2 - Hartes Training

Aufgeregtes Gemurmel erfüllte die Mensa, in der wir saßen und unser Abendbrot zu uns nahmen. „Welche Gruppe könnte es wohl sein?", warf Jule in die Runde. „Ich frage mich, was sie in dem Projekt thematisieren wollen.", sinnierte Paula. „Meint ihr, man könnte etwas Privatzeit mit dieser Gruppe verbringen?", stellte Synthia ihre Frage in einem zweideutigen Unterton. Anna und ich blickten still einander an und schüttelten dann die Köpfe.

Wir waren zwar auf keiner reinen Mädchenschule, aber dennoch überstieg die Zahl der Schülerinnen, die der Schüler um das Doppelte. Dementsprechend sensationär war es dann, wenn eine Gruppe ein Projektmit uns starten wollte, in dem ein Duett vorbereitet werden sollte. Denn das bedeutete KÖRPERKONTAKT – und das war etwas, was sich hier wohl die Wenigsten entgehen lassen würden. Ich jedoch fand die Vorstellung antreibend, hierdurch etwas in meinem Lebenslauf vorweisen zu können.

In mir festigte sich der Wunsch, die Audition zu tanzen und auch gecastet zu werden. Doch dafür musste ich mir zunächst innerhalb einer Woche eine Choreo aus dem Gehirn pressen. Welchen Song, welche Melodien sollte ich wählen? Ich wollte etwas Ausgefallenes machen. Nicht eines dieser alten Klassikstücke – das stand schonmal für mich fest. Da schoss mir plötzlich eine weitere Frage durch den Kopf und ich tippte Annas Arm neben mir an. „Du sag mal... hast du jemals etwas von Big Hit Music gehört? Mir sagt der Name überhaupt nichts." Nachdenklich hob sie die Augenbrauen und verzog den Mund. „Hm, nein, keine Ahnung..." Plötzlich leuchteten ihre Augen auf und sie drehte sich komplett zu mir herum. „Sag bloß, du willst zu den Auditions.", raunte sie gerade laut genug für unser beider Ohren. Ich warf ihr einen bedeutungsvollen Blick zu und auf ihrem Gesicht erschien ein breites Grinsen. „Lass uns nach dem Abendessen einen Plan machen.", schlug sie vor. In Ruhe aßen wir mit den anderen auf und zogen uns danach auf unser Zimmer zurück.

„K-Pop?!", rief ich aus, als wir uns durch die offizielle Website von HYBE Labels geklickt hatten und warf mich in meinem Stuhl nach hinten. K-Pop war jetzt nicht unbedingt die Musikrichtung, die ich hörte, aber hey – dachte ich mir – es konnte nicht schaden, etwas Neues kennenzulernen...oder? Anna stieß neben mir hörbar die Luft aus. „Tja...damit hätten wir das Mysterium um den Auftraggeber gelöst." „Wie soll ich denn bitte zu diesen Liedern Ballett tanzen?", jammerte ich. „Wir hören uns eben durch, was sich zum Tanzen entsprechend anbietet.", meinte Anna sachlich, lehnte sich nach vorne und griff wieder nach der Funkmaus. „Uh!", rief sie dann aus, als sie scheinbar ein Geistesblitz durchfuhr. „Wir könnten uns ein paar dieser Songs durchhören, schauen, was wir von Melodie und Tempo her gut finden, uns dann den Text dazu ansehen, um die Message zu verstehen und dann über Youtube eine Pianoversion raussuchen!" Nun lehnte auch ich mich wieder nach vorne und stützte mein Kinn auf den Händen ab. „Die Idee finde ich gut. Hmmm...was ist das denn? Geh mal da auf BTS, bitte." Wir hörten uns einige Songs von BTS an und stöberten in der Lyrics, bevor wir dann auf YouTube eine Pianoplaylist fanden, durch die wir uns Abschnittweise durchklickten. Ich entschied mich für die Pianoversion eines Songs Namens ‚Mikrokosmos'. Ich mochte die Geschwindigkeit und den Flow der Melodie. Sie war einprägend und mitreißend. Im Kopf plante ich schon sämtliche Figurenabläufe durch. Es war 00:00 Uhr, als Anna und ich im Zimmer das Licht ausknipsten. Ich schlief mit dem Gedanken ein, gleich morgen eines der kleineren Studios zu reservieren, um mich direkt auf die Auditions vorzubereiten...


