4. Türchen - MaybeAnotherWraith
Gegen die Uhr
Man sollte eben nie auf Geschenkewichtel hören. Die hatten einfach keine Ahnung!
Namjoon beglückwünschte sich zu seiner Entscheidung für die gute alte Rentierwollunterhose. Diese neumodischen Funktionsstoffe hätten ihn hier oben schon halb erfrieren lassen, da war er sicher. Sollten die Wichtel sich doch auf den Kopf stellen und ihre „hervorragenden Internetbewertungen" rückwärts rezitieren, ihn kümmerte das nicht. Er legte den Kopf in den Nacken und bewunderte die Nacht - der Himmel war weit und sternengesprenkelt und das Licht des halben Mondes überzog die ganze Szenerie mit flüssigem Silber.
Aber er machte sich keine Illusionen - so idyllisch würde es nicht mehr lange bleiben. Sobald sie abstiegen und die dichten Wolken passierten, die selbst von oben unruhig und aufgewühlt wirkten, würde es ungemütlich werden. Und darunter erwartete sie wahrscheinlich ein wunderbar romantisches Schneegestöber - wenn da nicht Weihnachtsstimmung aufkam! Besonders rund 6000 Fuß über dem Meeresspiegel.
Doch sie hatten keine Wahl. Irgendwo unter ihnen lag die Stadt, also mussten sie runtergehen.
Der Weihnachtsmann fasste die Leinen fester und richtete den Blick auf die sechs Rentiere vor ihm. Sie bewegten sich in perfektem Einklang und er nahm sich einen Moment, um das regelmäßige Auf und Ab ihrer Hinterläufe zu beobachten, das geschmeidige Muskelspiel unter dem dicken Winterfell zu bewundern.
Dann griff er nach dem Schnurtelefon, das neben dem Fahrersitz fixiert war, sodass er es immer erreichen konnte. Dabei handelte es sich um eine recht neue Innovation und er war ziemlich stolz auf den Einfall gewesen. Es erleichterte die Kommunikation mit den Rentieren erheblich, schonte seine Stimmbänder und seine Kommentare kamen selbst bei starkem Wind da an, wo sie sollten (und das, ohne dass „Sinkflug über Backbord" wie „scharf rechts mit Looping" klang, was er den Fliegern bis heute nicht so recht abkaufte).
„Jimin, Taehyung, ist alles in Ordnung da vorne?"
Zurück kam ein fröhliches „Aber sicher, Santa!"
„Sehr gut. Jimin, Position bitte."
„Jupiter ist noch nicht untergegangen und wir bewegen uns auf den Leonis Minoris im Osten zu, den hellsten Stern des Kleinen Löwen. Dürften so 41 Grad nördlicher Breite und 122 Grad westlicher Länge sein."
„Ausgezeichnet. Seokjin, kannst du den Korridor schon spüren?"
Das rechte Stangenren, eines der Rentiere unmittelbar vor dem Schlitten, antwortete zögerlich: „Nein, Santa. Da ist noch gar nichts."
„In Ordnung, wir sind wohl noch etwas zu weit entfernt. Wir gehen gleich in den Sinkflug, mit maximal 15 Prozent! Eine Meile in der Höhe auf acht oder neun Meilen reicht. Wir haben genug Zeit und gleich auch schlechte Sicht. Kurs und Geschwindigkeit halten. Taehyung, auf geht's."
Namjoon entspannte sich etwas. Was war das Schnurtelefon doch praktisch!
Er zog die Seitenleinen noch einmal an, die die Rentiere außen begrenzten und sie so dabei unterstützten, sich im dreidimensionalen Luftraum zu orientieren und beim Fliegen gerade zu bleiben. Dann lauschte er Taehyungs routinierten Anweisungen. Er wusste, dass dieser mit seinem Gespannpartner permanent in Kontakt stand, auch wenn er es nicht sehen konnte. Jimin würde ihm allein durch Ohrenzucken und bedeutungsvolle Blicke fortwährend winzige Kurskorrekturen signalisieren, die Taehyung weiterleitete, während er den Schlittenzug in einen sachten Sinkflug brachte.
