1 - École Nuit d'été de ballet
In einem Internat zu wohnen ist nicht immer so lustig, wie man es sich vielleicht vorstellt. Besonders dann nicht, wenn es sich bei diesem Internat auch noch um eine der angesehensten Ballettschulen des Landes handelt. Auf so eine Schule gehe ich: der „Nuit d'été de ballet". Der Unterricht ist anstrengend, hart und erbarmungslos. Aber dafür schaffen es die Talentiertesten von uns anschließend in die großen Stücke – auf die bekanntesten Bühnen der Welt. Die Schule fordert und verlangt viel ab, aber das ist es mir Wert. Denn ich fühle mich zum Tanzen geboren. Es gibt jedoch eine Sache, die mich unvorbereitet getroffen hat. Diese Geschichte möchte ich nun erzählen.
Es war September. Draußen zwitscherten die Vögel im sanften Spätsommerwind. Die Luft war vielleicht etwas schwül, aber das war sie bereits seit Tagen. Die warme Nachmittagssonne schien unermüdlich heiß durch die bodenlangen Fenster unseres Ballett-Studios. Madame Colin schritt durch den Tanzsaal. Aus einem Ghettoblaster an der Stirnseite des Raums, erklang ein Klavierspiel. „Synthia, mehr Spannung! Annalies, die Hand! Sabrin..." Ich hielt mich an der Stange vor mir fest und versuchte zu ignorieren, dass meine Lehrerin direkt hinter mir stehen blieb und jede kleine Bewegung mit ihrem akribischen Blick verfolgte. „... gut so, weiter üben.", fällte sie ihr Urteil und Schritt zum nächsten Schüler.
Wir übten bereits seit zwei Stunden und bald war Unterrichtsschluss. Alle schwitzten und keuchten unter Anstrengung. Das ließ Madame Colin jedoch völlig kalt. Heimlich nannten wir sie auch hinter ihrem Rücken >> die Eiskönigin <<. „Philipe, was ist das? Streck den Rücken!" Ich drehte meinen Kopf nach rechts und suchte Annalies' Blick. Sie hob erschöpft die Augenbrauen und streckte die Zunge kurz raus. Dann widmete sich wieder jeder selbst seinen Übungen und Abläufen.
Als Madame Colin schließlich den Unterricht für beendet erklärte, hasteten alle zu ihren Taschen an der Wand und dann zur Tür hinaus. Nur Annalies und ich hatten es nicht eilig und verließen immer als einige der letzten den Saal. Ich legte mir mein Handtuch in den Nacken und griff nach meiner Wasserflasche. Annalies – ich nannte sie oft auch einfach Anna – legte mir eine Hand auf die Schulter. „Wir sehen uns nachher?" Ich nickte und sie lief zu ihrer nächsten Unterrichtsstunde.
Anna und ich waren Zimmerkameradinnen. Anfangs standen wir der jeweils anderen relativ neutral gegenüber, doch als ich für sie log, nachdem sie sich eines Abends hinausgeschlichen hatte, fing sie an mir zu vertrauen und wir begannen langsam eine Freundschaft aufzubauen.
Seit 10 Jahren lebte und trainierte ich nun schon hier. Meine Eltern lebten in einem anderen Bundesstaat und verdienten sich den Lebensunterhalt als Ärzte. Nur so konnten sie auch meine Ausbildung entsprechend finanzieren. Denn diese Schule war so exklusiv, dass nicht jeder hier angenommen wurde und die Unterbringung zudem äußerst kostspielig war. Aus diesem Grund nahm ich auch das Privileg hier zu sein sehr ernst. Ich machte nie ärger, verhielt mich diszipliniert und gab immer 200%. Meine Motivation bestand für mich, sowie für viele andere hier auch, darin, eines Tages bei den ganz Großen Shows mitzutanzen – im besten Fall eine Hauptrolle zu ergattern. „Sabrin...", hallte die Stimme von Madame Colin durch den Saal und ich drehte mich zu ihr um. Nachdem sie ein wenig nähergekommen war, räusperte sie sich kurz. „Das war gute Arbeit heute. Aber ruh dich nicht auf deinen Lorbeeren aus. Wenn du weiter fleißig trainierst, schlage ich Dich vielleicht als Hauptrolle für unser nächstes Projekt vor. Bleib also dran." Ich nickte und sie schenkte mir ihr seltenes Lächeln.