6 Tage bis zu den Auditions:

Bereits als ich die Augen beim Klingeln des Weckers aufschlug, breitete sich ein Grinsen von einem Ohr zum anderen auf meinem Gesicht aus. Schwungvoll schwang ich mich aus dem Bett und machte mich fertig für den Tag. Am Vormittag folgte ich aufgeweckt dem allgemeinen Bildungsunterricht. In der ersten großen Pause lief ich ins Sekretariat zu Ms Bernhard und ließ mir ein Studio von 16:00 bis 20:00 Uhr buchen. Dann gab ich Anna Bescheid und trug meinen Namen auf die Audition-Liste gegen 09:30 Uhr ein. Anna wollte mich unterstützen, wo sie nur konnte, damit ich meine Chancen, genommen zu werden, steigern konnte – sie wollte sich sogar mit mir auf den Nachmittag hin gemeinsam an die Choreo setzen. Nach der großen Mittagspause folgte der Unterricht bei Madame Colin. Auch heute wieder wachte sie mit strengem Blick über ihre Klasse. Das Training heute fühlte sich dennoch anders an – irgendwie leichter. Wahrscheinlich lag es an meiner Vorfreude auf mein späteres Training. Als der Unterricht beendet war, nahm ich mit Anna in der Mensa einen kleinen LowCarb Muffin und ein Glas Wasser mit einer Magnesium-Brausetablette zu mir, dann liefen wir ins reservierte Studio.

Während die Musik über unseren kleinen Rekorderlief, saßen Anna und ich auf dem Boden. Nachdenklich tippte ich mit meinem Stift auf dem Papier meines Blocks herum und überlegte, in welche Figur ich nach der Arabesque übergehen wollte. „Hm... vielleicht so?", sinnierte ich, stand auf und ging von dieser Figur fließend in die Croisé über und dann in die de côté. Anna nickte heftig. „Das finde ich gut! Das sieht gut aus." Über den Nachmittag hin stellten wir tatsächlich für die erste Hälfte des Liedes eine Choreo auf die Beine. Je mehr ich sie tanzte, desto mehr spürte ich auch, wie gut diese Figuren sich in das Musikstück einweben ließen. Am Tagesende schlief ich mit einem zufriedenen Lächeln auf dem Gesicht ein.


5 Tage bis zu den Auditions:

Heute schaffte ich es, die zweite Liedhälfte mit einer Choreografie zu untermalen. Ich hatte das gleiche Studio wie gestern bekommen. Heute war es auch weniger drückend, da es in der Nacht heftig geregnet hatte. Anna merkte an, an welchen Figuren ich noch ein wenig feilen konnte.


4 Tage bis zu den Auditions:

Heute festigte ich die Choreo in meinem Kopf. Hier und da hing ich teilweise in der Luft, doch von Durchgang zu Durchgang wurde es besser und besser. Bald war es so weit! Meine Aufregung wuchs stetig mit der Vorfreude an. Mittlerweile war die Audition-Liste voll. Jeder einzelne Terminslot war belegt und die Namen in den saubersten Handschriften eingetragen.


3 Tage bis zu den Auditions:

Heute präsentierte ich Madame Colin meine Choreografie nach dem Unterricht. Sie gab mir noch einige hilfreiche Tipps und ein paar weitere Verbesserungsvorschläge für ein paar Stellen, war sonst jedoch mit meinem Konzept sehr zufrieden. Anna wartete draußen vor der Tür auf mich und ich streckte ihr beide Daumen hoch, als ich aus dem Studio A7 trat.


