir herbeigeführter Unfall - verlockend.
Doch es wirkt. Zwar schüttelt sie den Kopf, geht dann jedoch hinter den weißen Tresen zu ihrem Platz und telefoniert kurz. Dabei nennt sie meinen Namen und legt kurz darauf auf.
"Die letzte Tür im Gang", gibt sie mir knapp zu verstehen und kann es dabei einfach nicht lassen, die Augen zu verdrehen. Unglaublich!
Doch es juckt mich nicht, irgendwie fühle ich mich seltsam überdreht auf dem Weg zu Ariks Büro.
Ich öffne die Tür, sehe seine hochgewachsene, schlanke Gestalt und muss mir ein leises wohliges Seufzen verkneifen. Er steht vor einer breiten Fensterfront, scheint so in Gedanken, dass er mich gar nicht bemerkt.
Er trägt wieder einen Anzug oder zumindest einen Teil davon, eine Anzughose, die im oberen Drittel, eng seinen runden Po umschmeichelt. Darüber trägt er ein weißes, leicht durchsichtiges Hemd. Ich erkenne darunter die Muskeln an seinem Rücken, an seinen Armen.
Verdammt, er gefällt mir wirklich. Sofort ist dieses tiefe Kribbeln in mir wieder da und ich kann einfach nicht aufhören, mit meinen Augen seinen schönen Körper abzufahren. Seine Haare sind wieder nach oben gebunden. Ein paar hellere Strähnen haben sich gelöst. Ganz anders als das relative kurze wilde Pechschwarz auf meinem Kopf, das mir in Strähnen wieder und wieder in die Stirn fällt.
Arik wirkt wie das komplette Gegenteil von mir: groß, gut gebaut, muskulös und dabei dieses schöne, charmante Lächeln im Gesicht.
Ein leises Seufzen entweicht, wohlig und auch nervös zugleich dringt es meine Kehle hinauf.
Lächelnd dreht Arik sich zu mir um.
„Jona, schön dass du es geschafft hast." Er mustert mich doch im Gegensatz zu seiner Sekretärin lächelt er dabei wieder dieses verlockende, abgerückte Lächeln.
„Wie geht's dir?" Die Frage überrascht mich.
Ich zucke mit den Schultern.
„Naja"
Dann zeigt er auf eine Tür. Sie ist aus Glas und dahinter erkenne ich eine Art Feuerleiter, die weiter hinauf führt.
„Wir sollten in Ruhe reden."
"Klar", gebe ich etwas irritiert von mir, darum bin ich wohl hier, um das zu klären und nicht meiner verrückten Fantasie mit ihm nach zu hängen.
Er lächelt mir im Vorbeigehen nochmals zu und wieder erfasst mich ein solcher Schauer, dass ich kurz innehalten muss, um tief durchzuatmen. Wow.
Dabei sollte ich gar nicht sowas denken! Alles in mir schreit, geh, bau' nicht wieder so einen Mist - doch dann folge ich ihm, wie in Trance, Stufe für Stufe immer weiter hinauf und bin plötzlich ganz weit weg von der Großstadt unter uns, in einem Garten, den ich so in der Anordnung und vor allem auf einem Dach noch nie gesehen habe.
Die meisten Blumen und Sträucher hier sind bereits verblüht, doch dazwischen erkenne ich schlichte und elegante Zweige mit roten runden Blüten daran. Wie kleine leuchtende Lampions erstrecken sie sich zu meiner rechten und linken Seite.
Wie ist das möglich?, denke ich fasziniert. Im November, bei der Kälte?
Ich habe null Ahnung von Botanik, aber ein solches Wunder an Pflanzen fällt sogar mir direkt ins Auge.
Kurz vergesse ich, warum ich eigentlich hier bin und drehe mich erstaunt um die eigene Achse. Arik dreht sich zu mir und lächelt wieder. So gar nicht wütend. Im Gegenteil - entspannt, fast fröhlich, trifft es.
Der Ort hier wirkt wie eine andere Welt und ich fühlte mich plötzlich leicht und entspannt, nicht mehr dunkel und traurig.
Ich verstehe es selbst nicht wie das möglich ist. Ich habe sein Auto geschrottet, keine Versicherung und ihm bisher nur Probleme bereitet und trotzdem lächelt er mir so ehrlich entgegen.
"Gefällt es dir?" Irritiert sehe ich ihn an, weiß einen Moment nicht, ob er sich oder den Garten um uns herum meint.
Ich muss leise kichern über die Annahme.
"Ähm, ja", sage ich schließlich und entscheide mich damit auf beides zu antworten.
