BEING HUMAN ~ Amberbaum 🍂🍁🌳
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Raureif, nebelgrau, Raben, flimmern, Schach
BEING HUMAN (A MalecStory)
"I can't be your ghost right now.
I need to exist."
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Noch haften einige buntgescheckte und fünfzackige Blätter an meinen verzweigten Ästen, doch ich spüre bereits, dass die nächste Windböe nicht mehr fern ist. Ohne Rücksicht auf Verluste wird sie ihr Übriges tun und mich gänzlich meines festlich roten Herbstkleides berauben. Das letzte Blatt in Form eines Sterns wird fallen und der erhabene Winter eiskalt zuschlagen.
Ein nebelgrauer Schleier hüllt mich an diesem Morgen in einen blickdichten Mantel, während meine robuste Rinde auf den ersten Raureif in diesem Jahr trifft. Ich fühle mich noch nicht bereit für diesen Wandel.
Von Mal zu Mal fällt es mir schwerer, mich vom goldenen Herbst zu verabschieden.
Seit etlichen Jahrzehnten sind die Horen des Herbstes und ich vertraute Freunde. Unweigerlich denke ich an einen anderen Freund, der mir über die Jahre besonders an mein Amberbaum-Herz gewachsen ist. Nur handelt es sich bei diesem besagten Freund weder um einen Gott noch um einen Naturgeist, sondern um einen sterblichen Menschen.
'Ob er mich heute wieder besuchen wird? Warum zweifle ich daran, wenn er diesem Ritual all die Jahre über treu geblieben ist?' Der Tag ist noch jung. Mein Freund wird kommen, ganz gewiss.
Zwar habe ich ihm nun kaum noch etwas zu bieten, denn mein prächtiges Blätterdach ist schon kahl und spendet daher keinen Schutz mehr. Eine Schaar von Raben trauert mit mir melodisch über diesen Verlust und thront dabei auf den obersten Rängen der Zweige.
'Magnus, mein Freund. Ich ersehne deine Gesellschaft.' Schon verrückt, dass sich ein Mensch klammheimlich in mein hölzernes Baumherz geschlichen hat. Ich erinnere mich noch gut an Magnus' erste Schritte auf einer bunten Decke, die unweit von meinen Wurzeln ausgebreitet war. Seine Eltern waren so stolz und lachten herzhaft über dieses kleine Wunder, das sie selbst geschaffen hatten.
Das ein oder andere Mal waren meine Äste die schützende Hand, wenn ein Stein oder eine Unebenheit seinen Weg erschwerten, doch als tiefverwurzelter Laubbaum kann man sich nur bedingt flexibel bewegen. Ich genoss die vielen herzlichen Umarmungen, als Magnus so weit gewachsen war, dass seine Arme halbwegs um meinen Stamm herumragten.
Ich spürte bereits damals die tiefe Verbindung zwischen uns, die bis heute besteht und dadurch meinem Dasein auf dieser Erde etwas besonders Wertvolles verleiht. 'Welcher Baumgeist kann schon von sich behaupten, dass er eine tiefgehende Freundschaft mit einem Menschen pflegt?'
Auch wenn die Gespräche zwischen Magnus und mir bisher immer einseitig waren, so genoss ich doch diese wundervollen Momente, in denen er mir aus seinem Leben berichtete. Ich wollte wirklich daran teilhaben und erwischte mich hin und wieder bei dem fragenden Gedanken, wie es wohl wäre mein Leben voll und ganz an Magnus' Seite zu verbringen.
Wir könnten beide voneinander lernen und herausfinden, wie tief die Wurzeln einer Liebe ragen können. Vielleicht bin ich mit der Zeit sentimental und rührselig geworden oder sehnte mich insgeheim nach einem Gefährten.
Als die Enden meiner Herzwurzel plötzlich deutliche Vibrationen in der Erde wahrnehmen, bin ich wieder voller Hoffnung. Ein Läufer. Ich erkenne den Rhythmus. Es ist Magnus. Endlich.
