Miss Right und Miss Wrong - Vmon

Nach einer Schreibidee von  GimAgim !
Vielen Dank für diese Inspiration und dass ich den Vorschlag benutzen durfte.

Leider hat es doch etwas gedauert, bis diese Geschichte ihren Weg online gefunden hat :) Ich hoffe, sie gefällt euch!

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Der Schreibvorschlag lautete:

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Miss Right und Miss Wrong

Mein Bruder Seokjin hat mich ausgelacht, als ich ihm davon erzählte, dass auf meinen Schultern ein Engel und ein Teufel sitzen. Er erzählte es sofort unseren Eltern, die mich kurz darauf besorgt zu allen erdenklichen Ärzten schleiften, als sie merkten, dass ich es ernst meinte.

Die Ärzte schoben mich durch jede Röhre, die sie finden konnten, doch das Ergebnis war immer das gleiche. Sie fanden nichts. Der Teufel und der Engel blieben hartnäckig auf meinen Schultern sitzen und betrachteten von dort alles aufmerksam um mich herum.

Wenn sie doch nur beobachtet hätten und dabei still gewesen wären! Doch sie kommentierten alles und jeden, und sie haben bis heute nicht damit aufgehört. Das macht mich wahnsinnig und mittlerweile fällt es mir immer schwerer, sie die ganze Zeit zu ignorieren.

Früher war alles normal und ich bin alleine in meinem Kopf gewesen. Doch seit dem Unfall vor zwei Jahren, bei dem ich hart mit dem Kopf aufgeschlagen bin, sind die beiden meine stetigen Begleiter. Es gibt Momente, da sind sie verschwunden, aber die Augenblicke, in denen sie da sind und mich mit ihrem Geplapper und Gezanke in den Wahnsinn treiben, nehmen immer weiter zu.

„Wie lief die Klausur heute?", fragt mich Seokjin, als wir zusammen am Esstisch sitzen und zu Abend essen.

Ich zucke mit den Schultern. „Ganz gut, denke ich", murmle ich. Doch Yoongi, der auf meiner linken Schulter sitzt und dessen kleine rote Teufelshörner für mich deutlich zwischen seinen schwarzen Haaren zu erkennen sind, gibt gleich seinen Senf dazu.

"Lief doch super! Aber du hättest dich wirklich mehr auf das Papier vor deiner Nase konzentrieren können", giftet er. Manchmal geht er mir sehr auf die Nerven. In diesem Moment hätte ich es sehr begrüßt, wenn er einfach mal für ein paar Stunden verschwunden wäre.

Nein, so stimmt das nicht. Ich wäre die beiden prinzipiell gerne los.

„Und wieso konnte er sich nicht konzentrieren? Du hast ihn die ganze Zeit abgelenkt!", faucht Jimin zurück und macht es sich auf meiner rechten Schulter bequem.

Nicht, dass ich sie spüren könnte. Sie sind federleicht und besitzen keine Masse. Oft habe ich versucht, sie von ihrer Position zu wischen, doch es ist zwecklos. Kein Windstoß, keine noch so ausgefallene Verrenkung kann sie von meinen Schultern vertreiben.

„Hast du die Brüste des Mädels neben ihm gesehen? Ich brauche ihn da gar nicht ablenken, er sieht das schon von ganz alleine! Wobei der Arsch vom Lehrer auch nicht schlecht war."

"Yoongi! Das ist seine Lehrkraft! Hör auf, ihm solche Flausen in den Kopf zu setzen. Er soll sich in der Schule konzentrieren!"

Ich verziehe genervt mein Gesicht, doch als ich mitbekomme, dass mich Seokjin aufmerksam mustert, schiebe ich mir schnell ein Stück Pizza in den Mund.

„Sind sie wieder da?", fragt er und der übliche distanzierte Ausdruck breitet sich auf seiner Miene aus.

Er ist viel zu aufmerksam.