2 Tage bis zu den Auditions:

Jetzt hieß es: Nerven bewahren, denn der Termin rückte unaufhörlich näher und näher. Pegel-technisch befanden sich nun alle Unterrichtsstunden auf dem Höhepunkt und die Lehrer hatten Mühe, zu den Mädels durchzudringen. Man wusste immer noch nicht, um welche Band es sich handeln würde, denn Big Hit hielt dicht. Die Pausen bestanden aus Spekulationen über die koreanische Band, die herkommen würde und generell aus angespanntem, aufgeregtem Getuschel. Allerdings gab es auch einige böse Zungen, die anderen Mitstreiterinnen ihren Platz auf der Liste nicht gönnten. Auch ich blieb nicht verschont vor dem Neid einiger Mitschülerinnen, doch ich ließ sie einfach reden. Denn die einzigen Meinungen, die für mich am Ende zählen würden, waren die von Madame Colin, Anna und der Jury.


1 Tag bis zu den Auditions:

Der Tag war viel zu schnell dahingeflogen. Die Stunden waren gerannt und gerannt. Beim Abendessen hatte ich kaum etwas herunter bekommen vor Aufregung und durch die zusätzlichen Trainingseinheiten – bei sonst gleichbleibenden, wenn nicht sogar zurückgefahrenen Essgewohnheiten – hatten dazu geführt, dass ich innerhalb dieser Woche noch 5 Kilo weiter abgenommen hatte. Ich wunderte mich, wie ich es schaffte, die Kraft fürs Training aufzubringen. Vermutlich waren es meine reine ungebremste Energie und der Wille, die Audition zu gewinnen. Ich wollte diese Chance in meinem Lebenslauf! Unruhig drehte ich mich im Bett von einer auf die andere Seite. Obwohl die Uhr auf meinem Nachttisch 2:30 Uhr anzeigte und ich dank des Trainings völlig fertig hätte sein müssen, war ich hellwach. Mein Herz schlug kräftig in meiner Brust und mein Atem weigerte sich, sich zu verlangsamen, obwohl ich mich immer wieder hierzu anhielt. Anna schlief schon längst und murmelte etwas im Schlaf. Gott, ich beneidete sie um die Ruhe, die sie hatte. Ich pustete geräuschvoll aus, jedoch nicht laut genug, um irgendwen zu wecken. Als ich merkte, dass meine Augen sich wieder einmal selbständig geöffnet hatten, kniff ich sie zusammen und konzentrierte mich abermals: einatmen...ausatmen...

Irgendwann schaffte ich es dann tatsächlich, durch diese Übung in einen unruhigen und traumlosen Schlaf zu verfallen, der sich jedoch nicht wirklich erholsam anfühlte.


Tag der Auditions:

Der Wecker schrillte und ich stand im Bett. Ich lief direkt zum Spiegel und band mein langes Haar zu einem Dutt zusammen. Ich legte nur ein wenig Wimperntusche auf, denn im Alltag war ich nicht die Sorte Mädchen, die sich viel Make-Up ins Gesicht klatschte. Ich fand außerdem, dass ich das auch gar nicht nötig hatte. Ich wählte meinen schwarzen Body mit ¾-Ärmeln unter den ich meine dünne blassrosa Strumpfhose anzog. Den dazu passenden blassrosa und hauchdünnen Rock, der ungefähr so kurz wie eine Hotpants war, zog ich an seinen Schnüren auf Hüfthöhe zu und band meine Ballerinas. Dann war ich fertig, schnappte meine Musik, die ich auf CD gebrannt hatte und rannte eilig aus dem Raum, nachdem mir Anna viel Erfolg gewünscht hatte.


„Miss Sabrin Jacobs?", rief mich ein kleiner asiatischer Mann mit rundlichem Gesicht auf. Er erwartete mich an der Tür zum Studio A7. Sein Gesicht zeigte ein blankes und völlig neutrales Pokerface. Nervös lief ich den Flur an meinen wartenden Mitstreiterinnen vorbei. Man hatte nicht viel davon mitbekommen können, wie es bei den Anderen drinnen gelaufen war, denn die Isolierung der Türen und Wände an dieser Schule ließ nichts – aber auch absolut gar nichts – durchdringen.

Der Man ließ mir den Vortritt und als ich mich im Studio wiederfand, saßen auf der Seite der Spiegelfront vier fremde Personen, die mich mit neutralen Gesichtern, aber dennoch auch mit einem freundlich einstudierten Lächeln empfingen. Der Mann, der mich hereingebeten hatte, schritt an mir vorbei und nahm auf dem einzigen freien Stuhl an der Tischreihe Platz, die vor der Jury aufgestellt worden war. Ich erkannte meine Mappe mit meinem Schulfoto von vor 3 Monaten, blickte jedoch schnell wieder weg, bevor ich mich wie bei einem Verhör vorkommen konnte.

