16. Türchen - 5tar127
Boy with a star
contains: overthinking, depression
Es ist faszinierend, wie viele Menschen uns tagtäglich begegnen, ohne dass wir ihnen überhaupt Beachtung schenken.
Jedes Mal, wenn ich meine kleine Wohnung verlasse, um ein paar Lebensmittel einzukaufen, treffe ich auf zahllose weitere Leben, die meines berühren, ohne einen wirklichen Einfluss zu hinterlassen. Oder vielleicht tun sie es sogar und ich merke es nur nicht? Vielleicht hinterlasse ich etwas im Leben einer anderen Person, ohne dass ich es je erfahren werde.
Das junge Mädchen hinter der Kasse, die bald Feierabend macht. Vielleicht war ich der letzte Kunde, der ihr ein Lächeln geschenkt hat und ihrem Arbeitstag so ein schönes Ende gegeben hat.
Die alte Dame, der ich mit ihren Taschen geholfen habe. Vielleicht habe ich dafür gesorgt, dass sie heute sicher nach Hause gekommen ist.
Jede einzelne noch so kleine Handlung kann einen so großen Einfluss haben, aber wir werden es nie wahrnehmen, weil wir die alternative Realität nicht kennen. Diese parallele Version unserer Welt, die Realität wäre, wenn wir anders gehandelt hätten.
Mit jeder einzelnen Bewegung, jedem einzelnen Wort, jedem einzelnen Gedanken formen wir unsere Realität.
Einfache Entscheidungen wie die Klamottenwahl am Morgen oder die Uhrzeit, zu der ich meine Wohnung verlasse. Vielleicht spricht mich jemand an, wenn ich meine Lieblingsjacke anziehe. Vielleicht lerne ich jemanden kennen, wenn ich einen Zug früher fahre. Wenn ich einen Waggon weiter vorne einsteige. Oder weiter hinten. Oder wenn ich meinen Zug verpasse und laufen muss. Einen Menschen, der vielleicht irgendwann einer der wichtigsten Personen in meinem Leben sein könnte.
Vielleicht rette ich ein Leben. Oder ich sorge dafür, dass ein Leben endet.
Jeden Tag kann ein Wunder passieren.
Jeden Tag kann eine Katastrophe passieren.
Und das alleine ist eine einzige Katastrophe.
~
Musik kann die ganze Welt in den Schatten stellen.
Sie übertönt alle anderen Geräusche und lässt mich sogar die Menschenmassen um mich herum ein bisschen vergessen.
Keine Frage, sie sind immer noch da. Viel zu viele Leute, die trotz der späten Uhrzeit noch unterwegs sind. Sie stressen mich, machen mir Angst, aber die Musik hilft mir dabei, sie größtenteils auszublenden.
Je weiter ich mich vom Stadtzentrum entferne, desto weniger Betrieb herrscht um mich herum und desto freier kann ich wieder atmen. Der kalte Nachtwind weht durch meine Haare, zerrt an meiner Jacke, und ich ziehe den Reißverschluss höher bis vor mein Gesicht, um mich vor den eisigen Böen zu schützen, die um mich herum wirbeln.
Als ich die Haltestelle erreiche, bin ich trotz meines warmen Mantels ziemlich durchgefroren und ich will gar nicht wissen, was für ein Durcheinander gerade in meinen dunklen Haaren herrscht.
Ich werfe einen Blick auf das kaputte Display meines Handys. Mein liebster bester Freund hat mich nach Feierabend noch ewig aufgehalten, weshalb ich meine Bahn verpasst habe und nun noch etwa zwanzig Minuten auf die nächste warten darf.
Genervt lasse ich mich auf die viel zu kalte Bank fallen und starre auf den Boden, während ich der Musik lausche.
Mit geschlossenen Augen wippe ich im Takt zur Musik.
Zwanzig Minuten bedeuten ungefähr fünf Lieder.
Und es bedeutet, dass ich bis zur Ankunft der Bahn vermutlich ein menschlicher Eiszapfen sein werde, denn die mit Graffiti besprühten Wände der Haltestelle schirmen mich nicht sonderlich gut von den frostigen Windböen ab.
Ich kuschle mich enger in meinen Mantel und schließe die Augen, lausche meiner Musik und versuche die Kälte um mich herum auszublenden.
Nur fünf Lieder. Das geht schneller rum als ich denke und bald bin ich zuhause.
Gerade als mit 'Cassette', das sechste Lied anfängt, fährt mein Zug ein. Das laute Quietschen der Bremsen dringt trotz meiner Kopfhörer an meine Ohren und ich öffne die Augen, kehre nur langsam in die Realität zurück.