Der Mann mit den blonden Haaren hat sich still und heimlich in mein Herz geschlichen. Ich weiß selbst nicht, wie das möglich ist, nach Max. Doch ich kann es nicht weiter leugnen, spüre dieses Kribbeln und Ziehen in meiner Brust so deutlich, wenn ich ihn jetzt ansehe. Und egal wie lange ich ihm gerade entgegensehe, er wendet den Blick nicht ab.
Unser erstes Zusammentreffen, ein lauter Knall in meinem Leben und es hat mich an den Abgrund gebracht, doch schlussendlich hat es mich auch hierher geführt, zu ihm, an diesen abgerückten Platz auf der Welt.
"Wunderschön, oder?", murmelt er und streicht über eine runde, rote Blüte neben sich.
Ich nicke, starre aber statt der Blumen weiter ihn an.
"Herbstzeitlose Blüter, wie man so schön sagt, Papiermaulbeerbaum."
Mein fragendes Gesicht lässt ihn weitersprechen.
"Das bedeutet eigentlich nur, dass es für die Jahreszeit äußerst ungewöhnliche Blumen sind, die sogar der Kälte trotzen."
Ich nicke, mir fällt nichts ein, was ich darauf erwidern soll außer, dass sie wirklich hervorstechen, so wie er.
Arik geht weiter und ich folge ihm, wir kommen zu einem verglasten Gartenpavillon und er zeigte auf zwei ziemlich massiv aussehenden Holzstühle, die direkt vor einem Tisch stehen.
"Hier können wir in Ruhe reden."
Es verwundert mich, unten in den Büroräumen hatte ich mindestens zwei Besprechungsräume gesehen.
"Ok...", sage ich zögerlich und setze mich, Ariks wachen Augen mustern mich lächelnd und seltsam wissend.
"Hast du wirklich gedacht, dass ich dir eine Standpauke halten würde?"
Ich zucke mit den Schultern.
"Schon, ja", gebe ich ehrlich zu.
Er lacht auf, schüttelt den Kopf.
„Wirke ich so alt auf dich?" Erschrocken reiße ich die Augen auf.
„Was? Nein! Überhaupt nicht", er grinst.
„Puh, Glück gehabt", lacht er. Wir starren uns an, die Stimmung wirkt plötzlich so losgelöst.
"Ist nicht meine Art, vielleicht sollte ich mehr so sein, als Unternehmer, aber bisher schien mir das nicht nötig, vor allem nicht bei dir", er lächelt so sanft und mir bleibt kurz der Atem weg. Vielleicht liegt es auch an dem hauseigenen Drachen darunter, denke ich amüsiert, halte aber den Mund.
"Und gut, Miss Eppelborn hält die meisten direkt an der Haustür ab, du hast sie ja bereits kennengelernt."
Ich verdrehe die Augen. Oh ja.
"Nimm's ihr nicht übel, aber wenn hier jeder einfach rein spazieren könnte, würde ich gar nicht mehr zum Arbeiten kommen.
"Ok..."
Ich habe keine Ahnung, was es bedeutet ein solches Unternehmen zu leiten. Sicher hat Arik wenig Zeit. Und eigentlich finde ich es schon ungewöhnlich, dass er sich für mich so viel davon nimmt. Erst der Besuch bei Ben und jetzt hier... auf dem Dach... allein. Mein Herz schlägt schneller und schneller.
Es geht nur um den Schaden, nur darum bin ich hier, versuche ich mir weiter einzureden, während Arik mich weiter so still und entspannt betrachtet. Es bringt mich vollkommen aus dem Konzept.
Irgendwas muss ich sagen und anbieten - wir würden uns einigen müssen, wie ich den Schaden begleichen kann. Ich versuche mich zu konzentrieren, zu sammeln.
"Ich denke, ich kann dir monatlich etwas zurückzahlen... nicht viel... aber...", ich zerre den Hunderter von Ben hervor, will ihn auf den Tisch legen, doch Arik hebt die Hand und stoppt mich damit.
„Jona, ich denke dich hat der Unfall viel mehr getroffen als mich."
Verwirrt sehe ich ihn an.
„Du hast dein erstes Auto verloren, wurdest verletzt...", fährt er fort. Kümmert ihn das wirklich?
„Ich denke, das ist doch Strafe genug, oder?"
Ich nickte zögerlich, kann seine Worte kaum fassen.
"Hör mal, ja vielleicht wäre es ratsam so etwas zu vereinbaren, aber ehrlich, mein Auto ist längst repariert und sollte ich dir wegen einem kleinen Blechschaden weiter dein Leben versauen?"
"Weiter?"
Er räuspert sich.
"Tut mir leid", er streicht sich über sein Haar, wirkt plötzlich nervös.
"Das geht mich nichts an, aber die Tatsache, dass du keine Versicherung hast und wohl bei einem Freund untergekommen bist... naja... warum sollte ich dir noch mehr Steine in den Weg legen?"
