Totalschaden ~ Papiermaulbaum Teil 1 🍁💥🍂

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~ Totalschaden  ~

von noensparty

Papiermaulbeerbaum - Broussonetia papyrifera

~ Herbstzeitlose, wuseln, olivgrün, Apfeltee, Häufchen ~

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Herbstlaub auf den verregneten Straßen, Scheinwerfer, die die Fahrbahn wie ein Meer aus winzigen Diamanten glitzern lassen. Menschen, die in allen Richtungen die Gehwege säumen und der tiefschwarze Himmel darüber, der so bedrohlich über all unseren Köpfen hängt. Sie eilen an den großen Schaufensterfronten entlang, ständig in Hetze, ständig auf der Suche nach etwas und das Leben strömt als Spur kleiner Rauchkringel aus ihren Mündern.

Die Eiseskälte zieht durch die Fenster meines Autos, beginnt die Scheiben von innen zu beschlagen. Ich fange an zu frösteln. Stop-and-go, wohin man auch blickt. Der Gedanke, einfach auszusteigen und zu gehen, ist verlockend groß in mir. Die letzten hundert Meter hätte ich genauso gut laufen und mich in die Reihe der Menschen um mich herum eingliedern können.

Vor mir herrscht gerade der große Stillstand.

Ich blicke zum Himmel, nicht ein Stern, nur Regen und Dunkelheit. Meine Hand fährt wie fremdgesteuert an mein Herz. Es schlägt schneller und schneller und ein Seufzen entweicht mir. Ich fühle mich ähnlich wie meine Umgebung, betrübt und mit einer immerwährenden, wolkenverhangenen Decke über mir.

Ich schließe die Augen. Meine Gedanken driften ab, weit weg von hier. Ich sehe eine mich blendende Sonne, ein Gesicht, das sich davor schiebt mit blonden verstrubbelten Haaren, gebräunter Haut und einem breiten Lächeln darin - so wissend, so schön. Dieser Junge, den ich fast mein ganzes Leben kenne, der dabei direkt auf mich zusteuert, als hätte es das letzte Jahr zwischen uns gar nicht gegeben. Als wäre zwischen uns alles wie immer gewesen - heimlich, verschlossen - ein nie ausgesprochenes Geheimnis und doch hatte es funktioniert, zumindest bis vor anderthalb Jahren.

Doch an dem schwülen Sommertag, bei unserem ersten Wiedersehen seit den vielen Monaten ohne jeden Kontakt, war alles anders gewesen, direkter, deutlicher und wir haben keinen Gedanken daran verschwendet, dass uns jemand sehen könnte. Wir waren ausgehungert, nicht mehr in der Lage unser Handeln wirklich zu steuern.

Wie in einem Film sehe ich es vor mir - dieses unwiderstehliche schiefe Grinsen, seine Finger, die über meine Schulter strichen, seine Lippen, die die meinen berührten und dann mehr und mehr mit ihnen verschmolzen.

Wie hätte ich da auch widerstehen können? Wie auch nur einen Gedanken an die möglichen Folgen gehen lassen? Ich war einfach abgetaucht, sprichwörtlich vor Max auf die Knie gefallen und hatte mich wie ein Süchtiger über seine Lust darunter hergemacht.

In meinem Kopf sehe ich diesen Moment, als wäre kein Tag, keine Wochen, keine Monate vergangen - als wäre es erst gestern passiert. Und leider sehe ich auch zu deutlich den erst erschrockenen und dann angewiderten Blick meines Vaters auf mir. Selbst meine Reaktion darauf, jetzt, hier, so viel später, ist dieselbe. Scham, dunkel und klebrig schiebt sie sich meine Kehle hinauf, lässt meinen Körper erbeben.

Ein lautes Hupen reißt mich aus meinen Gedanken, erschrocken drücke ich aufs Gas und ein Knall folgt, laut dröhnend und ich werde ruckartig nach vorne gerissen. Ein heftiger Schmerz folgt.