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Beim Durchtritt der Wolkendecke hatte es keine Komplikationen gegeben. Nicht, dass Namjoon welche erwartet hätte, aber man wusste ja nie. Turbulenzen oder Fallwinde ließen sich einfach nicht voraussehen, es waren Unwägbarkeiten, mit denen man bei jedem Flug rechnen musste. Ihn irritierte etwas ganz anderes.
Und da schien er nicht der Einzige zu sein, denn über den Metallknopf in seinem Ohr, eine Erweiterung des Schnurtelefons, vernahm er die Stimme von Jeongguk, dem Maknae-Ren der Truppe.
„Santa? Wo ist denn San Francisco? "
Das war eine gute Frage. San Francisco war eine Metropole mit fast einer Million Einwohnern in der Stadt selbst und vier oder fünf Millionen im näheren Umland. Kein verdammtes Dorf! Sie waren inzwischen so tief, dass sie die Stadt sehen müssten, trotz des Schneefalls. Die hell erleuchtete Golden Gate Bridge, Schemen von den unzähligen Wolkenkratzern, ein weihnachtliches Lichtermeer. Irgendetwas.
Man sah nichts.
Da war nämlich nichts.
Namjoon zögerte. Was sollte er antworten? Die Stadt konnte sich nicht einfach in Luft aufgelöst haben und vom Erdboden war sie sicherlich auch nicht verschluckt worden.
Von Jimin ließ er sich noch einmal ihre Position durchgeben. Sie passte. Er gab Anweisung, weiter abzusteigen und nach einem möglichen Landeplatz Ausschau zu halten, was sich als erfreulich unkompliziert herausstellte - keine fünf Minuten später kamen sie an einem flachen Hang zum Stehen, der zu einem zugefrorenen See hinabfiel. Der Weihnachtsmann hoffte inbrünstig, dass es sich nur um ein kleines Missverständnis handelte und San Francisco gleich hinter dem nächsten Hügel lag. In weniger als zwei Stunden mussten sie dort sein. Er schlang die Leinen ein paar Mal lose um die dafür vorgesehene Halterung und stieg - etwas steif nach dem langen Flug - die Stufen am Schlitten hinunter.
Mit eiligen Schritten bewegte Namjoon sich am Zug entlang nach vorne. Zuallererst musste er mit dem Navigationsren sprechen, das ihm schon unsicher über die Schulter entgegensah. Er hatte die dunkle Ahnung, dass seine Hoffnung sich nicht erfüllen würde.
„Jimin, was ist hier los?", fragte er eindringlich. „Wo ist San Francisco? Wo ist unser Tor zum Korridor?"
Das Rentier sprach schnell, es war merklich verwirrt. „Ich- Ich weiß es nicht, Santa! Wir müssen uns verflogen haben, aber das kann nicht sein. Ich denke schon die ganze Zeit darüber nach, aber ... kann ich mal die Karten haben?"
Namjoon nickte knapp und zog die gewünschten Papiere aus der Innentasche seines langen roten Mantels. Sie besaßen eine wasserabweisende Beschichtung, sodass er sie nun vor Jimin im Schnee ausbreiten konnte. Außerdem waren sie besonders groß und mit lumineszierenden Farben bedruckt - sie waren selbst bei Dunkelheit lesbar. Der Weihnachtsmann betete, dass Jimin schnell eine Lösung finden würde, denn wenn sie sich wirklich verirrt hatten, dann saß ihnen die Zeit nun doch im Nacken. Obwohl das kaum zu glauben war - Jimin verflog sich nicht, er verlor nicht die Orientierung, er verirrte sich nicht, nicht er. Die Vorstellung war absurd.
Als nächstes waren Yoongi und Seokjin dran, wobei letzterer nicht wartete, bis der Weihnachtsmann bei ihnen angelangt war. „Der Ort ist falsch", platzte Seokjin heraus. „Wir müssen irgendwo einen Fehler gemacht haben. Wir sind nicht mal in der Nähe des Tunnels!"
Namjoon wollte ihn anblaffen, dass das ja wohl offensichtlich sei und ihn tadeln, weil er nicht früher Bescheid gesagt hatte. Aber das wäre nicht fair. Er wusste, dass es nicht fair wäre. Er war der Weihnachtsmann. Es war seine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass alles glattlief, dass Weihnachten glattlief. Er musste jetzt einen kühlen Kopf bewahren.