Seokjin hat gelernt, mit meinen beiden Begleitern umzugehen. Als keiner der Ärzte etwas Auffälliges in den Untersuchungen fand, haben sie es mit Medikamenten versucht. Zunächst homöopathische Mittel, die nicht halfen. Später wechselte ich auf Antidepressiva, doch die beiden verschwanden nicht und die Nebenwirkungen waren zu groß. Also schlucke ich keine Tabletten mehr und lerne, mit ihnen zu leben. Das geht mal mehr und mal weniger gut.

„Ja", seufze ich. Vor meinem Bruder gebe ich es nur ungern zu, wenn Yoongi und Jimin bei mir sind. Etwas in seinem Verhalten ändert sich dann schlagartig und die Stimmung kippt. Ich glaube, er denkt, er sei an dem Unfall damals schuld und macht sich Vorwürfe. Dabei kann er nichts für die Geschehnisse und hätte sie auch nicht ändern können. Was musste mich auch so ein dämlicher Motorradfahrer über den Haufen fahren?

„Was sagen Miss Right und Miss Wrong denn?", fragt er nach und nimmt sich ein weiteres Pizzastück. Seine Lippen sind zu einem schmalen Strich zusammengekniffen.

Diese Spitznamen haben sich bei ihm für die beiden eingebürgert, weil er schnell herausbekam, dass einer meiner imaginären Begleiter meistens Recht hatte und unterstützte, während der andere für Unruhe sorgte, auch wenn er es selbst gar nicht so wahrnahm. Engel und Teufel eben.

Irgendwie ist Seokjin anfangs auf die Idee gekommen, dass es sich bei den beiden um Frauen handelt. Zwar habe ich es rasch aufgeklärt, doch die Spitznamen haben sie bei ihm beibehalten. Ganz zum Unmut von Jimin und Yoongi. Unter diesen Namen haben sie sich mir jedenfalls damals vorgestellt.

„Jetzt kommt der schon wieder mit diesem blöden Spitznamen!", echauffiert sich Jimin. „Wie ich es hasse!", stimmt Yoongi gleich mit ein und es ist einer der wenigen Augenblicke, in denen sie sich einig sind.

Ich vergrabe mein Gesicht in meinen Händen und atme tief durch.

„Tae?", höre ich Seokjins Stimme, doch ich kann mich nur schwer beherrschen.

Tief durchatmen.

Ein und aus. Dann verschwinden die beiden vielleicht und lassen mich wieder in Ruhe. Meint zumindest mein Therapeut. Geholfen hat es mir noch kein einziges Mal.

„Siehst du, sogar Taetae ist schon ganz genervt von diesen saudoofen Namen!", höre ich jedoch Yoongis Beschwerde und ich seufze geschlagen.

„Könntest du bitte aufhören, die beiden so zu nennen? Es regt sie immer so furchtbar auf", bitte ich meinen Bruder.

„Entschuldige."

Ich muss ihn gar nicht ansehen, um zu wissen, dass seine Stirn in tiefen Falten liegt und sein Blick auf mir ruht. Er ist mein großer Bruder und die ganze Zeit über besorgt, dass es mir nicht gut geht. Seitdem Yoongi und Jimin an meiner Seite sind, ist sein Verhalten noch beschützender geworden.

Seokjin hat sich schon immer um mich gekümmert. Seit ich denken kann, hilft er mir morgens, mich fertig für die Schule zu machen. Er kocht mir nachmittags etwas zu essen und unterstützt mich bei den Hausaufgaben. Papa ist die meiste Zeit im Ausland beschäftigt und nur selten zu Hause und Mama erledigt den Haushalt und den Einkauf neben ihrer Vollzeitanstellung im Büro. Meistens, wenn sie Zuhause ist, ist sie von den vielen Überstunden erschöpft und müde, sodass ich sie selten sehe. Sie weiß von meinen beiden Gästen, wie sie Yoongi und Jimin nennt, doch ich glaube, sie kommt mit der Tatsache, dass ihr Sohn Halluzinationen hat, nicht gut klar. Seitdem sehe ich sie noch weniger, weil sie sich umso mehr in ihre Arbeit stürzt. Doch ich habe ja Seokjin.

