Kindliche Freuden~ Gemeine Rosskastanie 🐎🌿🍂
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~Kindliche Freuden ~
Gemeine Rosskastanie - Aesculus hippocastanum
~ Eichhörnchen, Tau, pflaumenblau, Erntedank, schaufeln ~
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Meine Schultern schmerzten langsam. Die Taschen wurden mittlerweile wirklich schwer und die blöde Ampel vor mir wollte einfach nicht auf grün springen.
Es war noch sehr früh. Der Morgentau tropfte von den Blättern und der Nebel, der sich im Laufe des Tages noch verziehen würde, hing dicht zwischen den Häusern und begrenzte die Sicht auf ein Minimum. Ein Eichhörnchen knabberte eilig an einer Nuss und sah sich dazwischen hektisch immer wieder nach allen Seiten um, damit sich niemand heranschleichen konnte.
Während mein Fuß nervös auf den Boden trippelte und ich angestrengt darauf wartete, dass ich endlich die Straße überqueren konnte, beobachtete ich das kleine Wesen, bis es mit einem gekonnten Sprung am Stamm des Baumes hinauf hüpfte und zwischen den Ästen verschwand.
Das Erntedankfest war nur noch wenige Tage entfernt und im Zuge dessen organisierte der gemeinnützige Verein, in dem ich ehrenamtlich tätig war, für morgen ein großes, kostenloses Essen für alle Obdachlosen. Dafür waren meine Taschen randvoll gefüllt mit gespendetem Essen meiner Nachbarn, die sich mit Dosen, eingemachtem Gemüse, selbst gebackenem Brot und Gewürzen aller Art beteiligt hatten.
Meine Mutter hatte extra für diesen Anlass zwei volle Dosen Muffin gebacken, die ich am liebsten sofort alleine in mich hinein schaufeln wollte. Ich war grundsätzlich ein Mensch, der sein Hab und Gut gerne teilte und anderen eine Freude bereitete, aber wenn es um Mums Muffins ging, konnte ich zur egoistischen Furie werden.
Dass ich mich bis jetzt noch zurückgehalten hatte und die Dosen noch nicht einmal geöffnet hatte, um an den Köstlichkeiten zu riechen, bedeutete echt etwas. Ich opferte mich buchstäblich für dieses gemeinnützige Essen auf.
In unserer Stadt gab es unglaublich viele, vor allem jüngere Obdachlose, die hoffentlich in großer Anzahl erscheinen würden. Wir hatten so viele Lebensmittel gesammelt und die Vorbereitungen in der Industrieküche, die wir gemietet hatten, waren schon voll im Gange, damit wir morgen auch warme Gerichte anbieten konnten, die man bei diesem feuchten Herbstwetter auch wirklich brauchte.
Alles, was schlussendlich an Lebensmitteln übrig bleiben würde, würde unter den noch anwesenden Obdachlosen aufgeteilt oder an die örtliche Tafel gespendet werden.
Wir hatten monatelang daraufhin gearbeitet und dass es nun morgen schon so weit war, konnte ich kaum glauben.
Mein Blick schweifte dem Eichhörnchen über den Stamm des Baums nach oben mit, wo ich die rötlichen Blätter musterte, die vom Tau feucht schimmerten. Vereinzelte Kastanien hingen noch an den Ästen, aber die meisten lagen wild verteilt am asphaltierten Boden.
Die braunen Nüsse, oder waren es Früchte, ich war mir nicht sicher, weckten tiefe Kindheitserinnerungen und plötzlichen juckte es mich in den Fingern eine mit nach Hause zu nehmen.
Ein Kastanienmännchen kam mir in den Sinn und mit einem prüfenden Blick auf die noch immer rote Ampel stellte ich eine der vollen Taschen am Boden ab und kniete mich zu den großen Nüssen hinunter. Einige von ihnen waren noch in ihren stachligen Panzern, andere lagen nackt zwischen dem feuchten Laub.