Warme Luft empfängt mich, als die Türen vor mir sich öffnen und ein wohliges Gefühl breitet sich in mir aus, was durch die gedimmten Lichter im Zug noch verstärkt wird.
Zum Glück ist der Waggon fast leer, nur ein älteres Ehepaar und ein Junge etwa im meinem Alter sitzen ein Stück von mir entfernt. Das Paar unterhält sich angeregt miteinander, während der Junge ebenfalls Kopfhörern auf den Ohren hat.
Immer wenn ich Menschen mit Kopfhörern sehe, frage ich mich, was sie in diesem Moment hören. Ich würde gerne wissen, welches Lied sie gerade von der Realität ablenkt, welche Melodie ihnen Freude bringt.
Aber man kann nun einmal schlecht zu Fremden Menschen hingehen und sie genau das fragen. Vor allem nicht, wenn man so ist wie ich es bin. Dabei wäre das unglaublich interessant. Der Musikgeschmack sagt so viel über eine Person aus.
Gedankenversunken lasse ich mich auf den erstbesten Sitz fallen und öffne gerade meinen Mantel, als meine Musik abbricht.
Genervt ziehe ich mein Handy aus der Tasche. Das Ding ist leider schon etwas älter und spinnt in letzter Zeit ziemlich. Das Display reagiert generell nicht mehr so gut und zusätzlich dazu fühlen sich meine Finger an wie Eiszapfen und es dauert bis die Einstellungen sich öffnen. Meine Kopfhörer haben sich mal wieder von meinem Handy getrennt, was in den vergangenen Tagen leider dauernd passiert ist, und es dauert ewig, bis die beiden Geräte sich wieder miteinander verbunden haben.
Ich drücke auf Play und nach ein paar weiteren Augenblicken startet die Musik wieder. Entspannt lehne ich mich in meinem Sitz zurück und lausche der vertrauten Stimme von Demian.
Eine halbe Stunde dauert es von hier zu meiner Station, so lange kann ich eigentlich ein bisschen schlafen.
Obwohl, bei meinem Glück schlafe ich wahrscheinlich so lange, dass ich meinen Ausstieg verpasse. Ich überlege gerade, ob ich mir einen Wecker stellen soll, da zieht etwas anderes meine Aufmerksamkeit auf sich.
Das Lied, das gerade startet, habe ich noch nie zuvor gehört und ich bin mir definitiv sicher, dass es sich nicht auf meiner Playlist befindet.
'Star', wie ich meine Playlist liebevoll genannt habe, besteht ausschließlich aus Liedern, die ich kenne und liebe, jedes einzelne von ihnen sorgsam ausgewählt. Ich habe seit Monaten keine neue Musik mehr hinzugefügt, weil ich nichts mehr gefunden habe, was mir so gut gefällt, dass es meiner Playlist würdig ist. Aber dieses Lied...
Ich ziehe mein Handy aus meiner Tasche, möchte den Titel lesen, der wie auch immer seinen Weg auf mein Handy gefunden hat. Vielleicht hat mein Bruder das Lied hinzugefügt oder Spotify hat sich selbstständig gemacht. Unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich.
Mein Display leuchtet auf und ich ziehe überrascht die Augenbrauen zusammen. Das Lied, das meine Kopfhörer gerade abspielen, ist definitiv nicht 'Rise', wie mein Handy behauptet.
Mehrmals drücke ich auf meinem Display herum, bis sich das Pausenzeichen in ein Play-Symbol ändert.
Die Musik aber bricht nicht ab, wie sie es eigentlich tun sollte. Stattdessen klingt weiter diese wundervolle, ruhige Melodie in meinen Ohren und ich höre den nachdenklichen Text, den die sanfte Stimme des Sängers singt.
Ist mein Handy jetzt endgültig kaputt?
Mit etwas mehr Druck berühre ich das Play-Symbol erneut, aber meine Kopfhörer spielen unbeeindruckt von meinen Bemühungen weiter den unbekannten Song.
Ich schalte ein Lied weiter.
Dann bricht die Musik auf meinen Kopfhörern ab.
Aber obwohl mein Handy verkündet, dass es jetzt 'Breathe' abspielt, tut sich nichts.
Dabei sind meine Kopfhörer doch immer noch mit dem Handy verbunden - oder nicht?
Das schöne unbekannte Lied startet von neuem und ich gebe kurzerhand auf, sperre mein Handy und schaue wieder nach vorne.
Sofort begegne ich dem Blick des Jungen mit den Kopfhörern. Er hat sich zu mir umgedreht und schaut mir jetzt direkt in die Augen.
Seine Augen glitzern wie die Melodien des fremden Liedes - oder reflektieren sie nur die Lichter der Bahn? Nein, ich bin mir sicher, dass Sterne in seinen Augen leuchten.