„Wann ist die nächste Therapie?", erkundigt sich dieser jetzt bei mir. Ich bin mir sicher, dass er meinen Terminkalender besser kennt, als ich es tue, trotzdem antworte ich ihm.

„Morgen nach der Schule."

„Sprich bitte an, dass du sie immer öfter und länger siehst, ja?"

Ich blinzle irritiert. Es ist ihm aufgefallen?

Mechanisch nicke ich, weiß aber noch nicht recht, ob ich es tatsächlich ansprechen werde. Ich mag diese Therapiestunden nicht. Es ist furchtbar für mich, wenn ein Fremder in meinem Kopf herumstochert und etwas sucht, das mit mir nicht stimmt. Es ist alles in Ordnung. Bis auf die Tatsache, dass ich zwei imaginäre Begleiter habe.

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„Wieso hast du ihn die ganze Zeit über abgelenkt?", mault Jimin und es dauert nur einen Sekundenbruchteil, da ätzt Yoongi zurück.

„Du hast es doch selbst gesehen! Der Futzi neben ihm hat die ganze Zeit so ein Schmuddelheft gelesen. Ich wollte näher ran, doch Tae hat sich einfach geweigert!"

„Durch dein Gejammer konnte er sich jedenfalls noch weniger konzentrieren!"

„Und deine Zurechtweisung hat da geholfen, ja? Als ob du nicht auch einen Blick da reinwerfen wolltest -", ereifert sich Yoongi. Ich wünschte, ich könnte mir einfach die Ohren zuhalten und ich würde sie nicht mehr hören. Aber es ist zwecklos und sperrt sie nicht aus. Sie sind in mir drin.

„Also, das ist eine ganz gemeine Unterstellung...!" Jimin plustert empört die Wangen auf und sieht demonstrativ in die andere Richtung, weg von Yoongi.

„Ach komm schon. Ich weiß, dass du dich auch für Kerle interessierst. Das Heft wäre wirklich etwas für dich gewesen!", säuselt Yoongi und mir platzt endgültig der Kragen.

„Jetzt haltet doch einfach mal die Klappe", zische ich sie an und für einen Augenblick sind sie tatsächlich still. Sie sind es nicht gewohnt, dass ich in der Öffentlichkeit mit ihnen rede, doch heute machen sie mich wahnsinnig.

Ein Junge, der an meiner Bank vorbeiläuft, sieht mich irritiert an und hält danach einen größeren Abstand als zuvor. Ganz so, als wäre das ansteckend, was ich habe. Vermutlich hält er mich aber schlicht für verrückt. Mit sich selbst zu reden, ist sicherlich alles andere als normal.

Ich ignoriere den Stich in meiner Brust, als der Junge vor mir Reißaus nimmt und genieße die Ruhe, die ich durch meine Zurechtweisung gewonnen habe. Oftmals hören die beiden auf mich, wenn ich sie so anfahre.

Es ist ein schöner Frühlingstag, die Sonne steht strahlend am Himmel und ich lege den Kopf in den Nacken und genieße die ersten wärmenden Strahlen des Jahres auf meinem Gesicht.

Jimin und Yoongi sind für den Rest des Vormittags still und es ist wunderbar.

Dafür geht es mit Schulschluss nur umso quälender weiter. Alles und jedes wird kommentiert und ich versuche ihr Gezeter in den Hintergrund zu verdrängen. Tief ein- und ausatmen. Rät mir auch gerade mein Therapeut. Viel mehr bekomme ich jedoch nicht von der Sitzung mit, weil Yoongi und Jimin heute viel Aufmerksamkeit einfordern.

Manchmal benehmen sie sich komisch. Ich glaube, sie haben etwas für einander übrig, aber natürlich würden sie es nie zugeben. Jimin räkelt sich aufreizend auf meiner Schulter, während Yoongi immer wieder vermeintlich verstohlen zu ihm sieht und hin und wieder ein Schnaufen hören lässt.

Dennoch lasse ich mich manchmal zu Kommentaren hinreißen, die ich besser für mich behalten hätte, weil es sie nur noch mehr anstachelt.