Ehe ich mich versah, hatte ich zwei schöne Exemplare herausgesucht, an meiner Jeans etwas getrocknet und steckte sie in meine Jackentasche, da ich sie dort sicher aufbewahren konnte.
„Für ein Kastanienmännchen brauchst du aber mehr", schmunzelte eine fremde Stimme hinter mir. Überrascht zuckte ich zusammen und sah zu dem Mann auf, der lächelnd hinter mir stand.
Er war gut einen Kopf größer als ich, hatte einen blau Schal eng um seinen Hals gewickelt, während sein schwarzer Mantel offen war und sein dunkelrotes Hemd offenbarte. Sein dunkelblauer, nein, eher dunkelvioletter Schal passte überraschenderweise sehr gut zu dem dunkelroten Hemd, dennoch würde ich diese Mischung als gewagt bezeichnen. Ich selbst würde diese Farben niemals kombinieren.
Ich wusste nicht so ganz, was ich antworten sollte und sah deswegen nur fragend zu ihm auf. Gleichzeitig griff ich wieder nach meiner Tasche und schulterte sie. Meine Schulter fing augenblicklich wieder an zu schmerzte, was mir ein tonloses Seufzen entlockte.
„Damit das Männchen richtig stehen bleibt, brauchst du noch Füße, also mindestens zwei Kastanien mehr", erklärte mir der fremde Mann und ging plötzlich selbst in die Knie, wühlte ungeniert zwischen den feuchten Laubblättern und richtete sich dann mit zwei schönen Kastanien in seiner Handfläche wieder auf.
Er hielt sie mir auffordernd hin.
„Uh, danke", brachte ich irritiert heraus und nahm ihm die Nüsse ab, ehe ich sie zu den anderen in meine Jackentasche wandern ließ. Aus dem Augenwinkel sah ich dabei, dass die Ampel gerade wieder von grün auf rot sprang.
Ein genervtes Stöhnen entkam mir, als ich augenrollend den Verkehr beobachtete, der sich gerade wieder in Bewegung setzte und mir damit den Weg zur anderen Straßenseite versperrte.
„Entschuldige, dass ich dich aufgehalten habe", lächelte der Fremde und schob seine Hände in seine Manteltaschen.
Um diese frühe Uhrzeit war es wirklich noch sehr frisch und da die Sonne noch nicht gegen den dichten Neben ankam, war es sogar noch dunkler als es ohnehin im Herbst schon war. Ich persönlich konnte dem Herbst schon von Kinderschuhen an nicht besonders gut leiden.
„Das ist übrigens eine Gemeine Rosskastanie." Der Fremde nickte in Richtung des Baumes von dem die Kastanien in meiner Jackentasche stammten.
Ich musterte den Baum skeptisch und fragte mich dabei insgeheim, woran er ausmachen konnte, dass dieser Baum gemein war.
Weil er Nüsse auf Passanten warf? Manchmal sogar Nüsse eingepackt in stachlige Panzer?
Ich war noch nie von einer herabfallenden Kastanie getroffen worden, aber ich stellte es mir auf jeden Fall nicht angenehm vor.
„Warum ist sie gemein?", fragte ich also. „Weil sie mit Kastanien wirft?", schmunzelte ich und konnte beobachten, wie auch mein Gegenüber zu lächeln begann.
„Das kann ich dir leider nicht beantworten", schmunzelte der Fremde und zuckte mit den Schultern. „Ich weiß lediglich, dass der Name an sich davon kommt, dass die Samen früher vermutlich als Pferdekur verwendet wurden."
Er redete darüber so gleichgültig, als wäre das eine allseits bekannte Information.
Ich dagegen sah ihm mit großen Augen entgegen. Woher wusste er so etwas?
Ich konnte den Baum auch nur wegen den Nüssen als Kastanie identifizieren. Generell konnte ich Bäume nur an ihren Früchten erkennen und sobald die Erntezeit vorbei war und die Bäume keine Früchte oder Nüsse mehr trugen, wusste ich nicht mehr, was es für ein Baum war. Ich könnte nicht einmal einen Apfel- von einem Birnbaum unterscheiden.
