Blauer Engel ~ Mädchen-Kiefer 🌲👧🍁

~•••~

~ Blauer Engel~

von Hasenkind687

Mädchen-Liefer - Pinus parviflora

~ Ernte, Pfefferminsschokolade, neonpink, Branntweinessig, rumoren~

~•••~

„Die hier ist neu.", äußere ich und deute auf ein Bäumchen, das zwischen Chrysanthemen, violetten Herbstanemonen und den obligatorischen Astern nicht ganz hierher zu passen scheint. Die mehr bläulich als grün benadelten Zweige recken sich in alle Richtungen, mir entgegen wie mit langem Fell besetzte Arme eines Schreckwesens aus einem Kinderalbtraum. Mich überkommt das Gefühl, nicht wegsehen zu können, dass die unheilvolle Kiefer nur unter meinem Blick erstarrt und Anstalten machte, mich zu packen, wandte ich ihn ab.

Wir waren hinausgegangen, um ein paar Orangen zu ernten, von den vereinzelten Bäumen in dem gigantischen, umzäunten Garten. Ein Zaun, hatte man mir damals erklärt, durch den man zwar auch von außen hereinschauen könnte, doch immerhin keine Mauer, die einem aus dem Inneren das Gefühl geben würde, abgeschottet zu sein. Als ob nicht ohnehin jeder hier drinnen längst diesen Zaun zur Grenze seiner Welt gemacht hätte. Als ob nicht das, was hier drin geschah, längst das einzige war, das noch zählte.

Eine reale Grenze, hier um den Garten herum, die uns alle „in Sicherheit" hielt. Eine ideelle Grenze, die uns zwang, im eigenen Kopf zu bleiben. Bei unseren eigenen Monstern.

Wir hatten Orangen gepflückt, die herrlich rund und sonnengelb waren, viel zu perfekt für einen Ort wie diesen. Waren mit der Ernte zurückgegangen, in Richtung der weißen Mauern, die unser ewiges Königreich umgaben. Dann war mir das fremde Gewächs ins Auge gestochen und ich hatte uns zum Halten gebracht.

„Es ist eine Mädchenkiefer.", erklärt Susanne, die mit erstaunlicher Beharrlichkeit meine Launen aushält. „Die Sorte nennt sich blauer Engel. Schön, nicht wahr?"

Ich schüttele den Kopf. Schön ist das nicht, was diese Pflanze mit mir macht. Sie ist jung, ihre Zweige noch dünn und sehen weich aus. Der Stamm ist glatt, ganz anders als ich es von ausgewachsenen Kiefern gewohnt bin - draußen, früher. Noch immer mustere ich die zufällig scheinenden Wuchsrichtungen ihrer unzähligen Extremitäten, wundere mich über die kelchartig im Kreis angelegten langen Nadeln.

„Sie hat zu viele Arme, aber keinen Kopf.", widerspreche ich. Ich spüre, wie Susanne mich von der Seite mustert, ohne hinsehen zu können. Ich ahne, wie einer der Zweige meine Unaufmerksamkeit ausnutzen und hervorschnellen würde, um mich am Knöchel zu sich heranzuziehen. Erst im letzten Moment wird aus dem blaugrünen Chaos ein Antlitz hervorlugen und sein Maul aufreißen.

Ich spüre nicht nur, wie Susanne mich mustert, ich höre auch, wie es in ihrem Kopf rumort. Sie fragt sich, was sie mit mir machen soll. Vielleicht geht sie im Kopf bereits ihre Wundermittel durch, irgendein -idol oder -azin, von dem sie die Dosis erhöhen kann. Vielleicht ahnt sie, dass ich neulich an einem meiner hellen Tage die Geisteskraft aufbringen konnte, mich zu erinnern: Wozu die Pillen wirklich da sind und dass ich mich nicht vergiften lasse.

„Ihne Mutter kommt heute zu Besuch, wissen Sie noch?", sagt sie dann, statt irgendetwas anderem. Und augenblicklich materialisiert sich ein Bild vor meinem inneren Auge. Mutter, die aus allen Poren nach Branntweinessig riecht, als habe sie ihre Haut wie beim Schrubben einer öffentlichen Sanitäreinrichtung damit bearbeitet, ohne je den Anschein von Reinheit zu erlangen. Mutter, die mir die verhasste Pfefferminzschokolade mitbringt, als wäre irgendeine Süßigkeit genug, um sich von ihrer Schuld freizukaufen. Die in der neonpinken Verpackung.

Sie ist die, die mich verleugnet hat, wegen der ich hier bin. Und dann kommt sie mit ihrer wasserlöslichen Mascara und bricht in Tränen aus, bloß um mir ein schlechtes Gewissen zu machen.

„Sie hat rein gar nichts Engelhaftes an sich.", erkläre ich, deute wieder auf das unberechenbare Wesen vor mir, getarnt in der Gestalt eines Bäumchens. Vielleicht bräuchte ich nicht auf es zeigen, denn ich habe es nicht aus den Augen gelassen. Nur Susanne ist zusammenhanglos abgeschweift. „Sie muss weg."

Ich kann Susannes Lächeln aus ihrer Stimme hören und bin einmal mehr beeindruckt von ihrer Geduld. Niemand anderes hält es so lange mit mir aus, ohne zu widersprechen. Alle anderen sind zu verblendet von der Doktrin, die ihnen als Realität verkauft wird. Vielleicht ist sie eine Zweiflerin wie ich. Sie sagt zwar nie etwas, doch mit ihrer Position in dieser Institution wäre jedes Wort gefährlich, das sie enttarnen könnte. Sie stellt meine Erkenntnisse nicht als wahr oder falsch dahin, und das allein sagt doch wohl mehr als genug.

„Darauf haben Sie leider keinen Einfluss. Und nun, da sie steht, kann ich dagegen auch nicht viel ausrichten."

Susanne hat Recht. Keinen Einfluss zu haben gehört wohl zu dem dazu, das unübersehbar auf jedem einzelnen Blatt meiner Krankenakte steht. Schon bevor ich hierher kam, hatte nichts, das ich sagte, für irgendjemanden eine Bedeutung. Hier drinnen ist es sogar noch schlimmer: Ich kann nicht einmal entscheiden, was ich esse, oder zu welchen Räumen und Gegenständen ich Zugang habe.

Wer maßt sich an, festzulegen, meine Sicherheit sei ein wichtiger zu erhaltenes Gut als meine Freiheit?

„Also, lassen Sie uns reingehen und Sie für das Treffen frisch machen.", schlägt Susanne vor.

„Nein.", entscheide ich spontan. „Nein." Denn auch wenn ich hier festsitze, für immer womöglich, auch wenn niemand mich anhören oder mir glauben schenken mag, auch wenn ich vielleicht im Moment, in dem ich ihr den Rücken zukehre, von einer niedlich anmutenden Monsterkiefer vertilgt werde, so kann ich doch das Entscheiden.

„Ich werde Albträume kriegen.", kündige ich an, und trete dann - rückwärts - den Weg zu meinem Zimmer an.

Als Mutters Ankunft verlautet wird, weigere ich mich, den kargen Raum zu verlassen. Es wird geduldet.

Und als am nächsten Morgen, als ich beim neuerlichen Gang durch den Garten ein paar Portionen vom -idol in der oberen Erdschicht verschwinden lassen will, ein deutliches Loch im Beet klafft, wo zuvor der blaue Engel lauerte, bin ich mir sicher, zumindest eine Verbündete zu haben, in dieser kleinen, einzig existierenden Welt innerhalb des Gefangensein beschönigenden Zauns.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top