Die Zukunftskiste ~ Amerikanische Erdbeerbaum 🍓🌳🍂

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~ Die Zukunftskiste ~

von Phedoka

Amerikanische Erdbeerbaum - Arbutus menziesii

~ Laubhaufen, heiße Schokolade, flunkern, Ofen, flamingopink~

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"... in zehn Jahren, um genau zwei Uhr nachmittags, treffen wir uns wieder hier und öffnen zusammen die Kiste."

Jet hielt die Kiste, wie einen Schatz, fest in seinen Armen, während Hal und Brad unter dem Erdbeerbaum in Jets Garten ein Loch buddelten.

"Und was ist, wenn einer von uns an diesem Tag nicht kommen kann?", fragte Brad und musterte Jet von unten nach oben. In seinen flamingopinken Plüschhausschuhen, die er oft anhatte, sah er einfach zu niedlich aus. Er mochte Jet und seine ausgeflippte feminine Art. Hal hingegen konnte Jet zwar leiden, aber blieb immer auf Abstand zu ihm.

"Dann öffnen eben nur die Beiden die Kiste oder nur der Eine. Je nachdem wer eben da ist", antwortete Jet und legte die Zukunftskiste in das Loch und die beiden Jungs, die es gebuddelt hatten, schütteten es nun wieder zu.

Zufrieden klatschten sich alle drei Teenager in die Hände und lächelten sich an.

"Ich bin gespannt. Ich hoffe aber, dass wir uns nie trennen werden und gemeinsam die Kiste wieder ausbuddeln. Mich interessiert brennend, was ihr hineingetan und in eure Briefe geschrieben habt."

Brad legte während er sprach eine Hand auf Hals und die andere Hand auf Jets Schulter.

Der Sommer verging und wich dem Herbst. Laubhaufen sammelten sich in den Vorgärten und luden zum darin Herumtollen ein. Der Wind brauste den Kleinstädtern um die Ohren, welche bald nicht mehr ohne Mütze und Schal aus dem Haus konnten.

Mit jeder Jahreszeit die verging, vergaßen die Jungs die Kiste immer mehr, bis sie irgendwann einmal gar nicht mehr an sie dachten.

Sie wuchsen zu den unterschiedlichsten Persönlichkeiten heran. Während Jet begann sich immer auffälliger zu kleiden und sich zu schminken, stieß sich Hal angewidert von ihm ab und begann mit anderen Schülern auf Jet loszugehen.

Brad wiederum fühlte sich als bester Freund zwischen den Stühlen, doch tolerierte Hals Verhalten überhaupt nicht und ging dazu über, Jet zu beschützen.

Nachdem sie die Highschool verlassen hatten, trennten sich ihre Wege und damit wurde auch der Kontakt weniger.

Jet war der Erste. Von heute auf morgen kappte er alles und war spurlos verschwunden.

Brad und Hal lebten sich mit der Zeit auseinander, bis auch sie nicht mehr miteinander sprachen.

Jeder begann sein eigenes Leben zu führen, neue Freunde und Hobbies inbegriffen.

So zogen die Jahre ins Land und die damaligen Teenager wuchsen zu Erwachsenen heran, bis sie sich dann im Sommer, zehn Jahre später, wieder in Jets altem Garten unter dem Erdbeerbaum trafen.

"Hey"

"Hey", begrüßten sich Hal und Brad, die die Ersten waren, die dort ankamen.

Beide standen da, mit den Händen in den Hosentaschen und wussten nicht, wie sie sich verhalten sollten.

Brads Blick wanderte auf seine teure Rolex, die er sich von seinem ersten Gewinn seiner eigenen Firma gekauft hatte.

"Ist gleich zwei", nuschelte er und strich seinen Anzug glatt.

"Keine Zeit?", fragte Hal und zupfte an seiner verlöcherten Jeans herum. In Brads Gegenwart fühlte er sich unwohl. Er sah so gestriegelt und piekfein aus. Hal wusste nur, dass Brad erfolgreich im Immobiliengeschäft war, während er selbst nur ein kleiner Highschool Basketball Coach war.

"Doch, allerdings interessiert mich immer noch brennend was in der Kiste ist, dich nicht?"

Hal nickte, nahm die Schaufel die er mitgebracht hatte und begann das Loch zu buddeln.

Brad zog die Kiste heraus, doch öffnete sie noch nicht.

"Meinst du Jet kommt noch? Sollen wir warten?"