„Woher weiß man so etwas?", fragte ich wirklich irritiert und schulterte meine Taschen erneut, da sie mittlerweile unangenehm schwer wurden. Ich blinzelte kurz in Richtung Ampel, damit ich die nächste Grünphase nicht wieder verpasste, stellte dabei jedoch fest, dass es immer noch rot war.
Der Fremde zuckte nur mit den Schultern und deutete dann an mir vorbei auf die Ampel. „Es ist grün", ließ er mich wissen und setzte sich mit mir im Gleichschritt in Bewegung. Gemeinsam überquerten wir den Zebrastreifen und mussten auf der anderen Seite offenbar in dieselbe Richtung, denn der Fremde ging weiterhin neben mir hier.
„Wenn ich so darüber nachdenke, kann man eigentlich aus Kastanien viel coolere Sachen machen, als nur ein Männchen. Warum probierst du nicht ein Tier? Einen Hund zum Beispiel?", schlug mir der Unbekannte vor und strahlte mir begeistert entgegen.
Ich nickte nur stumm.
In meiner Kindheit hatten meine Schwester und ich so ziemlich alles aus Kastanien nachgebaut. Menschen, Tiere, Fahrzeuge. Wenn man genügend Kastanien und hölzerne Zahnstocher hatte, waren der Fantasie keine Grenzen gesetzt.
Seit wir jedoch aus diesem Alter herausgewachsen waren, hatte ich keine Kastanie mehr in der Hand. Dass der Fremde mir nun so einen Floh ins Ohr setzte, nervte mich einerseits, aber freute mich zugleich.
„Für einen Hund bräuchte ich noch drei Kastanien", antwortete ich mit einem kleinen Lächeln. Irgendwie gefiel mir die Idee einen Hund zu bauen immer besser.
Hatte ich überhaupt Zahnstocher zuhause?
„Das ist kein Problem. Siehst du da vorne?" Er zeigte auf ein paar Bäume, die noch auf meinem Weg lagen, aber noch gut zweihundert Meter entfernt waren und beinahe mystisch vom Nebel umgeben waren. „Das sind auch Gemeine Rosskastanien. Da finden wir bestimmt noch drei schöne Nüssen für dich", schmunzelte er, schob seine Hände wieder in seine Manteltaschen und begann plötzliche leise zu pfeifen, während wir schweigend durch den morgendlichen Nebel liefen.
Außer uns war kaum jemand unterwegs und wenn, dann hasteten sie eilig an uns vorbei.
Ich persönlich hätte auch einen schnelleren Schritt, wenn mich meine schweren Taschen nicht so abbremsen würden. Warum jedoch der Fremde in aller Seelenruhe neben mir herumspazierte und kein bisschen in Eile wirkte, überraschte mich.
Wenn es er nicht eilig hatte, warum war er dann überhaupt so früh unterwegs?
Als wir dann die schmale Allee betraten, beugte sich mein Begleiter gleich wieder gen Boden und wühlte raschelnd im teils trockenen, teils feuchten Laub, um wohl eine schöne Nuss zu finden.
Ich wusste nicht, warum ich inne hielt und ihm dabei zusah, anstatt mich weiter auf den Weg zu machen, damit ich endlich die schweren Taschen los bekam, aber irgendwie faszinierte mich der groß gewachsene Mann, der so einen Spaß an Kastanienfiguren hatte, die er nicht einmal selber bauen würde.
Als er schlussendlich drei Kastanien gefunden hatte, die ihm zusagten, hielt er sie mir wieder auffordernd entgegen.
„Möchten Sie nicht selbst Kastanienfiguren bauen? Ich kann Ihnen die anderen vier Kastanien geben", bot ich ihm an. Irgendwie fand ich es blöd, wenn ich die Kastanien, die er so penibel ausgesucht hatte, einfach selbst mit nach Hause nehmen würde.