Natürlich wusste er auch, was für ein unfassbares Glück es war, dass er Seokjin zu seiner Mannschaft zählen konnte. Er war so sensibel, dass er die weihnachtsmagischen Schwingungen sehen und die Raum-Zeit-Verschiebung hören konnte, die von dem Korridor verursacht wurden - vielleicht lösten auch sie den Korridor aus, so genau wussten sie das nicht. Tatsächlich wussten sie so einiges nicht, was Weihnachten anging. Fakt war jedoch, dass jedes Jahr in der Heiligen Nacht eine Art geschlossener zeitentrückter Raum entstand - ein bisschen wie ein Vakuum, nur mit Luft drin -, in dem die Zeit langsamer ablief. Sie dehnte sich so stark aus, dass der Weihnachtsmann und seine Rentiere in einer Nacht ausreichend Zeit hatten, fast eine Million Knotenpunkte und damit acht Milliarden Menschen zu erreichen - solange sie sich im Tunnel bewegten. Um die Grenzen dieses Tunnels nicht zu tangieren und auch um den Eingang zu treffen, waren die meisten Weihnachtsmänner auf Sensoren angewiesen, die an den Seiten des Schlittenzuges angebracht wurden. Auf magisch-technische Sensoren, die fehleranfällig und schwierig zu interpretieren waren, nicht lebendige, wie sein dienstältestes Rentier faszinierenderweise einer war. Seokjin hatte einmal versucht, Namjoon zu erklären, dass die Grenzen nicht im Raum lagen, nicht backbord oder steuerbord oder unten, sondern dass sie irgendwie mit dem Ende von Minuten und ihrer Fluggeschwindigkeit und Atmen zusammenhingen. Ob lebendig oder magisch-technisch - Namjoon war ziemlich froh, dass er kein Sensor war.
Deshalb antwortete er, so ruhig er konnte: „Das habe ich befürchtet. Aber wir haben 106 Minuten, bevor sich der Zugang zum Korridor schließt, das bekommen wir schon hin."
Dann wurden sie still, denn der Weihnachtsmann hatte keine Ahnung, wie er weiter vorgehen sollte.
„Wissen wir, wie weit wir von San Francisco entfernt sind?", schaltete sich Seokjins Gespannpartner Yoongi ein und unterbrach die angespannte Stille.
„Noch nicht." Namjoon schüttelte den Kopf. „Jimin arbeitet gerade daran. Ich will ihn dabei nicht stören, ihr wisst doch, wie nervös er wird, wenn er sich beobachtet fühlt. Bist du dir denn sicher, dass wir das richtige Ziel haben? Ich meine, dass es San Francisco ... also, deine Vorhersage- "
„Absolut. Es war genauso wie letztes Jahr mit Seoul und davor Sofia und davor Glasgow. Ein erster Traum in der Nacht auf den 13. Oktober, genau drei Mal vierundzwanzig Tage vor Weihnachten, weitere in den drei folgenden Nächten. Und es besteht kein Zweifel, dass San Francisco gemeint war. Nicht so wie mit Sofia, da sah es ja anfangs so aus, als wäre das Tor in diesem Jahr in Russland ... Sankt Petersburg war das, glaube ich."
Sie verfielen wieder in Schweigen und die Zeit raste, während sie auf Jimins rettenden Einfall warteten - inzwischen blieben ihnen 102 Minten und sie waren noch keinen Schritt weitergekommen.
Dann - Namjoon zog gerade an dem losen Faden, der eigentlich den weißen Samt am Mantelärmel an Ort und Stelle halten sollte, da er seit einigen Wochen versuchte, sich das Fingernagelkauen abzugewöhnen - kam endlich das erlösende „Ich hab's!".
Namjoon konnte sich nicht erinnern, wann er sich zuletzt so schnell bewegt hatte. Dabei streifte sein Blick Hoseok, der unangemessen heiter wirkte, wenn man den Ernst der Situation bedachte. Es war ja schön, wenn er für Stimmung sorgte und Jungkook zum Lachen brachte - der Kleine war immer viel zu ernst - aber jetzt gerade hatten sie keine Zeit für seine Späße. Doch im nächsten Moment erreichte er die beiden Vordertiere und vergaß Hoseok wieder. Jimin scharrte ungeduldig im Schnee und seine Stimme überschlug sich beim Sprechen beinahe.