Ich bin mir grade ganz und gar nicht sicher, ob ich Mitleid von dem schönen Mann vor mir wollte. Mir ist es so schon unangenehm genug, dass er so klar eins und eins zusammenzählen konnte und erkannt hatte, dass mein Leben gerade der größte Müll ist.
"Mir geht es gut", presse ich hervor und da ist auch der deutlich gebrochene Stolz in meiner Stimme zu hören.
"Ich werde dir das Geld zurückzahlen, vielleicht nicht morgen, aber irgendwann."
Er schüttelt den Kopf.
„Jona", beginnt er mit ruhiger Stimme, "Ich wollte dir damit nicht zu nahe treten, wirklich nicht, ich kann dich verstehen..."
Zweifelnd schiebe ich die Augenbrauen zusammen.
Statt weiter zu reden, steht er auf und öffnet einen hellen Schrank, dahinter verbirgt sich eine Art Minibar. Er holt einen kalten Weißwein und zwei Gläser hervor, hält sie fragend hoch, ich weiß nicht wie ich darauf reagieren soll.
„Ich mach' für heute Feierabend", grinst er.
„Ok..."
Er setzt sich wieder, öffnet die Flasche und gießt sich ein. Fragend sieht er wieder zu mir.
"Oder willst du ein Bier, eine Coke? Kaffee?"
Ich muss kurz lachen, er klingt wie ein Kellner und er will mich bedienen.
"Ähm... Weißwein ist schon ok."
Er grinst, nickt und gießt mir dann ebenfalls ein.
Wir stoßen an.
"Auf ein ungewöhnliches Zusammentreffen", sagt er. Gläser klirren und ich muss kichern.
Sein Blick ruht weiter auf mir, dieses wohlige Gefühl breitet sich tiefer und tiefer in mir aus. Ich nippe, es schmeckt köstlich, kühl, fruchtig, lecker.
Ich merke wie ich immer entspannter werde in seiner Gegenwart. Das hier, diese Abgeschiedenheit auf dem Dach, diese fast unwirkliche Umgebung mit den roten Blüten und dieser viel zu schöne Mann von mir... mein Verstand driftet mehr und mehr ab.
„Warst du zufällig vor ein paar Wochen in der Stresemannstraße?"
Verwirrt blickte ich ihn an, die Erinnerung, der Schatten, sein Duft, kann das wirklich er gewesen sein? Etwas unsicher nicke ich.
Er lächelt, breit, so dass ich seine schönen hellen geraden Zähne sehe.
„Dachte ich mir doch, dass ich dich dort gesehen habe", er seufzt, es klingt entspannt.
"... und dein Geruch...", setzt er hinzu. Erschrocken umklammere ich mein Glas fester.
"Was?", keuche ich.
Er stellt sein Glas ab, blinzelt mir zu.
"Naja, den hätte ich wohl überall wiedererkannt."
"Ich stinke?", frage ich abgehakt, bin einfach nur verwirrt.
Er lacht, schüttelt den Kopf.
"Nein, Gott bewahre! Du riechst wirklich", ein verträumtes Lächeln liegt auf seinen Lippen, "gut."
Oh.
Er räuspert sich.
"Entschuldige, das ging zu weit... ", murmelt Rik und fingert an dem Stiel von seinem Glas herum, blickt das erste Mal an mir vorbei.
"Was, nein!", gebe ich rasch von mir. Diese Offenbarung - ist es also doch mehr, was er in mir sieht, als einen armen Jungen, der halb auf der Straße lebt?
Jetzt oder nie, denke ich mutig.
"Ich mein... ich hab' dich auch gerochen", nervös kichere ich wieder. "I-ich würde deinen Geruch auch überall wieder erkennen", ich knabbere nervös an meiner Unterlippe.
"Und deine Stimme...", füge ich noch hinzu und nehme einen tiefen Schluck aus meinem Glas.
Wir sehen uns an, wissend, verstehend. Gerade fühle ich mich einfach verdammt glücklich. Dieses Gefühl hatte ich seit Max Weggang nicht mehr. In mir ist alles in Aufruhr, jede Zelle in meinem Körper wuselt umher, dreht mich Kopf und lässt alles umherwirbeln.
Ich bin verliebt.
Wir lächeln uns an, trinken noch ein paar Schlucke Wein und keiner kann den Blick von dem anderen abwenden. Die Sonne ist bereits im Begriff unterzugehen, es wird kälter, doch selbst das stört mich nicht, ich würde die ganze Nacht hier bleiben, wenn Arik nur bei mir ist.
Arik atmet tief durch, nimmt einen letzten Schluck aus dem Glas und stellt es dann ab.
"Lass mich ehrlich zu dir sein", beginnt er.