„Ihr streitet wie ein altes Ehepaar! Wie wärs: Verschwindet doch gemeinsam, Hand in Hand und lasst mich endlich in Ruhe?"

Das Pärchen, das dummerweise vor mir an der Ampel steht, sieht mich empört an und ich bemerke zu spät, dass sie meine Worte auf sich beziehen müssen. Es ist mir unangenehm und eilig sehe ich zu, dass ich über die Straße komme.

Jimins Warnung höre ich erst, als es neben mir laut quietscht. Ich werde von den Beinen gerissen, lande auf dem Rücken und schlage mit dem Kopf auf. Alles wird dunkel.

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Als ich wieder zu mir komme, sehe ich ihn.

Er muss ein Engel sein. Das ist das Erste, das mir durch den Kopf schießt, als ich ihn erblicke. Dabei hat er keinen Heiligenschein, so wie Jimin. Auch der Fluch, der seine Lippen verlässt, ist alles andere als ätherisch.

„Scheiße, du kannst doch nicht einfach auf die Straße rennen!", schimpft er, doch ich habe nur Augen für die Grübchen, die sich dabei auf seinen Wangen abzeichnen.

Ich blinzle ihn sprachlos an und auf seiner Stirn erscheinen tiefe Falten.

„Hey, ist alles in Ordnung mit dir? Du hast dir den Kopf gestoßen, oder?", fragt er, doch seine Worte erreichen mich nicht. Ich hebe stattdessen die Hand. Ich muss ihn berühren. Ich habe den unerklärlichen Drang, dieses himmlische Wesen über mir anzufassen. Vielleicht hilft es, festzustellen, dass er nicht von dieser Welt ist. Wir verfolgen beide meine Hand, die ich anhebe und die ich an seine Wange lege. Er fühlt sich weich und warm an meiner Handinnenfläche an und ich bekomme erste Zweifel daran, ob er wirklich ein Engel ist. Jimin kann ich jedenfalls nicht berühren.

„Ist alles in Ordnung?", höre ich jemanden rufen und im nächsten Augenblick wird unsere traute Zweisamkeit gestört und es schieben sich mehrere fremde Personen in mein Sichtfeld. „Ich- ich weiß nicht. Er sagt nichts."

„Hey, kannst du uns sagen, wie du heißt?"

„Tae", erwidere ich, denn es ist mir wichtig, dass der Engel das weiß. Eindringlich sehe ich ihn an und sein dunkler Blick trifft meinen.

„Tae?", höre ich die verwirrte Stimme meines Engels. „Wie Taehyung?" Er zögert einen Moment und betrachtet mich prüfend. „Bist du der kleine Bruder von Seokjin?"

Ich nicke, doch zucke daraufhin zusammen. Mir tut der Kopf weh, der Nacken, die Schulter. Wenn ich tief einatme, dann zwickt es ebenfalls in der Brust. Lieber nicht bewegen.

Doch sobald der Schmerz abebbt, klären sich meine Gedanken und langsam beginne ich, die Situation um mich herum zu verstehen.

Ich wurde angefahren.

Der Mann über mir ist gar kein Engel.

Und er kennt meinen Bruder.

Eine Sirene heult in der Ferne auf und wird lauter.

„Du kennst Seokjin?", frage ich perplex, doch der Engel wird zur Seite gezogen und neue, fremde Gesichter schieben sich in mein Blickfeld.

Es sind Rettungssanitäter, die überprüfen, ob mit mir alles in Ordnung ist.

Eigentlich fühle ich mich ganz gut. Nur Jimin, der unermüdlich plappert, geht mir auf den Geist. Yoongi ist auch da, sagt aber kein Wort. Er mustert mich allerdings mit einem besorgten Blick und nickt bei jeder Aussage oder Frage, die von Jimin kommt. Er sieht fast aus, wie einer dieser Wackeldackel, die man sich früher auf die Autoarmatur gestellt hat.