Der Wind flüstert mir im selben Moment zu:
'Sei gegrüßt und Lebewohl.' Raschelndes Laub tanzt um mich herum und nun fallen auch meine letzten siebenlappigen Blätter. Das Ende des Herbstes ist besiegelt. Ich weine und vergieße zugleich unsichtbare Tränen der Freude, denn ein Ende ist auch immer ein neuer Anfang. Im Frühjahr werde ich wieder süße Früchte tragen und den Tieren an diesem besonderen Ort Nahrung schenken.
„Ich habe dich durch den Nebel von weitem gar nicht gesehen", begrüßt mich mein treuer Freund keuchend und lehnt mit seinem Rücken gegen meinen kräftigen Stamm. Ich gebe ihm Halt, so wie ich es immer tue und freue mich, dass Magnus bei mir immer noch einen Rückzugsort und die nötige Ruhe findet.
„Gott, ich weiß gar nicht, weshalb ich mir das jeden Tag antue."
'Oh, ich weiß es ganz genau und würde ihn nur zu gern daran erinnern.' Noch immer zwingt sich Magnus, jeden Tag zum Laufen. Als Junge war seine Statur ziemlich stämmig.
Eines sonnigen Herbsttages nahm ihn sein Vater mit auf eine kleine Lauftour durch diesen Park. Ich erinnere mich daran, als ob es gestern gewesen wäre. Magnus schimpfte und fluchte unentwegt, doch hörte er nie auf zu laufen, denn sein Vater tat es auch nicht. Er wollte ihn stolz machen.
'Das Leben ist wie ein Schachspiel, Magnus. Jeder hat einen bestimmten Platz und eine Aufgabe, aber den Weg zum Ziel muss man ganz individuell bestreiten', sprach Magnus' Vater an diesem Tag zu seinem Sohn. Und das tat Magnus. Er kämpfte für sich und seinem Ziel. Er kämpfte wie ein kleiner Löwe.
Bei jedem Schritt feuerte ich ihn an, denn ich war immer da und wachte über ihn. Dieses heilige Versprechen gab ich Magnus und mir.
„Das einzig Gute an dieser Lauferei ist, dass ich meinen tosenden Gedanken für eine Weile entkommen kann. Meine gestrige Verabredung war mal wieder ein Desaster. So langsam glaube ich, dass ich nie einen Mann finden werde, der mich aufrichtig und von Herzen liebt. Erwarte ich denn zu viel?", erzählt mir Magnus mit deutlicher Schwermut in der Stimme.
„Ich laufe noch eine Runde um den Teich und komme nachher nochmal bei dir vorbei. Vielleicht schaffe ich es heute unter fünfzehn Minuten. Wünsch mir Glück!", ruft er mir noch entgegen, als er sich wieder von dannen macht, um seinem Gedankenkarussell zu entfliehen.
'Ich wünsche dir jegliches Glück dieser Welt, Magnus.' Seine Silhouette verschwindet im dichten Nebel. Er wird zu mir zurückkehren, so wie er es immer tut und doch tun diese Abschiede immer besonders weh.
'Wenn ich doch nur bei ihm sein könnte, ihn auf seinem ganzen Weg begleiten und...' Mein Gedanke verstummt und wird vom krächzenen Gesang der Raben über mir übertönt. Zwei rostbraune Eichhörnchen gesellen sich dazu und lassen vor Schreck ihre ergaunerten Haselnüsse von der benachbarten Eiche fallen.
'Seid still! Ich kann nicht klar denken, wenn ihr so ein Lärm veranstaltet! Es ist doch nur eine Überlegung gewesen. Vielleicht funktioniert es ja gar nicht. Es ist eine Ewigkeit her, dass ich meine Form geändert habe und dabei war ich nie ein Mensch. Das würde meine ganze Kraft fordern. 'Ein Opfer, das ich für Magnus bringen würde', gestehe ich mir ein.