Es dauert einen Moment bis er weiter spricht, als hätte er mit den Worten, die ihm im Mund liegen, wirklich Schwierigkeiten. Ich werde wieder nervös, habe keine Ahnung, was er mir jetzt sagen wird.
"Ich war bis vor einem Jahr fast zehn Jahre verheiratet, habe einen 12-Jährigen Sohn..." Ich muss schlucken, versuche ihn aber weiter reden zu lassen.
"Jona, ich bin kein unbeschriebenes Blatt und das ich plötzlich über einen Jungen, der fast 14 Jahre jünger als ich ist, nachdenke, ist mir auch vollkommen neu."
Absolute Ehrlichkeit, die mich sprachlos zurücklässt. Es fühlt sich ein wenig an, als wäre der Unfall gerade nochmal geschehen. Ich fühle mich, als wäre ich irgendwo gegen geknallt. Mein Kopf dröhnt wieder so seltsam und mir wird schwindelig.
„Oh", mehr kann ich darauf nicht erwidern.
Er streicht sich über sein Gesicht.
„Tut mir leid, das war wohl zu viel Wahrheit auf einmal - ehrlich, ich wollte dich nicht verschrecken..."
Ich seufze. In meinem Kopf sehe ich wie sich ein Film abspielt - Arik, sein Sohn, der aussieht wie eine Miniaturausgabe von ihm und seine sicher wunderschöne Ex-Frau, die mich beide ansehen, als wäre ich der Teufel persönlich, der in ihre Seifenblasenwelt eindringt...
Das hat doch keine Zukunft, ich würde wieder nur alles durcheinander bringen.
Ein trauriges Seufzen perlt von meinen Lippen.
Kaum merklich schüttele ich den Kopf, habe den Drang aufzustehen und zu gehen. Was tue ich hier überhaupt? Ich habe bei Arik schon genug Schaden angerichtet, ich sollte es beenden bevor es anfängt weh zu tun. Auf beiden Seiten.
Enttäuscht sieht er mich an und ich auf ihn hinab.
"Ich will dir keinen Ärger machen", murmele ich matt.
Er reißt die Augen auf.
"Ärger?"
"Mit deiner Familie, deinem Sohn... ich würde nur dazwischen stehen..."
Arik steht jetzt selbst auf, macht ein paar Schritte auf mich zu. Ich sehe, wie er zögert, auf meine Hand starrt. Bevor ich es verstehe, greift er danach.
Ein viel zu gutes, warmes Gefühl geht von der Berührung aus und ich kann einfach den Blick nicht abwenden, das Eisblau darin, das in dieser Winternacht so schön funkelt.
"Du machst mir keinen Ärger!", flüstert er und streicht mit seinem Daumen über meine Handoberfläche. "Niemals!"
Ich umgreife leise keuchend seine Hand fester.
"Ich habe jahrelang versucht das in mir", dabei zeigt er auf sein Herz, "zu verdrängen, geheim zu halten, aber dann... ging es einfach nicht mehr", seufzt er und ich kann in seinem Gesicht ablesen, wie viel ihm das abverlangt haben muss.
"Sie weiß es mittlerweile, wir wohnen 400 Kilometer auseinander, ich sehe meinen Sohn nur noch alle zwei Wochen, das ist das Schlimmste daran... aber weiter mit einer Lüge leben konnte ich auch nicht... glaub mir, es war das schwerste Opfer, das ich jemals bringen musste..."
Er seufzt und ich sehe die Betroffenheit, den Kummer, die schlaflosen Nächte in sein Gesicht gezeichnet, es lässt ihn in dem Moment älter wirken. Und doch... jedes Fältchen in seinem Gesicht, eingebrannt vom Leben, macht ihn so lebendig, so wunderschön für mich. Meine Finger verschränken sich mehr und mehr mit seinen.
„Also...", stammelt er und eine plötzliche Röte steigt seine Wangen empor.
„Könntest du dir vorstellen mit mir auszugehen?"
Ich grinse.
„So eine Art Date?", in mir schreit es bereits ja und als Antwort lasse ich einfach meine freie Hand nach vorne schnellen, berühre seine Wange und streiche darüber.
„Wow", keucht er und sein Gesicht neigt sich meiner Berührung entgegen.
Seine Lippen verziehen sich zu einem süßen, schiefen Grinsen und ohne weiter darüber nachzudenken, stelle ich mich auf Zehenspitzen und drücke meinen Mund gegen seinen. Es fühlt sich an wie ein Funkenschlag, wie ein Tornado. Einfach unglaublich.
Nach all den Monaten treibt der Kuss die Dunkelheit und Traurigkeit aus jeder Pore meines Körpers, schleudert sie weg und macht Platz. Platz für Licht und Hoffnung und Arik.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top