Plötzlich sind die Augen der Statisten um mich herum, in dieser kleinen Welt inmitten der Großstadt, nur auf mich gerichtet.

Ich höre wie der Motor meines Golfs durchdreht, Metall birst und schmerzhafte, bleierne Dunkelheit mein Sichtfeld überzieht.

Mit verschwommenem Blick reiße ich mich von dem Lenkrad, fühle die warme Flüssigkeit daran, streiche mir benommen übers Gesicht.

Vor mir ein massiger, olivgrüner Jaguar und ich deutlich zu nah dran, hänge direkt auf seiner Stoßstange.

Ich ächze, starre von dem Auto auf meine Hände, alles rot und es wird mehr und mehr.

Meine Nase, mein Kinn, mein ganzer Kopf - alles schmerzt und ist ein einziges Durcheinander.

Ich höre jemanden panisch schreien und die Stimme hört sich seltsam bekannt an. Ich starre dem Bild in meinem Rückspiegel entgegen und erkenne, dass es meine eigene ist.

Ich kneife die Augen zusammen, versuche mich zu sammeln, sehe wie ein schlanker, dunkel gekleideter Mann im Anzug, mit blonden Haaren, der zu einem lockeren Dutt nach oben gebunden ist, aus dem Auto vor mir steigt.

Alles verschwimmt wieder, die Gestalt kommt näher und als er die Tür aufreißt, sehe ich nur noch eisblau, glitzernd wie ein Wintersee, kalt und doch so verführerisch.

Qualm kommt aus der Motorhaube des alten Golfs. Meine Hände beginnen zu zittern, ich sehe wie diese helle Gestalt vor mir die Augen aufreißt und beginnt zu sprechen, doch ich verstehe kein Wort.

Ich höre nichts, außer ein hohes Summen.

Eine Berührung an der Schulter, dann beugt er sich über mich, ein Duft von Lavendel und Sandelholz steigt mir in die Nase und ich umklammere das Lenkrad noch fester. Der Gurt, der sich in meinen Bauch geschnürt hat, löst sich und dann habe ich das Gefühl zu schweben.

Es sind die starken Arme des Jaguarfahrers, die mich aus meinem Auto ziehen, hochheben und behutsam auf den Bordstein legen. Seine Hand, dabei unter meinem Kopf gebettet, sein Blick die ganze Zeit auf mich gerichtet.

Ich lächele und huste zugleich. Schmecke den metallischen Geschmack in meinem Mund. Meine Hand gleitet zitternd nach vorne, ich muss diese Lichtgestalt berühren, diese Augen, sie scheinen zu zerfließen, helles Blau mit goldenen Lichtpunkten zu verschmelzen. Unwirklich.

"Du bist so schön", krächze ich.

Das schöne Gesicht verzieht sich, wirkt besorgt.

"Du hast ja ganz schön was abbekommen!" Ich verstehe die Worte nur leise und dröhnend und nicke einfach.

Sirenen sind zu hören. Polizei, Krankenwagen, jemand leuchtet in meine Augen. Es blendet mich.

"Er steht unter Schock, Verdacht auf Gehirnerschütterung", sagt eine unbekannte weibliche Stimme. Jemand tastet mich ab, öffnet den Reißverschluss meiner Jacke, zieht und zerrt an mir herum. Ein Ächzen entweicht mir.

Meine Wunden werden grob verarztet, die leuchtende Gestalt tritt weg und an ihre Stelle tritt die bittere Realität in Form eines Polizisten, der mir tadelnd entgegen sieht.

"Ihr Wagen wird abgeschleppt, er ist als unversichert gemeldet" - wie Pistolenkugeln feuert sein Satz auf mich ab. Ich werde wieder hochgehoben, diesmal nicht von dem Fremden, sondern von zwei Sanitätern.