„Taetae, ist alles in Ordnung? Du siehst so blass aus. Ich glaube, das sollten sie untersuchen. Vielleicht den Kopf einmal scannen und nachsehen. Du hast eine ganz schön große Beule! Tut es sehr weh? Vielleicht sollten sie-"

„Jetzt halt die Klappe!", fauche ich Jimin an. Die Rettungssanitäter sehen zu mir hin und damit ist mein Schicksal besiegelt, das mich auf alle Fälle ins Krankenhaus bringt

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Kurze Zeit später ist Seokjin bei mir. Er muss seine Nachmittagskurse an der Universität ausfallen lassen haben, sonst könnte er jetzt nicht hier sein. So, wie er mich begrüßt, hat auch schon ein Arzt mit ihm gesprochen.

„Tae. Jetzt mal ehrlich: Wer zieht sich bei einem Zusammenstoß mit einem Fahrradfahrer drei gebrochene Rippen und eine Gehirnerschütterung zu? Wie machst du das nur immer?"

Er tut ja förmlich so, als würde ich dauernd verunfallen. Mit Absicht habe ich es schonmal gar nicht getan und mein letzter Unfall ist zwei Jahre her.

Ich sage dazu nichts, schürzte lediglich die Lippen und sehe auf meine Hände, die Schrammen und Kratzer aufweisen. Ich kann verstehen, dass er sich Sorgen macht und das tut mir leid. Ich möchte nicht, dass er sich meinetwegen sorgt.

„Sie wollen mich über Nacht hierbehalten. Zur Kontrolle", teile ich leise mit und er nickt leicht. Wenigstens haben sie mir Schmerzmittel gegeben, was Yoongi und Jimin in den Hintergrund drückt und ihnen so keine Bühne gibt. Es ist angenehm ruhig und ich nehme sie nur als leichte Ahnung im Hintergrund wahr. Vielleicht bekomme ich deswegen mit, dass eine Spannung zwischen mir und meinem Bruder herrscht, die unangenehm im Raum liegt.

„Namjoon sagt, du bist einfach auf die Straße gerannt, ohne zu gucken und er konnte nicht mehr ausweichen." Seokjins Tonfall ist gefasst, aber ich weiß, wie bewegt es in ihm drin ist. Seine Hände zittern. Doch alles, was ich höre, ist Namjoon.

Endlich habe ich einen Namen. Mein Engel heißt Namjoon.

Er hatte sich mir vorhin nicht vorgestellt. Ich war rasch ins Krankenhaus gebracht worden und seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen. Seine dunklen Augen spuken mir allerdings pausenlos im Kopf herum.

„Taetae", versucht Seokjin nun meine Aufmerksamkeit zu erlangen und greift nach meiner Hand. „Wo warst du nur mit deinen Gedanken? Und wo bist du jetzt?"

Ich bin mir sicher, dass er sich ganz genau ausmalen kann, was und wer mich abgelenkt hat. Zumindest wer es vorhin hatte. Dennoch widerstrebt es mir, es zuzugeben.

„Woher kennst du Namjoon?", frage ich stattdessen und versuche, das Thema von mir zu lenken. Seinen Namen auszusprechen fühlt sich seltsam an. Seltsam, aber wundervoll.

Seokjin bemerkt offenbar, dass ich ihn ablenken will, denn der typische, verkniffene Zug um seinen Mund erscheint. Doch er maßregelt mich vorerst nicht dafür.

„Er studiert an der gleichen Universität wie ich. Wir besuchen ein paar Kurse zusammen. Er ist sehr klug und hat in der Schule einige Klassen übersprungen."

Ich kenne seine Kommilitonen nicht. Generell redet er wenig mit mir über sein Studium. Immerhin weiß ich, dass Seokjin seit einigen Monaten ein Auge auf ein Mädchen geworfen hat, sich aber nicht traut, es anzusprechen. Vielleicht denkt er, er sei kein guter Fang. Mit einem verrückten Bruder würde ich wahrscheinlich ebenso denken.

„Du musst besser auf dich aufpassen, TaeTae", murmelt er und als ich ihn betreten ansehe, stelle ich fest, dass er stumm weint. Er greift meine Hand fester und ich drücke zur Erwiderung ebenfalls zu.