„Wir sind von den falschen Koordinaten ausgegangen! Ich verstehe gar nicht, wieso wir immer noch mit denen arbeiten müssen, wenn ich doch ohnehin anhand der Sterne navigiere. Schau mal, Santa, wir sind hier." Mithilfe eines Zeigestockes deutete das Ren vage auf einen Punkt auf einer der Karten, der von ziemlich viel Grün umgeben war. „Dieser Wald heißt Mendocino National Forest und das dort hinten", ein knappes Nicken Richtung See, „müsste der Howard Lake sein. Wenn man hier am Ufer entlangläuft, kommt-"
„Jimin, stopp. Was bedeutet das? Wie weit ist es bis San Francisco?"
„Oh, tut mir leid", sagte er und legte vor Verlegenheit die Ohren an. „Der Campingplatz ist gerade nicht so wichtig, was? Es ist gar nicht so weit, Luftlinie sind es ungefähr 80 Seemeilen, wir müssen aber ein kleines Sperrgebiet umfliegen."
Der Weihnachtsmann warf einen Blick auf seine Taschenuhr. In der Nacht des ersten Adventssonntags hatten mehr als 600 Stunden darauf gestanden - jetzt waren es noch 96 Minuten und 38 Sekunden. Das konnten sie schaffen.
„Taehyung", sprach Namjoon nun den Formationsführer an, der gerade beruhigend über Jimins Hals schnoberte, sein Blick voller Stolz und Zuneigung. Manchmal verstand Namjoon nicht, wie die Rentiere tickten, eigentlich war doch Jimin der Ältere? „Wie waren die Flugbedingungen unterhalb der Wolken?"
Das Rentier verstand sofort, worauf die Frage abzielte. Über die Wolken aufzusteigen, kostete Kraft und Zeit, aber waren sie einmal dort angelangt, flog es sich bedeutend angenehmer und schneller. Es gab besonders breite, starke Luftströmungen, die sich zu dem Durcheinander aus Mini-Wirbelwinden und plötzlichen Windrichtungswechseln weiter unten verhielten wie künstlich angelegte Kanäle zu wilden Gebirgsbächen oder Stromschnellen. Dort oben lag die Autobahn sämtlicher Adler und Weihnachtsmänner mit fliegenden Rentieren vor Schlitten.
Taehyung empfahl, über die Wolken aufzusteigen und Namjoon vertraute seiner Einschätzung. Er mochte der jüngste Formationsanführer seit Beginn der Aufzeichnungen sein und Namjoon schloss nicht aus, dass sein Großonkel Seojoon - der letzte Weihnachtsmann und von ausgesprochen konservativem Charakter - sich ob dieser Beförderung im Grab herumgedreht hatte, aber was hätte er denn tun sollen? Taehyung hatte seine Ausbildung in Rekordzeit abgeschlossen - nur ein Jahr, bevor Jeongguk mit seiner begonnen hatte - und in allen Prüfungsfächern brilliert. Besonders fiel immer wieder sein beeindruckendes Körpergefühl auf, das er manchmal auf den Schlitten und die anderen Zugtiere zu übertragen schien, als wären es Erweiterungen seines eigenen Körpers. Er harmonierte nicht nur mit Jimin perfekt, sondern händelte die ganze Truppe souverän. Seokjin hatte seine Position an der Spitze gern abgegeben und den neuen Formationsführer als Hyung von Anfang unterstützt, wenn die Anderen doch mal über die Stränge schlugen.
Also nickte der Weihnachtsmann die Einschätzung ab und wollte zum Schlitten zurückkehren. Fast glaubte er, hören zu können, wie die Zeit ablief, Sekunde für Sekunde unaufhaltsam verstrich. Der Gedanke, dass sie das Tor nicht rechtzeitig erreichen könnten, war unerträglich.
In diesem Moment fiel ihm etwas auf. Er schnupperte. Wenn er sich nicht sehr täuschte, dann ...