Ich verstehe die Worte des Polizisten nicht, ich höre sie, ja, aber der Sinn dahinter ist mir fremd. Nicht versichert?

Das Auto, mein geliebter Golf GTI Baujahr 98, das einzige was ich noch an Besitz vorzuweisen hatte. Ein letztes Geschenk meiner Eltern zu meinem 18. Geburtstag letztes Jahr.

Mühsam sehe ich auf, versuche mich auf das Gesicht des grauhaarigen, angespannt wirkenden Polizisten zu konzentrieren. Sein Kopf scheint doppelt und schwankt bedenklich hin und her.

"Waren sie abgelenkt? Warum haben sie nicht gebremst?"

Mehrere Augenpaare sehen mich jetzt an. Reiß dich zusammen, zischt eine Stimme tief in mir. Ich versuche es, doch dann sehe ich wieder nur dieses leuchtende Eisblau und ich beginne selig zu lächeln.

"Schön", flüstere ich stattdessen.

"Wo bringen sie ihn hin?" Seine Stimme - sie klingt leicht rau, dunkel, so einlullend und ich sinke hinab in eine Dunkelheit, fernab von der Realität.

*

Wie aus einem Alptraum werde ich wach, mir tut alles weh, es ziept und zwackt. Mein Nacken, total verzerrt, meine Nase pocht, genau wie meine Stirn. Doch immerhin, es scheint nichts gebrochen.

Müde taumle ich ins Bad um den Schaden genauer zu begutachten. Ich muss mich am Waschbecken festklammern, um nicht den Halt zu verlieren.

Meine grünen Augen sehen mir matt entgegen, müde und erschöpft, dazwischen, oberhalb der Stirn und an meinem Nasenrücken, deutliche Blutergüsse. Auch meine Wangen sind stark gerötet, sehen aus wie leicht aufgeschürft, genau wie mein Kinn. Dazwischen leuchten die zarten Sommersprossen, die mein ganzes Gesicht bedecken, auf.

Ich fahre mir seufzend durch mein kurzes schwarzes Haar. Es hätte auch noch schlimmer kommen können, denke ich, viel schlimmer...

"Hast Glück gehabt", die Stimme von Ben, meinem besten Freund, den ich kenne, seitdem ich denken kann. Er tritt zu mir ins Badezimmer. Müde sehe ich ihm entgegen.

Er reicht mir einen Waschlappen und ich nehme ihn dankend entgegen.

"Soll ich dir helfen?"

Ich schüttle den Kopf – das hätte ich besser nicht getan, sofort erfasst mich ein lähmender Schwindel.

Das Duschen ist mühsam, wenig erbaulich. Ich zittere und kann mich nur unter extremen Anstrengungen überhaupt richtig waschen. Selbst meine Arme und Beine fühlen sich verzerrt an als wäre ich einen Marathon gelaufen.

Seufzend ziehe ich mir das an, was Ben mir noch hingelegt hat und taumle ins Wohnzimmer, lasse mich keuchend auf die Couch fallen, die so etwas wie mein "zu Hause" ist, zumindest mein Schlafplatz, seit fast vier Monaten.

Ben sitzt am Schreibtisch und sieht zu mir herüber.

"Geht's besser?"

Ich zucke mit den Schultern, nehme mir die Wolldecke, die eigentlich Maura, seiner Freundin gehört und ziehe sie langsam und behutsam über meinen geschundenen Körper.

Ich habe sicher fast zwanzig Stunden geschlafen. Die Erinnerungen kehren langsam zurück. Mein Krankenhausaufenthalt war nur von kurzer Dauer, ich habe mich entgegen allem Anraten des Arztes selbst entlassen mit einer leichten Gehirnerschütterung.

Ben steht auf, geht aus dem Raum und ich höre ihn in der Küche hantieren. Ich überlege, ob es die Kraftanstrengung wert ist nach der Fernbedienung auf dem kleinen Couchtisch vor mir zu greifen, doch ich liege gerade so, dass es nicht ganz so heftig schmerzt.