Doch mein Gegenüber schüttelte nur den Kopf und legte mir die neu gesammelten Nüsse in die Hand.
„Nein, nein", lehnte er ab und schenkte mir ein breites Lächeln. „Nimm sie ruhig mit und baue einen schönen Hund. Mehr möchte ich gar nicht." Seine Augen blitzten glücklich. „Ich finde einfach nur, dass man in unserem Alter die kleinen Freuden im Leben nicht vergessen sollte. Eine Kastanienfigur zu bauen erscheint im ersten Moment kindlich, aber das würde so gesehen auch bedeuten, dass nur Kinder Spaß haben dürfen", erklärte er und setzte sich wieder in Bewegung.
Die Hände tief in den Manteltaschen vergraben, ging er vor mir ein paar Schritte rückwärts und grinste mich breit an.
„Wann bist du das letzte Mal in einen Laubhaufen gesprungen?", fragte er mit blitzenden Augen und holte plötzlich mit einem Fuß aus, um mit einem kräftigen Kick einen kleinen Laubhaufen aufzuwühlen. Braun-gelbe Blätter klebten daraufhin an seinem schwarzen Lederboot, was ihn jedoch nicht zu stören schien. Er sah mir einfach abwartend und weiterhin lächelnd entgegen.
„Uh...", kam es zögerlich über meine Lippen. „Noch nie, glaube ich", antwortete ich schlussendlich und versuchte gleichzeitig fieberhaft eine Erinnerung an so etwas zu finden.
Ich war als Kind eher der Stubenhocker und hatte ein gutes Buch der kalten Außenwelt vorgezogen. Nur, wenn meine Mutter mich zu herbstlichen Spaziergängen genötigt hatte, hatte ich im Herbst das Haus verlassen.
Dem Unbekannten klappte perplex der Mund auf, während er in seiner Bewegung inne hielt und mir aus großen Augen entgegen sah.
„Dann gebe ich dir jetzt die Aufgabe, bei deinem nächsten Spaziergang an einem freien, sonnigen Herbsttag in einen Laubhaufen zu springen."
Seine Worte hatten so viel Nachdruck, dass ich nur langsam nicken konnte.
„Gut und sobald du das gemacht hast, schreibst du mir eine Nachricht, was du dazu sagst. Ob es Spaß gemacht hat", orderte er und zog plötzlich einen Geldbeutel heraus, nur um mir im nächsten Moment eine Visitenkarten entgegen zu halten.
PFLAUMENBLAU stand in blauen, wahrscheinlich pflaumenblauen, Großbuchstaben mittig auf dem Kärtchen.
Claudius Vanderboot
Schneider
Wir schneidern Ihre Wünsche.
Dahinter war eine Stricknadel abgebildet, deren dunkelroter Faden sich beinahe anmutig durch die Großbuchstaben des Titels schlängelte und die Überschrift damit noch deutlicher hervorhob.
Ich sah mit hochgezogenen Augenbrauen auf, wollte ihn eigentlich auf seinen Schneiderladen ansprechen, doch mein Blick verfing sich in seinem blauen Schal.
„Pflaumenblau?", fragte ich erfreut, weil ich die Farbe wiedererkannt hatte und konnte zufrieden beobachten wie seine Augen zu strahlen begannen, als er energisch nickte.
Ich betrachtete seinen Schal noch einen Moment, ehe ich meinen Blick wieder auf seine Visitenkarte senkte und den Namen seines Schneiderladens musterte.
„Ich glaube, ich brauche auch einen pflaumenblauen Schal", ließ ich mein Gegenüber wissen, der daraufhin nur noch breiter zu lächeln begann.
„Bau einen Kastanienhund, spring in einen Laubhaufen und berichte mir davon. Dann lässt sich das mit dem Schal auf jeden Fall regeln." Er zwinkerte mir mit blitzenden Augen zu, machte schwungvoll auf dem Absatz kehrt und spazierte fröhlich pfeifend zurück in die Richtung, aus der wir ursprünglich gekommen waren.
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