„Werde ich", verspreche ich ihm aus ganzem Herzen.

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Namjoon müsste es nicht tun, aber er besucht mich jeden Tag. Das erste Mal macht er es am Abend im Krankenhaus. Er hat sogar Blumen dabei und entschuldigt sich überschwänglich, dass er mich angefahren hat, obwohl wir beide wissen, dass es nicht seine Schuld war.

Danach besucht er mich Zuhause. Er kommt immer am Abend, wenn Seokjin keine Vorlesungen mehr hat und ebenfalls daheim ist. Manchmal kommen sie gemeinsam nach den Vorlesungen her. Ich genieße diese Zeit und freue mich auf die knappe Stunde, die er bleibt, mehr, als ich vermutlich sollte. Eine Woche bin ich seit dem Unfall Zuhause und jeden Tag freue ich mich mehr und mehr, ihn zu sehen.

Vormittags fällt mir fast die Decke auf den Kopf und ich werde hibbelig, wenn die Uhrzeit näher rückt, zu der er vorbeikommt. Doch auch, als ich wieder zur Schule muss, kommt er uns weiterhin am Abend besuchen.

Ich glaube, Seokjin hat in ihm einen guten Freund gefunden und auch Mama mag Namjoon. Sie sieht ihn nicht oft, aber am Sonntag, wenn auch sie nicht arbeiten muss, verbringen wir die Nachmittage zu viert. Und Namjoon bleibt täglich länger und länger.

Ich genieße seine Gesellschaft sehr. Er ist zwei Jahre älter als ich, doch er behandelt mich wie einen Gleichaltrigen, was nicht viele tun. Die Gespräche mit ihm sind geistreich und es wird mit ihm nie langweilig. Manchmal spielen wir Karten, gestern haben wir einen Film zusammen angesehen und manchmal essen wir gemeinsam zu Abend. Ich weiß, dass er nicht der Engel ist, für den ich ihn ursprünglich gehalten habe, sondern nur ein Normalsterblicher, aber sein Verhalten mir gegenüber ist zuvorkommend und aufmerksam und das kommt schon ganz nah an einen Engel ran, finde ich.

Das Beste an Namjoons Gesellschaft ist aber, dass Jimin und Yoongi sich verziehen und sich nicht blicken lassen, wenn er da ist.

Dafür drehen sie vormittags umso mehr auf.

Ich sitze auf meiner üblichen Bank und habe Mittagspause. Erst als Jimin mich anspricht, bemerke ich, dass ich gedankenverloren auf die Fahrräder starre, die in der Nähe stehen und geseufzt haben muss. Das eine Fahrrad sieht aus wie das von Namjoon. Lediglich die Färbung ist eine Nuance zu dunkel, damit es seins sein könnte.

„Du magst ihn, oder?", fragt Jimin und als ich überrumpelt zu ihm sehe, kann ich erkennen, wie er seine rosa Wangen in seine Hände gebettet hat. Sein kleiner Heiligenschein blitzt im Licht, als er seinen Kopf hin und her wiegt.

„Wie - du meinst, er steht auf einen Kerl? Er ist schwul?", plappert Yoongi dazwischen und ich stöhne genervt auf.

„Ist doch vollkommen egal! Liebe ist Liebe!", schwärmt Jimin weiter, was Yoongi zu einem Schnauben veranlasst.

„Er hat noch nie Jungs hinterhergesehen! Er steht auf Frauen!"

„Er ist eindeutig verliebt in Namjoon! Er wird ganz hibbelig in seiner Nähe und sein Herz spielt vollkommen verrückt, sobald er ihn sieht."

Sie lassen den ganzen Tag über nicht los von der Diskussion und als ich Zuhause bin, geht es munter weiter.

„Wann wirst du es dir selbst eingestehen?", bohrt Jimin weiter.

„Da gibt es doch nichts, was er sich eingestehen müsste. Er mag Namjoon als Freund. Ende der Geschichte."