Stattdessen schließe ich die Augen. Es ist wie ein Film, der wieder und wieder zurückgespult wird - ich höre wieder und wieder den Knall, das knirschende Geräusch von Metall, spüre den Schreck in meinen Gliedern und dann sehe ich seine Augen, höre seine Stimme. Sofort ist dieser seltsame Schauer wieder da. Eine seltsame Begegnung.

Ben kommt aus der Küche zurück und stellt eine dampfende Tasse Tee vor mich. Ich setze mich ächzend auf und schnuppere daran, verziehe sofort das Gesicht.

Apfeltee.

"Sorry, was anderes war nicht mehr da...", brummt Ben.

Keiner von uns dreien trinkt Tee, wir sind alle drei ziemliche Kaffeejunkies.

Ben schnappt sich die Fernbedienung und lässt eine Sendung im Ersten laufen. Nachrichten, nichts was gerade meine Aufmerksamkeit fordert. Stattdessen lehne ich mich zurück, döse vor mich hin. Ob diese verdammten Kopfschmerzen jemals besser werden?

"Du sollst heut nochmal zur Polizei, deine Aussage machen." Ben sieht mir besorgt entgegen.

Ich zucke nicht mal mit der Wimper. Was soll ich darauf auch erwidern? Mein bester Freund weiß selbst, wie sehr ich am Ende bin. Das war sozusagen die letzte Aktion, die mich komplett ins Aus befördert hat.

Mein Wagen hat keine Versicherung mehr gehabt und der Jaguar bestand sicher auch nicht nur aus Pappe.

Seufzend fahre ich mir durch mein dichtes Haar. Ich hatte einfach gehofft, dass sie weiter zahlen. Aber warum hoffen, wenn es da eh nichts mehr zu hoffen gibt? Und ich bin das Hoffen so leid...

"Ich bin so am Arsch", murmele ich heiser.

Ben seufzt, setzt sich zu mir.

"Jepp...", stimmt mir mein bester Freund zu. Keine aufbauenden Worte, ich kenne es nicht anders von ihm. Früher mochte ich seine direkte Art sehr, jetzt allerdings...

"Der Schaden liegt wohl so bei 5000 Euro", fügt er direkt hinzu und ich wünschte in dem Moment, er hätte etwas mehr Feingefühl.

Mir wird kurz schwarz vor Augen.

Kurz darauf spüre ich einen kalten Waschlappen auf der Stirn. Ben, meine persönliche Krankenschwester, es ist so komisch und wenn es nicht alles so tragisch wäre, würde ich jetzt laut loslachen.

Ich lasse heute alles so wie es ist, meine Jogginghose und das alte Shirt an, gammle auf der Couch rum, gebe mich meinem Kummer ungefiltert hin. Gerade bin ich nicht mehr als ein Häufchen Elend.

*

Mein Handy klingelt am Abend, murrend nehme ich ab. Es gibt eigentlich aktuell niemanden, der mich anruft. Und den erlösenden Anruf von Max, diese Hoffnung habe ich bereits vor Wochen begraben. Der Kummer, der mein Herz bis zu dem Zeitpunkt fast zerfraß, war ähnlich schmerzhaft wie der Unfall heute.

"Arik Langstrom am Apparat, Jonathan Belling, nehme ich an?" Ich halte erschrocken den Atem an.

Ich kenne diese Stimme, sofort verfällt mein Körper wieder dieser Erinnerung an ihn. Der Knall, der Unfall und dann dieser Mann mit diesen eisblauen Augen – mein Retter.

Wären die Umstände nicht so verdreht, würde ich es glatt wagen und ihn fragen, ob wir uns treffen können. Doch das ist ein dummer und auch gefährlicher Gedanke. Er würde es nicht verstehen, jemand wie er, der mitten im Leben steht, teure Anzüge trägt und noch teurere Autos fährt, wird mit jemandem wie mir nichts anfangen können. Wenn er denn überhaupt auf Männer stehen sollte.