Jetzt sah Hal auf seine Uhr, die er schon seit dem College trug und schüttelte den Kopf.

"Jet war immer pünktlich, wahrscheinlich hat er es vergessen."

"Oder traut sich nicht", fügte Brad leise hinzu und öffnete die Kiste, während er sich auf den Boden unter dem Baum setzte. Brad erinnerte sich daran, wie sie damals die Erdbeeren pflückten, wenn sie reif waren und Jet eine leckere Marmelade daraus machte, die sie alle einfach so mit den Fingern schleckten.

Lächelnd zog er dann seinen Brief raus, den Hal ihm gleich abnahm.

"Jeder liest den Brief des anderen vor", tadelte er und öffnete den Umschlag.

Brads Herz schlug bis zum Hals und seine Atmung beschleunigte sich, während er zusah, wie Hal das vergilbte Papier öffnete. Jetzt kommt alles ans Licht. Und Brad hatte wahnsinnige Angst davor was Hal denken könnte. Denn er war damals schon nicht offen für andere Dinge und engstirnig.

"Hey Boys. Ich hoffe wir sind alle zahlreich erschienen und einer von euch beiden liest jetzt meinen Brief vor. Also, meinem Zukunfts-Ich wünsche ich, dass er hoffentlich viel verdient, damit er sich seine Lieblingsuhr kaufen kann. Zudem muss ich euch jetzt langsam beichten, dass ich euch angelogen habe. Ich hatte nie mit Lesley geknutscht. Ich mag Mädchen nicht mal. Es tut mir leid, falls ihr es noch nicht wusstet. So. Mehr hab ich nicht zu sagen. Bye euer Brad."

Hal schaute von Brads Brief auf und nickte ihm ausdruckslos zu.

"Irgendwie dachte ich mir sowas schon", kommentierte er den Brief und sein ernster Gesichtsausdruck wich einem Lächeln, während er Brad in die Arme zog und drückte. Brads Körper spannte sich bei dieser Berührung an. Ausgerechnet Hal umarmte ihn und hatte Verständnis? Tolerierte und akzeptierte ihn so wie er ist? Das hätte Brad nicht erwartet, nachdem er wie wild auf Jet losgegangen war und seine Kumpels ihn jahrelang gemobbt hatten, wenn Brad nicht in der Nähe war.

"Danke Hal, das bedeutet mir sehr viel."

Brad löste sich von Hal und nahm Hals Brief aus der Kiste.

"I...i...ich weiß n...nicht, ob es so gut ist ihn zu lesen", stotterte der. Er fühlte sich extrem unwohl in seiner Haut, das konnte Brad spüren. Doch Brad dachte sich, schlimmer als sein Brief wird der Gedanke seines damals sechzehnjährigen Kumpels ja nicht gewesen sein, oder?

Mit einem Lächeln öffnete Brad den Brief und las ihn vor.

"Ich hasse es. So sehr. Ich hasse seine scheiß Flamingoschuhe und wie er redet und wie er sich verhält. Als wäre er ein Mädchen. Kann er nicht einfach normal sein? Ich hasse auch, wie Brad ihn ansieht. Als wäre Jet voll was Besonderes. Es verwirrt mich, alles verwirrt mich. Ich hoffe mein zehn Jahre älteres Ich kann damit was anfangen."

Brad schluckte und faltete Hals Brief wieder zusammen.

"Wow Hal. Das..."

"Sag einfach nichts ok?", rief Hal und sprang auf. Massierte sich mit zwei Fingern die Schläfe und schnaubte vor sich hin.

"Ich war sechzehn, ok? Mitten in der Pubertät. Ich wusste es nicht besser."

"War das der Grund, wieso du ihn einmal geschlagen hast und dann deine Kumpels nicht davon abgehalten hast ihn zu mobben?", fragte Brad und konnte nicht verhindern etwas Mitgefühl für Hal zu haben.

"J...j...ja. Was glaubst du, was mein Vater mit mir gemacht hätte, wenn er erfahren hätte, dass ich auf Jet stehe? Auf eine, wie er ihn betitelte, Tunte? Der hätte mich windelweich geprügelt und... man ich war einfach froh als wir aufs College gingen und ich mir über das alles keine Gedanken mehr habe machen müssen."

Aufgelöst trat er mit seinen alten Turnschuhen gegen den Baum.

"Lass uns Jets Brief noch lesen und dann würde ich mich gerne mit dir irgendwo anders unterhalten, in einem Café oder so."