Ich bin mir bei Yoongis Aussage nicht sicher. Immer, wenn ich an Namjoon denke, kribbelt es freudig in meinem Bauch und meine Hände werden feucht. Aber mag ich ihn mehr, als das, was über eine Freundschaft hinausgeht? Stehe ich tatsächlich auf Männer? Ich habe mir darüber nie Gedanken gemacht. Es verwirrt mich.

„Kümmert euch um euren eigenen Kram und seid endlich still!", fahre ich Yoongi und Jimin lauter an, als ich beabsichtigt habe. Ich will jetzt nicht darüber nachdenken.

Erst als die Wohnungstür ins Schloss fällt, bemerke ich, dass mein Bruder nach Hause gekommen ist.

Er sieht mich mit einem wissenden Blick an, legt seinen Kopf schief und betrachtet mich einen Augenblick lang, ehe er die Schuhe auszieht und ins Regal stellt. Dabei rückt er meine Schuhe zurecht.

„Bringen Sie dich wieder zur Weißglut? Miss Right und Miss Wrong?"

Seltsamerweise lächelt er, als er sich umdreht und zu mir zur Couch geschlendert kommt.

„Mhm", brumme ich unbestimmt als Antwort.

„Und was sagen sie?"

Ich zucke zusammen, weil ich nicht weiß, was ich darauf antworten soll. Dafür brummt Yoongi munter drauf los.

„Der immer mit seinen doofen Spitznamen!"

„Jetzt reg dich nicht so auf. So schlimm ist er nun auch nicht", versucht Jimin zu schlichten.

Noch bevor sich Yoongi weiter empört, schnalze ich mit der Zunge.

„Sie regen sich über deinen dummen Spitznamen auf."

„Sie sind weg, wenn Namjoon hier ist, oder?", erkundigt er sich und ich bin überrascht, dass er es mitbekommen hat. Aber er ist aufmerksam, ist es schon immer gewesen und vermutlich sollte ich mir mehr Sorgen machen, wenn es anders wäre.

„Ja."

„Er tut dir gut."

Diese einfache Feststellung lässt meinen Magen vor Aufregung grummeln.

„Sag ich doch! Die beiden gehören zusammen!", stimmt Jimin freudestrahlend zu und ich wackle mit der rechten Schulter, damit er verstummt. Eine Bewegung, die bei meinem Bruder ein Stirnrunzeln auslöst.

„Wie kommst du darauf?", piepse ich mit schwacher Stimme und räuspere mich.

„Du bist wieder du, wenn er hier ist. Kein verkniffener Gesichtsausdruck, keine Selbstgespräche. Du beteiligst dich an Gesprächen... Du wirkst in seiner Nähe glücklich." Seokjin zuckt mit den Schultern. „Er tut dir gut", wiederholt er daraufhin seine Aussage.

Womöglich hat er recht. Lange grüble ich über seine Aussage nach und ich glaube, es stimmt, dass mir Namjoon gut tut. Ich mag ihn, seinen Charakter und er ist mir als Person sehr wichtig.

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Es ist nicht meine Absicht, sie zu belauschen. Ich habe nur kurz das Badezimmer benutzt und als ich zurückkomme, reden Namjoon und Seokjin miteinander. Nicht in ihrer normalen Lautstärke, sondern leise, hastig und schnell. Das weckt meine Neugier und ohne darüber nachzudenken, bleibe ich an der Tür zum Wohnzimmer stehen und lausche.

„Ich weiß wirklich nicht..."

„Vertrau mir. Ich habe dir gesagt, dass du nichts befürchten musst. Er mag dich."

„Worüber reden die?", will Jimin wissen und es nervt mich, dass er so laut ist. Zwar können Seokjin und Namjoon ihn nicht hören, aber ich stehe hier und lausche und er brüllt mir förmlich ins Ohr.

„Shh", kommt es direkt von Yoongi, der ebenso neugierig ist wie wir beide.

Ich nähere mich mit sachten Schritten der angelehnten Tür, darauf bedacht, keinen Laut zu verursachen.