„Sie sind 20 Jahre, Miss Jacobs?" Ich nickte und glitt automatisch in eine leichte Verbeugung über. „Ja, Sir." „Und wie lange werden Sie hier schon unterrichtet?" „10 Jahre, Sir." Ich achtete darauf, meine Stimme gesenkt, aber nicht zu leise zu halten. „Viele Ihrer Lehrer reden in lobenden Tönen von Ihnen..." Ein anerkennendes Lächeln huschte einem Jurymitglied übers Gesicht, als er meine Akte studierte. „Ist es richtig, dass dies hier für Sie die erste größere Audition außerhalb der schulischen Aktivitäten ist?", fragte der Mann, der mich hereingeholt hatte und ich nickte – den Blick demütig zu Boden gerichtet. Da erhob seine Kollegin das Wort. „Und was haben Sie uns heute mitgebracht?" Durch meine Nervosität wusste ich gar nicht mehr, worauf sie hinauswollte. „Verzeihen Sie?" Die Frau lächelte verständnisvoll, bevor sie antwortete und ihre Hände dabei auf dem Tisch faltete. „Für was tanzen Sie heute, was ist Ihre Intention. Was zeigen Sie uns?" Ich verstand und holte einmal tief Luft, um meinen leicht zitternden Körper zu beruhigen.

„Nun, wenn ich tanze, dann tu ich das in erster Linie für mich. Ich liebe das Tanzen, so wie ich auch meine Familie liebe. Ich hoffe Ihnen mit meiner Vorstellung heute greifbar machen zu können, wie sehr mein Herz fürs Tanzen schlägt. Mein Ziel sind die Bühnen, auf denen Schwanensee und der Nussknacker getanzt werden." Ein weiteres Jurymitglied schrieb sich Notizen auf. Ich gab seinem Kollegen die CD, die dieser in den von der Schule gestellten Rekorder einlegte. Ich ging auf Position und nickte der Jury zu, als ich bereit war.

Die Musik setzte ein und ich begann mit den ersten Figuren. Ich ließ die Melodie durch meinen Körper und Geist fließen, fühlte die Sehnsucht, die sie mit sich zog; die Leidenschaft für etwas, das größer war als ich. Alles um mich herum verschwand. Ich tanzte in weißem Licht und verlor mich komplett im Fluss des Pianos. Ich fühlte die Musik, zart und doch kraftvoll klingen. Ich tanzte, wie ich gefühlt noch nie getanzt hatte, denn diese Melodie hatte sich ihren Weg in mein Herz gebahnt. Immer wenn ich sie beim Training gehört hatte, floss ein Mix aus Sehnsucht, Freude, Schwermut und... Vermissen durch mich hindurch. Ich hatte mich in die Pianoversion von Mikrokosmus verliebt und versuchte nichts Geringeres, als das meinen Zuschauern durch mich mitzuteilen. Der Song erreichte seinen Höhepunkt, in dem ich mittlerweile voll und ganz aufgegangen war. Als die Musik ruhiger wurde und ausklang, endete Ich mit ihr. Die Hand in die Ferne nach etwas ausgestreckt, dass für andere unsichtbar blieb: Mein Mikrokosmos.

„Danke.", hallte die Stimme eines der Jurymitglieder durch die Stille, ohne die Regung eines Gefühls zu verraten und holte mich damit zurück ins Hier und Jetzt. Ein Blick in ihre Gesichter verriet mir genauso viel wie ein Blick in die Augen einer Puppe: Nichts. Ich verabschiedete mich freundlich mit einer kleinen Verbeugung und verließ dann mit einem Kloß im Hals das Studio, wo ich eben noch quasi nackt getanzt und alles von mir gegeben hatte. Heiße Tränen liefen mir still über die Wangen und das Gefühl, nicht gut genug gewesen zu sein quälte mich noch für den Rest des Tages.


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