„Hoseok", sagte er mit einem warnenden Unterton und drehte sich in dessen Richtung. „Haben die Wichtel dir wieder Flechten in Salbeilikör besorgt?" Er würde sie umbringen. Ganz langsam. Und er würde es genießen. Erst wollten sie ihm Funktionsunterwäsche andrehen - zweifelsohne ein Akt versuchter fahrlässiger Tötung - und dann füllten sie seine Flieger ab, obwohl er ihnen schon zigmal gesagt hatte, dass Hoseok vor Weihnachten nichts zu trinken bekam, das stärker war als Honigmilch! Das Zeug war dermaßen hochprozentig, Santa hätte nach einem halben Maß sicher keine Geschenke mehr verteilen können.
„Ach ... Joonie, komm schon, ich habe ihnen beim Sortieren geholfen, da wollten sie sich natürlich bei mir bedanken. Es war auch höchstens ein Maß-"
„Schluss, ich will es gar nicht hören. Und komm mir bloß nicht mit ‚Joonie'! Kannst du fliegen?"
Er konnte ihn jetzt nicht ausspannen, verdammt nochmal! Das würde eine Änderung der gesamten Formation erfordern. Hoseok war unbestreitbar der Beste, wenn es darum ging, jungen Rentieren Sicherheit beim Fliegen zu vermitteln, aber wenn er ausfiel, wäre es unvermeidbar, Jin oder Yoongi neben Jeongguk einzugliedern. Auch wenn der Kleine sich im letzten Jahr fantastisch entwickelt hatte, er würde ihn ganz sicher nicht allein fliegen lassen. Zumal Jimin die Position als einzelnes Vordertier einnehmen müsste. Der Navigator musste nun mal vorne fliegen und ein Loch in der Formation durfte natürlich nicht entstehen. Das hieß, er müsste Taehyung von ihm trennen und Jimin würde sich nicht mehr aufs Navigieren konzentrieren können, weil er allein den Zug anführte. Es war zum Haare raufen. Er war so sicher gewesen, dass dieses Weihnachten nichts schief-
„Natürlich kann ich fliegen. Mach dir doch nicht immer so einen Kopf", unterbrach Hoseok Namjoons Gedankenkreisel. Dabei blinzelte er ihn aus treuherzigen dunkelbraunen Augen unter langen Wimpern hervor an. Namjoon lachte auf. Womit hatte er eigentlich so freche Kollegen verdient?
Er seufzte. Normalerweise war Hoseok absolut verantwortungsbewusst, aber es ging hier schließlich nicht um eine x-beliebige Transfer oder irgendeinen Passagierflug. Es ging um den Höhepunkt, den Anfang und das Ende des Jahres. Es ging um den Sinn und Zweck jeden einzelnen verdammten Trainings. Es ging um Weihnachten.
Namjoon trat an die Schulter des Rens und hängte ihm einen Arm über den Rücken. Immerhin schwankte es nicht. „Bist du dir sicher? Du weißt, wir haben das alles geübt, jede mögliche Paarung, wir haben so oft die Positionen getauscht. Zur Not schaffen wir es zu fünft. Der Kleine fliegt auch nicht zum ersten Mal mit und-"
„Santa, wie war das noch gleich mit Zeitdruck? Wie lange haben wir noch, zwei Stunden? Schwing dich auf deinen Schlitten und lass uns loslegen. Ich fliege!"
Der Flieger schnaubte zufrieden, als er Namjoons Nicken sah und ignorierte geflissentlich den gequälten Ausdruck auf seinem Gesicht. Der Weihnachtsmann warf einen Blick zu Jeongguk hinüber, der das Gespräch mit großen Augen verfolgt hatte und bat ihn, auf seinen Partner Acht zu geben. Er sollte ihm Bescheid sagen, falls Hoseok in Schwierigkeiten geriet. Er bekam ein ernsthaftes Versprechen und nach einem kurzen Einwurf von hinten („Wenn er einschläft, beiße ich ihm in den Schwanz." - „Danke, Seokjin.") lief Namjoon zum Schlitten zurück.
Schneller. Er konnte an fast nichts anderes mehr denken. Nun zählte jede Minute.