„Und was ist, wenn ich mich komplett zum Deppen mache?", fragt Namjoon leise. Beinahe hätte ich ihn nicht verstanden und ich spitze meine Ohren.

Ich bin normalerweise nicht der Typ, der lauscht. Aber ich will wissen, was Namjoon bewegt und ihn so sehr zum Selbstzweifeln bringt.

„Wirst du nicht."

„Aber, was wenn-"

„Nein. Vertrau mir. Es wird alles gut."

Ich höre Namjoon seufzen, danach wird es still im Raum.

„Sie reden über dich", klärt mich Jimin auf und ich denke, er hat Recht. Schwer schlucke ich, ehe ich ein paar Schritte zurück tapse und dann absichtlich laut in Richtung der Tür schlurfe, ehe ich sie aufschiebe. Sie sollen nicht mitbekommen, dass ich gelauscht habe.

Sie sehen nicht auf, als ich mich wieder auf die Couch sinken und von der Serie im Fernseher berieseln lasse.

„Ich muss noch was für die Uni machen", entschuldigt sich Seokjin nach einer Weile, steht auf und verlässt, mit einem kaum merklichen Nicken an Namjoon, das Zimmer. Es ist nicht ungewöhnlich, dass er uns alleine lässt, doch heute ist es anders. Die Stimmung ist wie elektrisch geladen und etwas liegt zwischen mir und Namjoon, das ich nicht benennen kann. Meine Gedanken schießen automatisch zu dem Gespräch von eben und ich werde nervös, wenn ich daran denke. Ging es da wirklich um mich, so wie Jimin sagte? Er irrt sich selten...

„Tae?", fragt Namjoon, kaum dass mein Bruder den Raum verlassen hat. Ein Schauer fährt mir den Rücken hinab, als er meinen Namen ausspricht. Ich mag es, wie er aus seinem Mund klingt und wenn er meinen Spitznamen benutzt.

„Ja?"

„Ich...", fängt er an, räuspert sich und atmet tief durch. „Ach verdammt!", stößt er aus, fährt sich mit den Händen durch die Haare, ehe er nach meiner Hand greift. Es ist selten, dass er flucht, doch, was mich viel mehr durcheinander bringt, ist, dass er meine Hand hält.

„Tae, ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll, ohne dass du gleich durchdrehst." Er lacht kurz auf. Ein verzweifeltes Lachen.

Ich versinke derweil in seinen braunen Augen. Mein Herz wummert in meiner Brust und ich bin mir sicher, dass er merkt, wie schweißnass meine Hand ist. Doch ich will nicht, dass er loslässt.

„Ja?", hauche ich und bekomme im Augenblick keinen anständigen Satz heraus. Namjoon kommt näher, ich kann seinen Atem auf meinen Lippen spüren. Die Hand, die er noch frei hat, schiebt sich in meinen Nacken, meine Stirn berührt seine. Es ist eine stille Frage, die er mir stellt und ich bin so aufgeregt, wie noch nie in meinem Leben. Doch ich bin mutig, ergreife die Initiative und so bin ich letztlich derjenige, der die letzten Zentimeter zwischen uns überbrückt und ihn küsst.

Viel zu früh lösen wir uns voneinander und sehen uns in die Augen. Ich grinse breit, empfinde ein Glücksgefühl wie noch nie zuvor in meinem Leben und ich weiß, dass ich endlich den richtigen Platz für mich gefunden habe.

𓆩ꨄ︎𓆪

Wenn ich mit Namjoon zusammen bin, dann bin ich normal. Kein Engel oder Teufel sitzt dann auf meiner Schulter und bringt mich um den Verstand. Generell sind ihre Besuche seltener geworden. Es braucht einige Zeit, bis ich Namjoon von Jimin und Yoongi erzähle. Er lacht mich nicht aus, stellt nüchtern fest, dass die Lösung des Problems doch recht einfach ist. Ich muss einfach bei ihm bleiben und die beiden lassen mich in Ruhe.

Genauso mache ich es. Namjoon ist meine lang gesuchte Medizin und an seiner Seite bin ich glücklich und fühle mich normal.


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