"Ja", sage ich mit zittriger Stimme. Habe dabei noch so klar seinen besorgten Blick im Kopf - wie lange hat mich niemand mehr so angesehen? Nur dass seine Stimme jetzt ganz anders klingt, härter, direkter, und ja, auch ungeduldiger.

Er räuspert sich.

"Wir sollten klären, wie wir den Schaden jetzt abwickeln." Ich nehme mein Telefon vom Ohr, starre es an, dieser Arik ist noch dran. Er wartet auf meine Antwort. Mein Hirngespinst, diese leise Hoffnung, die sich auf zarten Füßen in meinen Kopf schlich - alles nur eine Illusion.

Ich drücke auf das rote Telefonsymbol, schalte mein Handy aus und belasse es die nächsten drei Tage auch dabei.

Ben schleift mich schließlich auf die Polizeistelle. Ich sage nicht viel, außer dass ich nicht weiß, warum ich aufgefahren bin. Ich behaupte, nicht abgelenkt gewesen zu sein. Aber innerlich weiß ich, dass ich seit Wochen wie ein Geist durch die Gegend laufe und wohl auch so fahre. Meine Gedanken sind immer kurz vor der Klippe, im Begriff hinab zu stürzen und mich in diesen Sog zu zerren, der mich tagelang nicht mehr aufstehen lässt. Wie eine dunkle Wolke, die über mir hängt und alles Licht in meinem Leben auslöscht. Ich bin nicht depressiv, ich bin gerade einfach nur ein Totalschaden, so wie mein Auto jetzt.

Dabei wirkte mein Leben, meine Zukunft, vor vier Monaten noch so glanzvoll.

Mein 19. Geburtstag, Geschenke im Überfluss, die Zusage zum Architekturstudium in Berlin, nicht weit von meinem Heimatort und ich war kurz davor einen Mietvertrag für ein kleines Apartment in Mitte zu unterschreiben. Selbst mein Auto war schon mit Kisten für den Umzug vollgestellt gewesen.

Meine Eltern wollten mir all das finanzieren - ihrem einzigen Sohn, die große Hoffnung für das Bauunternehmen, das mein Vater schon von seinem Vater übernommen hatte. Seit Generationen in Familienbesitz - mit dieser Tradition habe ich damit wohl endgültig gebrochen...

Jetzt war da nur noch der Golf von all diesen Plänen übrig geblieben.

Der Fakt, dass ich als Stammhalter mit dem Sohn des ältesten Freundes meines Vaters deutliche Körperflüssigkeiten in der Küche meiner Eltern ausgetauscht hatte, war und ist scheinbar unverzeihlich.

Ich war bis zu diesem Moment ungeoutet gewesen und der Ausdruck in den Augen meines Vaters zeigte null Toleranz. Ein riesen Streit folgte, bei dem keiner von uns einlenkte und am nächsten Tag bin ich komplett desillusioniert mit Ben und seiner Freundin Maure in deren kleine Wohnung direkt nach Berlin-Kreuzberg gezogen.

War nie für einen solch langen Zeitraum geplant gewesen. Offiziell wohn' ich da auch nicht, tagsüber versuche ich möglichst wenig in der Wohnung zu sein, arbeite an meinem Laptop im Café oder im Park. Jetzt, im Herbst, ist das noch machbar, doch im Winter? Ich brauche dringend eine Bleibe, doch ich habe kein Geld und all mein Erspartes ist bereits aufgebraucht. Auch die Nachtschicht, zweimal die Woche, in einer Metallfabrik, hilft nur für das Nötigste.