Die beiden Stufen rauf, auf die Bank setzen. Aufpassen, dass sich der Mantel nicht an der Armstütze verfing - danach bekam er ihn meistens kaum wieder los. Kurzerhand beschloss er, dass er, wenn er nach dieser Nacht nicht seine Stelle verlor, weil sie zu spät zu Weihnachten gekommen waren, eine Petition für praktische Arbeitskleidung bei Weihnachtsmännern einreichen würde. Sein Job war hart, da war das doch wohl nicht zu viel verlangt, oder? Wenn jetzt auch das Stützbrett für die Füße nicht abbrach, waren sie in zwei Minuten in der Luft. Aber das würde sicher nicht geschehen - es wäre das dritte Mal in diesem Monat und würde damit jedem Namjoon bekannten Wahrscheinlichkeitsgesetz widersprechen.
Geschafft! Der Weihnachtsmann nahm die Leinen auf, drehte sich zum Schnurtelefon und löste es aus seiner Halterung. Im nächsten Moment zuckte er vor einem ekelhaften Zischlaut zurück, als die Schnur sich aus der Dose löste und, sich wie eine Schlange windend, in der Dunkelheit verschwand. Namjoon fluchte leise. Die Schnur hätte überhaupt nicht so heftig unter Spannung stehen dürfen! Eine kurze Inspektion der Dose ergab, dass sich mit der Schnur deren gesamter Boden verabschiedet hatte. Wunderbar.
Dann musste es eben ohne gehen. Der Weihnachtsmann räusperte sich. „Alle Mann herhören! Mein Schnurtelefon ist leider gerade kaputtgegangen", würdevoll überging er die vielsagenden Blicke und das aufkommende Gekicher, auch dafür war gerade keine Zeit, „sodass wir fürs Erste ohne auskommen müssen. Wir haben exakt 92 Minuten, um San Francisco zu erreichen und in den Korridor einzutreten. Wir steigen über die Wolken, nicht zu steil, vielleicht über zehn Meilen. Ich habe keine Ahnung, wie weit wir von der nächsten Klippe entfernt sind, also müssen wir steilstarten. Diesen Hügel hier könnt ihr natürlich nutzen, um ein wenig Anlauf zu nehmen, aber seht zu, dass wir in die Luft kommen."
Mehr war nicht zu sagen - jetzt galt es. Die Rentiere legten sich ins Geschirr, wendeten in einem engen Bogen und zogen, sobald sie aus der Kurve heraus waren, die Geschwindigkeit an. Steilstarts waren kraftraubend, aber möglichst viel Schwung bedeutete eine höhere Anfangsenergie - vergleichbar mit Sprintern, deren ersten Schritte aus dem Startblock heraus besonders kurz und schnell sind, als müssten sie sich aufladen. Der Weihnachtsmann achtete genau auf die Anweisungen des Formationsführers, denn er musste im richtigen Moment die Leinen verkürzen und kurz auf die Bremse treten, damit der Schlitten nicht in Seokjin und Yoongi hineinglitt, wenn sie abbremsten. Das Signal kam, die Rentiere machten mit den Vorderbeinen zwei, drei besonders kurze, kraftvolle Schritte und verlagerten damit ihren Körperschwerpunkt über die Hinterbeine. Ihre größten Sprungkräfte lagen hinten, sodass es logisch war, die Hinterbeine zu nutzen, um sich in die Luft zu katapultieren. Dabei mussten zwei Rentiere immer einen Sekundenbruchteil vor dem Rentierpaar hinter ihnen den Erdboden verlassen; die Stangenrentiere waren die letzten und zogen den Schlitten mit sich in die Luft. Das Manöver gelang nahezu perfekt - es war hundertfach, es war tausendfach durchexerziert worden.