Ein Paar weißer Tauben findet nun auch den Weg in die Empore meiner Baumkrone und beobachtet das sich bietende Spektakel aufmerksam. Sie zögern, ehe sie mich vorsichtig und gurrend auf einen weisen Gedanken stoßen.
'Ich kenne die Konsequenzen nicht, also fragt mich nicht nach Angelegenheiten, von denen ihr und ich selbst keine Kenntnis haben!' Ich fühle mich wie von Sinnen.
Die Strafe meiner Unbeherrschtheit folgt im Nu. Weiße und klebrige Kotflecken landen auf meiner Stammrinde und schmälern die Schönheit meiner Erscheinung erheblich.
'Ihr seid zu gütig, Columbidae...
Okay, angenommen, ich verfolge diesen Gedanken bis zur Realisierung weiter, dann benötige ich eurer aller Hilfe. Kann ich auf euch zählen?', erkundige ich mich hoffnungsvoll und schwinge wippend meine verwobenen Äste.
Die Gemeinschaft, um mich herum wird größer, als zu meinen Wurzeln Katzen, Igel, Füchse und auch zwei junge Rehe dazustoßen. Letztere bleiben auf Abstand zu den anderen, versichern mir aber zu helfen. Auch wenn ich noch tief mit allem verbunden bin, spüre ich bereits, dass sich etwas von mir allmählich löst. Eine Druckwelle bildet sich um mich herum, als ich den letzten Zweifeln entsage und mich für ein menschliches Leben entscheide.
Der Erde um mein Wurzelwerk wird aufgewirbelt und der Raureif auf meiner Rinde transformiert sich zu abertausenden kleinen Wasserperlen. Zielsicher fließen sie zu Boden und Bilden die Essenz eines neuen Lebens.
Raben und Eichhörnchen verlassen das kahle Blätterdach, als auch sie das heftige Beben unter mir spüren und sich meine Herzwurzel aus dem Boden stemmt. Feuchte Erde wirbelt in die Höhe und bildet zusammen mit den letzten fallenden Blättern einen kreisenden Wirbel.
Erst als ich meinen kräftigen Herzschlag hören kann, weiß ich, dass meine Transformation geklappt hat.
Meine Sicht ist noch verschwommen, als ich es schaffe meine Lider zu öffnen. Vorsichtig ertaste ich sie mit meinen Fingern. Ich blicke an mir herab und kann nackte Füße erkennen, die in einer großen Kuhle aus feuchter Erde stehen. Neugierig wackle ich mit den Zehen und lächle über diesen Anblick. Ich fühle, wie sich meine Mundwinkel dabei verziehen.
Stolz blicke ich mich um und merke erst jetzt die vielen Augenpaare meiner tierischen Freunde, die mich aufmerksam und zugleich skeptisch mustern.
'Sehe ich in diesem Körper für euch menschlich aus?' Zaghaft halte ich meine Hand in die Höhe und lasse meine Finger tanzen. Ich fühle mich frei, aber vor allem lebendig.
Es bleibt stumm um mich herum.
'Was ist?'
Eins der Rehe kommt zögerlich auf mich zu. Im feuchten Glanz seiner dunklen Augenpaare, sehe ich meine eigenen, so goldend, dass die Sonne neidisch werden könnte.
Ich ahne schon, was in den Köpfchen meiner kleinen Freunde vor sich geht.
'Zu furchteinflößend? Was meint ihr, welche Farbe würde ihm gefallen?' Noch immer besteht meine mentale Verbindung zur Tierwelt, wofür ich unendlich dankbar bin.
'Vielleicht Augen, in der Farbe des Wassers?' Bittend sehe ich zu einer grauen Katze zu meiner Linken. Ihre tiefblauen Augen fixieren mich. Furchtlos kommt sie mir entgegen und lässt sich ohne Widerstand von mir hochheben. Während sich das Blau ihrer Pupillen zurückzieht, kämpft sich ein strahlendes Gold hindurch. Der Tausch ist perfekt.