Das Studium hier ist das einzige, in das ich mich gerade noch reinhänge und noch einen Sinn darin erkenne. Ben erträgt mich noch, aber Maura, seine Freundin... sie ist genervt, auch wenn ich versuche mich unsichtbar zu machen, die beiden nicht zu stören, doch es ist schwer, in einer Zwei-Zimmer-Wohnungen nicht aufzufallen...

Ich brauche nach dem Gespräch in der Polizeistation dringend frische Luft. Mein Weg führt mich zum Schrottplatz, ein Weg von einer knappen Stunde von dort. Verfroren stehe ich an dem einsamen Stück Welt, umringt von Schutt und Schrott - meine Finger dabei tief in den Taschen meiner viel zu dünnen Jeans vergraben.

Da steht er, mein geliebter schwarzer Golf. Jeder würde sagen, das Ding gehört hier hin, doch für mich, war es das einzige gewesen, was ich noch an Wert besaß. Er ist vorne komplett zerknautscht. Dass ein Jaguar so viel stärker ist als mein Golf, erstaunlich und beängstigend. Ich weiß nicht mal in welchem Tempo ich aufgefahren bin. Es kann nicht schnell gewesen sein, und doch hat es gereicht, um meinem Auto das Herz heraus zu reißen.

Vor dem Unfall, wenn Maura mich wieder so wütend angeblickt hat, ich ihr Getuschel einfach nicht mehr ertragen habe, bin ich oft mit meinem Wagen weg, habe darin geschlafen. Es war erstaunlich geräumig gewesen, wenn die Sitze hinten umgeklappt waren.

Ich gehe auf ihn zu, streiche darüber, als wäre es mehr als nur ein Auto, seufze leise auf. Ein dicklicher Mann kommt auf mich zu.

"Ist das deiner?", ruft er mir zu.

Ich nicke.

"Totalschaden! Kann nur verschrottet werden! Kostet dich Hundertfünfzig."

Ich blicke ihn an, es ist Anfang November und mein Konto ist trotzdem bereits tiefrot.

"Hab' ich nicht", gebe ich leise zurück.

"Dein Ernst?" Er schmiert seine ölverschmierten Hände an seinem Overall ab, blickt mir zweifelnd entgegen.

Ich zucke mit den Schultern, habe keine Lösung für dieses weitere Problem.

"Kann man doch sicher noch ausschlachten?", murmle ich.

"Das alte Ding?!", flucht er.

Ich drehe mich um und gehe einfach.

"Ich hab' deine Adresse", droht er lautstark.

"Ich schick dir die Rechnung", ruft er noch hinterher, als ich schon am Ausgang des Schrottplatzes bin.

Soll er doch, sehen meine Eltern mal, was gerade so in meinem Leben abgeht...

Seine Drohung ist mir egal, nur ein weiterer Punkt auf meiner Nicht-zu-Lösen-Liste.

Mein Auto dagegen ist es nicht, aber das hier, alles, gerade. Ich seufze, sehe mich um, erkenne den kleinen Wald vor mir. Ich kenne ihn, mein altes zu Hause ist keine zwanzig Minuten von hier entfernt. Was für ein dämlicher Wink des Schicksals. Doch so verzweifelt bin ich nicht, jetzt wieder vor ihrer Tür aufzutauchen. Das, so habe ich es mir geschworen, würde ich niemals tun, egal wie schlimm die Lage auch ist.

Stattdessen mache ich mich mit tauben Gliedern auf den Weg zu dem Wald meiner Erinnerungen. Ben und ich waren oft da und auch Max und ich haben hier einige Nächte im Zelt verbracht.

Ich finde unseren alten Platz schneller als erwartet. Niemand ist hier, nicht mal die Vögel zwitschern. Mit langsamen Schritten gehe ich auf die Klippe zu, sehe hinüber und vergrabe dabei die Hände tiefer in meiner dünnen Jacke. Die dichte Wolkendecke löst sich über mir und für einen Moment kommt die Sonne raus und wärmt mich etwas.