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Trainiert wurde sechs Tage die Woche das ganze Jahr über. Morgens begannen sie mit zwei Stunden Laufen oder Krafttraining, immer abwechselnd. Anschließend widmeten sie sich den kognitiven und wissenschaftlichen Fächern. Physik, Weihnachtsmagie, Flugtheorie. Geografie und Navigation. Meteorologie. Luftverkehrsrecht. Alternativ auch mal Merktraining, Rätselgeschichten und Philosophie - alles, was das Hirn ans Arbeiten brachte und den Geist wachhielt. Es war schlicht unabdinglich, dass Rentiere und Weihnachtsmann in jeglicher Hinsicht in absoluter Höchstform waren. Nachmittags ging es endlich in die Luft - es sei denn, es war ein Nacht- oder Schlechtwetterflug angesetzt, dann wurde der Nachmittag eher zum Ausruhen genutzt. Sie feilten an den Starts und Landungen, weiten und engeren Wendungen, Notstopps, Sprints. Sie übten, einen - hypothetisch - verletzten Flieger in der Formation auszugleichen oder einen - ebenso hypothetisch - bewusstlosen Weihnachtsmann und Slalomparcours auf Zeit. Immer mit dem Ziel, noch besser zusammenzuarbeiten. Noch synchroner zu fliegen. Denn das sparte Energie. Und Energie war wertvoll, in der Weihnachtsnacht würden sie jedes Quäntchen davon brauchen. Dazu kamen Einsatzflüge mit Passagieren oder Post. Letztere waren insofern nützlich, als dass sie Ernst waren - nicht der Ernstfall, doch sie bereiteten auf eben jenen vor.
Aber natürlich konnte niemand sich lebenslang an seinem körperlichen Limit bewegen, deshalb wurde das Trainingspensum nach Weihnachten langsam gesenkt. Im Frühjahr war Pause, in der sie sich vermehrt mit Theorie und den technischen Feinheiten beim Fliegen beschäftigten. Das Auftraining und damit die Weihnachtsvorbereitung begannen wieder Ende Mai.
Der Weihnachtsflug verlangte viel von allen Beteiligten, von Mensch und Tier, körperlich wie geistig. Zehntausende von Seemeilen waren in einer Nacht zu bewältigen. Die Strecke war von gewaltigen Temperaturunterschieden geprägt - während Weihnachten in Australien in den Hochsommer fiel, flogen sie in den Polarkreisen bei Minusgraden im zweistelligen Bereich.
Aber er gab auch viel. Niemals war das Fliegen so leicht, so anstrengungslos wie im Tunnel, was Namjoon natürlich nie am eigenen Leib zu spüren bekommen hatte, doch die Erzählungen der Rentiere, die Weihnachten mitgeflogen waren, waren faszinierend. Andernfalls wäre die lange Flugzeit wohl ein Ding der Unmöglichkeit. Schon jetzt wurden sie von den Ausläufern der Weihnachtsmagie gestärkt, geschützt - unter normalen Umständen wäre ihm jetzt viel kälter, so lange wie sie bereits unterwegs waren. Und für die vor ihnen liegende Strecke bis San Francisco würden sie sonst mindestens drei oder vier Stunden brauchen, doch dieser Nacht haftete ein Zauber an, der sie wärmte und ihnen Flügel verlieh, noch mehr als sonst.
Ja, der Weihnachtsflug war immer wieder ein einzigartiges Erlebnis, das Namjoon um nichts in der Welt missen wollte. Und nicht zuletzt waren da die Rentiere, seine Rentiere. Sein Blick ruhte auf ihnen, als sie sich durch den stetig zunehmenden Wind kämpften, als sie auf etwa 2200 Fuß einmal von Turbulenzen durchgeschüttelt wurden, als sie die Wolkendecke durchbrachen. Sie gaben alles füreinander, sie gaben alles für ihn.
Sie waren ohne Zweifel die beste Truppe, mit der je ein Weihnachtsmann hatte fliegen dürfen.
Da waren seine Senioroffiziere Yoongi, Hoseok und Seokjin, die noch von Namjoons Großvater ausgebildet worden waren. Wenn Jeongguk so weit war, überlegte Namjoon, in einem Jahr vielleicht, würde er endlich Yoongi und Hoseok zusammen fliegen lassen. Das hatte er schon seit Jahren vor, bis jetzt war bloß immer etwas dazwischengekommen. Da war eine Verbindung zwischen den beiden, ein Verständnis, wie er es bis dato nur ein einziges Mal in vergleichbarer Weise erlebt hatte - bei Jimin und Taehyung.
Namjoons Blick ruhte immer noch auf den Rentieren, als die ersten Ausläufer San Franciscos unter ihnen erkennbar wurden. Auf der Uhr standen drei Minuten und 48 Sekunden.