'Danke.'
Auf Umwegen gelangen nach und nach bunt zusammengewürfelte Kleidungsstücke zu mir, sodass ich meinen entblößten Leib zumindest bedecken kann.
„Was haben Sie getan?", höre ich eine aufgebrachte Stimme hinter mir. Ich würde sie unter tausenden erkennen. Magnus ist zu mir zurückgekehrt.
„Wo ist er hin?", fragt mich mein Freund sichtlich aufgewühlt und sinkt vor mir auf die Knie zu Boden, genau dort, wo vor wenigen Augenblicken noch meine kräftigen Wurzeln waren. Es ist seltsam nicht mehr physisch mit der Erde verbunden zu sein. Dennoch spüre ich sie jetzt im Geiste, wenn auch nicht mehr so stark.
„Er ist noch hier", versichere ich Magnus sanftmütig und höre das erste Mal den Klang meiner eigenen Stimme. Sie klingt sanft und zeugt dennoch von einer deutlichen Tiefe.
„Nein, er ist fort. Sehen sie doch hin!", schreit mich Magnus wutentbrannt an, ohne mich wirklich anzusehen. Ein mächtiger und flimmernder Tränenschleier in seinen Augen verhindert ihm die klare Sicht.
„Das tue ich. Sieh mich an Magnus.
Er ist noch hier. Ich bin noch hier", werde ich deutlicher und umfasse vorsichtig Magnus' Hand, als er mich ansieht.
Seine Finger sind zart und kühl und doch genügt diese kleine Berührung aus, um mich allumfassende Wärme spüren zu lassen. All die Erinnerungen, die ich mit Magnus verbinde, sende ich mittels letzter kosmischer Kraft an ihn. Er muss wissen, dass ich es bin. Nur wenn er es sieht und fühlt, kann er dieses Wissen annehmen. 'Aber wird er mich auch akzeptieren?'
Eine beharrliche Starre legt sich auf Magnus, der wie angewurzelt vor mir kniet. Zusammen erleben wir jede geschaffene Erinnerung neu.
„Ich kann nicht begreifen, was hier gerade passiert", wispert mein langjähriger Freund. Die Wahrheit fordert seinen Glauben gehörig, ich kann es in seinen kastanienbraunen Augen sehen.
„So schickt es sich mit den Wundern des Lebens. Sie sind stets unbegreiflich, deshalb aber nicht weniger wahr."
„Dann bist du mein Wunder?", fragt mich Magnus noch etwas ungläubig.
„Es tut mir leid, dass du so lange darauf warten musstest."
Blind zupfe ich mir ein rabenschwarzes Haar vom Kopf und vergrabe es unter die dunkle Erde zu meinen Füßen.
„Ein neuer Liquidambar wird hier gedeihen und eines Tages den Tieren dieses Waldes ein neues Zuhause geben", verspreche ich Magnus.
"Und er wird über die Menschen wachen, die hier Schutz und Ruhe suchen, so wie du es bei mir getan hast?", erkundigt er sich hoffnungsvoll.
"Im besten Fall."
"Im besten Fall?", wundert er sich.
„Nun, es gibt nicht nur freundliche Baumgeister", gestehe ich ihm lachend und entzünde mit diesen Worten Magnus' brennende Neugier für die Mythen der Naturgeister. Ich weiß, er hat viele Fragen und nicht immer werde ich ihm eine Antwort darauf geben können, denn auch ich kann mir manches bis heute nicht erklären.
Das Wunder des Lebens hat unendlich viele Facetten und ich bin nur eine davon. Mein Name ist Liquidambar styraciflua und das war meine Geschichte über das Leben und meine einzig wahre Liebe.
The End.
Liebsten Dank an @typhonias für dieses unglaubliche Cover. Ich habe mich sofort darin verliebt! 🤗🍁🍂
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