Nach der letzten Unterrichtsstunde, fanden Annalies und ich uns in unserem Zimmer ein, um zu Duschen und uns für das Essen in der Mensa fertig zu machen. Ich war gerade fertig, als draußen auf dem Flur der Gong erklang. Der Gong war das Zeichen dafür, dass eine Ansage gemacht werden sollte. Jeder hatte sich ausnahmslos auf dem Flur einzufinden, um dieser Ansage zuzuhören. Normalerweise kam das jedoch nicht häufig vor, weswegen Anna und ich uns jetzt jeweils nur einen fragenden Blick zuwarfen, bevor wir vor die Zimmertür traten.
Im Flur wartete bereits unsere Aufsicht Ms Lanning. Sie war so etwas ähnliches wie eine Aufpasserin, die dafür sorgte, dass es hier zivilisiert und diszipliniert ablief. Für jeden Klassenbereich gab es einen eigenen Korridor – dieser hier stand unter ihrer Obhut. Sie war auch diejenige, zu der man kommen konnte, wenn man Probleme hatte oder einen etwas bedrückte. Ms Lanning überprüfte uns auf Vollzähligkeit und schickte dann ein „Go" über ihr iPad an die Sprecherstation. Kurz darauf ertönte auch schon die Stimme der Sekretärin Ms Bernhard durch die Lautsprecher an der Wand.
„Guten Abend liebe Schülerinnen und Schüler. Madame Colin hat eine wichtige Mitteilung für die Klasse der Juliets zu verkünden. Klasse Juliets, findet euch bitte umgehend in Studio A7 ein."
Ach ja, ich vergaß zu erwähnen, dass die Schule ihre Klassen nach Rollennamen aus bekannten Ballettstücken benannte. Anna und ich befanden uns in der Klasse der Juliets. Die Lautsprecher verstummten und ich drehte mich aufgeregt zu Anna um. „Was meinst du, was sie wohl will?" Sie zuckte ratlos mit den Schultern. „Ich habe keinen Schimmer." Im Flur begann die Grüppchen-Bildung. Ein paar Mädels aus unserer Klasse gesellten sich an unsere Zimmertür und gemeinsam machten wir uns auf den Weg ins Studio A7.
Madame Colin erwartete uns bereits. Sie lehnte an der Barre und wirkte irgendwie... unruhiger als sonst. Sie fuhr mit den Händen mehrmals über ihre Röcke und die Stange. Dann löste sie sich und trat ein paar Schritte auf uns zu. „Juliets, schön, dass Sie sich alle eingefunden haben. Ich bitte um Aufmerksamkeit." Augenblicklich verstummte jedwedes, aufgeregtes Geschnatter und die Klasse folgte gebannt unserer Lehrerin. Madame Colin blickte kurz zu Boden, bevor sie dann jede Einzelne von uns nacheinander mit festem Blick fixierte
„Die Rektorin rief mich vorhin zu sich. Sie wurde von Big Hit Music kontaktiert." Es folgten aufgeregte Blicke unter den Schülerinnen. Madame Colin fuhr unbeirrt fort. „Rektorin Dumont bat mich eine Klasse hierüber zu unterrichten und ich habe an Ihre Klasse gedacht." Sie legte für mehr Spannung eine Pause ein, bevor sie weiter redete. „Es ist Folgendes: Big Hit plant mit einer ihrer Bands ein Musikprojekt, für dass sie eine Ballett-Tänzerin unserer Schule casten wollen." Ihr Blick richtete sich auf mich und hielt mich fest. Mich beschlich das Gefühl, dass sie nun nur noch hauptsächlich mit mir sprach. „Big Hit schickt in einer Woche eine Jury an unsere Schule, um eine Schülerin auszuwählen. Wer die Chance ergreifen möchte, kann sich für die Auditions in die Liste am schwarzen Brett eintragen. Die Auditions werden in diesem Raum von 09:00 – 13:00 Uhr stattfinden. Übt eine individuelle Choreographie ein. Lasst eure Persönlichkeit in die Choreo einfließen." Ich schnappte nach Luft. Konnte es wirklich sein? Es wäre die erste Chance irgendwo mitzuwirken. Mein Herz beschleunigte sich vor Freude. „Big Hits Projekt besteht darin, ein Duett für ein Musikvideo zu drehen. Im Gegenzug dürfen wir dieses Duett auf die Bühne bringen." Leises Getuschel um mich herum schwoll langsam an. Madame Colin klatschte einmal in die Hände und nickte uns zu. „Ich wünsche allen die an den Auditions teilnehmen...", dabei sah sie mir noch einmal durchdringend in die Augen „viel Erfolg. Und nun alors, vite vite! Das Essen wird kalt."
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