Über den Knopf im Ohr hörte er Seokjins Anweisungen mit - immer wieder korrigierte er den Kurs, besserte die Flugrichtung nach, um sie möglichst perfekt auf den Eingang zum Tunnel auszurichten. Der Weihnachtsmann verzichtete darauf, sich dort einzumischen. Die Rentiere wussten ganz genau, was sie zu tun hatten und außerdem hatte er keine Lust zu brüllen - wenn sie erst im Tunnel und am ersten Knotenpunkt waren, konnte er an die Kiste mit den Ersatzteilen gehen und ein neues Schnurtelefon installieren.
Der Tunnel. Sie würden es rechtzeitig schaffen. Sie waren schon fast da.
In diesem Moment begann Hoseok zu singen. Namjoon kannte das Lied in und auswendig und war wenig überrascht, als erst Jeongguk, dann Yoongi und Seokjin und schließlich auch Jimin und Taehyung miteinstimmten.
Es war Lord Nelsons „A Party For Santa Claus". Seit Taehyung vor zwei Jahren kurz nach Neujahr damit angekommen war - Namjoon fragte sich wirklich, wo er immer diese Lieder ausgrub, von denen kein Mensch je zuvor gehört hatte - sangen die Rentiere es zu jeder sich bietenden Gelegenheit.
Namjoon lächelte bei dem Gedanken an die gemeinsame Weihnachtsfeier im letzten Jahr. Eine Situation war ihm besonders lebhaft in Erinnerung geblieben.
„Weißt du, Santa", hatte Yoongi begonnen, „wir unterstützen die Botschaft, die dieses Lied vermittelt."
„Der Songwriter hat zwar keine Ahnung von dir-"
„Genau, als ob du durch Schornsteine einsteigen würdest ..."
„Yah, Tae, Einbrecher steigen ein! Wenn schon, würde er das Haus durch den Schornstein betreten."
„Das ist doch egal, Hyung, auf jeden Fall hat er Recht - ich meine, die Vorstellung ist ja wohl zu komisch. Durch den Schornstein!" Am Ende seiner Verteidigung hatte sich Hoseok das Lachen nicht mehr verkneifen können.
„Wie auch immer", das war wieder Yoongi gewesen, „was ich eigentlich sagen wollte, ist Folgendes. Wir alle finden, du verdienst so viel mehr für das, was du leistest. Mehr Beachtung, mehr Respekt, mehr Aufmerksamkeit, überhaupt viel mehr."
Seokjin hatte nachdrücklich genickt und ergänzt: „Du bist immer für uns da, egal ob deine Hütte gerade eingeschneit wurde oder es halb vier morgens ist."
„Du warst nicht mal böse, als ich den Postsack zuhause liegen gelassen habe, obwohl es uns erst nach der Ankunft in Kapstadt aufgefallen ist. Zumindest nicht sehr ..."
„Vielen Dank für alles, Santa Hyung", hatte Jeongguk gesagt und ihn aus diesen riesigen Augen ehrfürchtig angeblickt. Da hatte Namjoon die Tränen nicht mehr zurückhalten können.
Seine Rentiere waren unverbesserlich. Troublemaker und Crackheads alle miteinander - seine Mannschaft eben, seine Freunde, seine Familie. Sie waren unersetzlich. Schon heute graute ihm vor dem Tag, an dem das erste von ihnen in den Ruhestand gehen würde - doch bis dahin blieben ihnen hoffentlich noch viele Jahre. Namjoon beabsichtigte, jedes einzelne davon glücklich zu sein.
Der Weihnachtsmann erkannte den exakten Moment, in dem sie in den Korridor eintraten. Das Tor roch in diesem Jahr nach Zimtsternen.
Nach Zimtsternen und nach Rentier, denn offenbar hatte der Tunnel endlich begriffen, wer die wahren Helden dieser Nacht waren.
Jetzt würde doch noch Weihnachten werden und nicht einmal die Geschenkewichtel hatten es verhindern können.
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In unserem nächsten Türchen erwartet euch:
~ Wenn die Tage kürzer und dunkler werden, umgib dich mit Menschen, die sich nach Sonnenschein anfühlen. ~
(Lovibia)
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