Brad nahm Jets Brief aus der Kiste und einen Schlüsselanhänger in Form eines Flamingos.

"Hey Jungs. Wenn ihr diesen Brief lest, gibt es Jet wahrscheinlich nicht mehr.

Brad, ich weiß nicht, wo wir in zehn Jahren stehen, aber ich möchte dir sagen, dass ich dir sehr dankbar bin für die Zeit, die wir miteinander hatten, du bist ein toller Junge, hör auf dich zu verstecken. Ich weiß ganz genau, dass du uns angeflunkert hast und Lesley nicht geküsst hast. Ich hoffe, dass ich dich in zehn Jahren als jungen stolzen schwulen Mann hier empfangen darf. Das wünsche ich mir.

Hal.

Ich schenke dir diesen Flamingo. Der Flamingo symbolisiert alles rund um die Liebe. Dabei muss es sich nicht immer um die Liebe zwischen zwei Menschen handeln. Auch die Liebe zu sich selbst und zur Natur und allen Wesen auf der Erde ist damit gemeint. Liebe, die das Herz öffnet und darin erwacht.

Egal was zwischen uns passieren wird, ich werde dich immer lieben. Ich würde dir bei deiner Selbstfindung wirklich gerne helfen, aber das musst du ganz alleine schaffen, auch wenn es heißt, dass du viele Menschen in deiner Umgebung verletzen musst. Du wirst es schaffen.

Ich weiß, das sind alles Dinge, die man jemanden auf den Weg gibt und ich schreibe sie in einen Brief, der erst in zehn Jahren geöffnet wird. Aber genau daran werde ich erkennen, ob ich Recht hatte oder nicht.

So und jetzt hört auf Trübsal zu blasen, lieber etwas anderes *hust* haha."

Geschockt ließ Brad den Brief fallen und sah Hal an, der seine Tränen kaum zurückhalten konnte. Alles was Jet in seinem Brief schrieb, entsprach der Wahrheit und er wusste nicht, wie er damit umgehen sollte, dass Jet das alles wusste.

"Komme ich zu spät zur Party?", hörten sie plötzlich eine Stimme flöten die ihnen bekannt, und auch wieder nicht, vorkam und drehten sich beide gleichzeitig um. Eine wunderschöne brünette Frau in einem Hosenanzug kam auf sie zu und blieb vor ihnen stehen.

"Es tut mir leid, dass ich zu spät komme, aber ich musste leider warten bis ich meinen Apple Crumble aus dem Ofen holen konnte. Wie ich sehe, habt ihr die Briefe schon vorgelesen."

"Jet", flüsterte Brad, sprang auf und schritt eilig auf sie zu, zog sie in seine Arme und hob die kleinere Frau etwas vom Boden ab und drehte sich mit ihr im Kreis.

"Hey, hey, lass mich runter Brad, bitte. Und ich heiße jetzt Jean."

Jean klopfte mit ihren kleinen Fäusten auf Brads massive Schultern bis er sie endlich wieder auf dem Boden absetzte.

Als Jeans Blick auf Hal fiel, konnte dieser sich nicht mehr zurückhalten und begann zu weinen. Sie öffnete ihre Arme, ließ Hal dazwischen schlüpfen und strich ihm tröstend über den Rücken.

"Es tut mir so leid, Jean."

"Schhh schhh alles gut Hal", tröstete Jean ihn und küsste ihn auf die Wange.

"Das war jetzt wirklich viel auf einmal, oder? Lasst uns hineingehen und uns bei einer Tasse heißer Schokolade mit Marshmallows und meinem Apple Crumble, den ich im Übrigen nur für euch gebacken habe, unterhalten. Und ich glaube, wir haben uns nach zehn Jahren viel zu erzählen", sagte Jean und zog an jeweils einer Hand Brad und Hal hinter sich her.

Nachdem Jeans Eltern gestorben waren, erbte sie ihr Elternhaus und zog wieder zurück in die Kleinstadt. Jeden Tag fiel ihr Blick unter den Erdbeerbaum und sie zählte die Tage, Wochen, Monate und Jahre, bis zum heutigen Tag.

Lange stand sie am Fenster und sah und hörte den beiden Männern dabei zu, wie sie sich gegenseitig die Briefe vorgelesen hatten.

Wägte die Reaktionen der Beiden ab, bis sie sich sicher war und es nicht mehr aushielt und endlich nach draußen trat.

Ob sie wirklich schon damals wusste, was in zehn Jahren passieren würde?

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