Manchmal hilft es mir, dieser Blick auf die Dinge von oben und wie jetzt, auf den Abgrund unter mir. Für den Moment habe ich das Gefühl mein Leben zumindest soweit im Griff zu haben um zu wissen, dass ich keinen weiteren Schritt nach vorne machen will.

Die alte Selbstsicherheit kehrt für einen Wimpernschlag zurück, wie das Licht von oben. Kurz fühle ich mich wieder etwas mehr, wie ich selbst, etwas Licht kehrt in dieses dunkle Loch in meinem Herzen zurück, das dieser Junge, der so viele Jahre an meiner Seite stand, so schmerzhaft hinein gebrannt hat.

Ich will nicht sterben, ich will weiter machen, irgendwie.

Der Unfall hat mir allerdings deutlich gezeigt, dass ich kaum noch einen Ausweg habe.

In meinem Leben gibt es nur noch Forderungen, die ich begleichen soll und keinerlei Perspektive. Ben und dieser Arik werden kaum fünf Jahre warten, bis ich meinen Master hab' und ihnen dann das Geld zurück geben kann, genau wie der schmierige Typ auf dem Schrottplatz.

Die Sonne verschwindet endgültig hinter dem Horizont. Seufzend wende ich mich von der Klippe ab, gehe zurück, ziehe durch die Straßen Berlins, tauche ab in die Stadt, versinke, tanze, wie die bunten Lichter der Geschäfte und Leuchtreklamen um mich herum.

Mein Weg führt mich weit ab, hin zu einem Ort, den ich schon so lange nicht mehr besucht habe. Ein vertrautes Gefühl macht sich in mir breit, als ich den verrauchten Laden betrete. Ich werde gegrüßt, mit meinem Namen und beginne zu lächeln. Ein Bier wird mir wortlos vor die Nase gestellt. Es ist eine sonderbare Mischung hier, der alte Tresen, dazu die kleine Tanzfläche und im hinteren Bereich eine Art Wintergarten, der von außen bereits von der Natur wieder eingenommen wurde. Moos und Ranken sind an den vergilbten Fenstern zu erkennen. Kein schöner Ort, aber hier kann ich einfach Ich sein und finde immer ein offenes Ohr. Doch nicht mal nach Reden ist mir heute noch.

Erst gegen Mitternacht stolpere ich deutlich angetrunken aus dem alten Stück meiner Erinnerung. Ein Schatten huscht an mir vorbei, kurz presse ich die Augen zusammen, ein Zucken geht durch meinen Körper, ein Geruch, nur eine Nuance davon steigt mir in die Nase. Unmöglich denke ich, mein Kopf spielt mir Streiche.

Zurück in der Wohnung ist niemand mehr wach, Ben und Maura schlafen längst. Müde streife ich die Schuhe und meine dünne Jacke ab, lege mich, so wie ich bin auf mein provisorisches Schlaflager und bin sofort eingeschlafen.

*

Am nächsten Tag versucht Arik mich fünfmal zu erreichen. Ich denke ernsthaft darüber nach, mir einfach eine neue Nummer zu besorgen.

Die Uni lenkt mich ab, ich komme erst gegen 18 Uhr nach Hause. Ben sitzt am Tisch mit Maura, sie sehen zu mir. Ihre Blicke sind eindeutig - das Gespräch naht. Doch ich schüttle nur den Kopf, gehe ins Wohnzimmer, will mich am liebsten irgendwo vergraben und verstecken.

Plötzlich klingelt es und Ben hastet zu der Tür, wirft mir dabei noch einen sonderbaren Blick zu.

Leise redet er mit jemandem und bittet die Person dann herein.

Ich habe gerade das frische Bettlaken um die Schlafcouch gespannt, mein Kopfkissen mit den dämlichen Paw Patrol Bildern darauf gezogen - die alte Bettwäsche von Ben, als eine Gestalt hinter mich ins Wohnzimmer tritt. 

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