Ich kann meinen Blick nicht von ihnen abwenden.
Es bleibt nicht einmal genug Platz in meinem Kopf, um mir Gedanken darüber zu machen, wie seltsam es für den fremden Jungen wirken muss, dass ich hier sitze und ihn anstarre. Mein Kopf ist voll mit seinem Anblick und unfähig, über etwas anderes nachzudenken.
Zumindest bis ich von dem sanften Ende des Liedes aus meinen Gedanken gerissen werde.
Aus welchen Gedanken kann ich nicht sagen. Habe ich überhaupt nachgedacht?
Mein Kopf ist plötzlich wie leer gefegt, alles was ich noch weiß ist die Melodie des Liedes, die Stimme des Sängers... und die Augen des Fremden.
Viel zu schnell beginnt das nächste Lied. 'Stay'. Das kenne ich, es ist auf 'Star'. Eines der ersten Lieder in meiner Playlist.
Wahrscheinlich habe ich das fremde Lied unbemerkt hinzugefügt oder Spotify hat sich wirklich einen Scherz erlaubt. Genau, das wird es sein. Und die falsche Anzeige meines Handys liegt einfach daran, dass sich das alte Ding wieder aufgehängt hat.
Aber in diesem Moment hebt der Junge ein paar Sitze vor mir sein Handy in die Höhe. Das Display leuchtet mir entgegen und ich erkenne das Cover von 'Universe'.
Ich muss nicht auf mein eigenes Display schauen um zu wissen, dass mein Handy ein anderes Lied abspielt. Ein Lied, dass nicht über meine Kopfhörer zu hören ist, sondern über ein anderes paar Kopfhörer unweit von mir.
Wie ist das passiert??
Ich spüre die Panik in mir aufsteigen angesichts dieser vollkommen unvorhersehbaren Situation und klammere mich an dem Saum meines Pullis fest. Ich würde gerade gerne wegrennen, aber das Lächeln auf dem Gesicht des Fremden fesselt mich.
Seinen Augen glänzen. Sie lenken mich ab von dem Schwall an Gedanken, die gerade durch meinen Kopf rauschen.
Normalerweise gehe ich Menschen aus dem Weg und das nicht ohne Grund. Die unendliche Auswahl an Worten, die ich in einer Unterhaltung sagen kann, überfordert mich. Ich weiß nie, wie ich mich angemessen verhalte und egal was ich tue, ich bereue es hinterher.
Das ist irgendwann so schlimm geworden, dass ich es manchmal nicht schaffe, meine Wohnung zu verlassen aus Angst davor, was mich draußen erwarten könnte.
Und selbst an Tagen, an denen ich mich überwinden kann und raus gehe, überfordern meine Gedanken mich, sobald ich mich Menschen nähere.
Es ist schwierig, meinen Kopf verstummen zu lassen. Normalerweise hilft da nur Musik oder ein gutes Buch zur Ablenkung - aber das Lächeln des Jungen eben hat ebenfalls Wunder bewirkt.
Ich schaue weg und sofort werden meine Gedanken wieder lauter. Was tue ich jetzt? Trenne ich die Verbindung zu seinen Kopfhörern? Ignoriere ich ihn und sein verdammtes Lied und höre weiter meine Musik? Versuche ich, ihn mit meinen üblichen Wegen auszublenden? Ich habe ein Buch in meiner Tasche, ich kann gleich lesen. Dann schlafe ich auch nicht ein und verpasse meinen Ausstieg nicht.
Ist das unhöflich? Muss ich mich dafür entschuldigen, dass ich mein Handy offensichtlich mit den falschen Kopfhörern verbunden habe? Ist das angemessen oder lacht er mich aus, wenn ich jetzt wieder zu ihm schaue?
Der Zug kommt langsam zum Stehen und die Welt um mich herum wird langsamer, während mein Kopf dafür immer schneller rast.
Aus den Augenwinkeln sehe ich das Ehepaar aufstehen und zur Tür laufen. Dann steht auch der Junge auf und plötzlich wird das Kuddelmuddel in mein Gehirn wieder leiser.
Nur eine einzelne Stimme bleibt laut, sticht aus den vielen gedämpften Klängen hervor und drängt mich dazu, auch aufzustehen, auf ihn zuzulaufen und ihn nach dem Titel des unbekannten Songs zu fragen. Denn trotz allem will ich wissen, welches Lied das war.
Wäre ich nur mutiger...
Ich erwarte, dass der Junge den beiden anderen Fahrgästen durch die Tür folgt, aber stattdessen läuft er direkt auf mich zu.
Eine Wende der Ereignisse, die ich so nicht erwartet habe.
Mit großen Augen schaue ich zu ihm hoch, sehe die Sterne in seinen Augen glitzern.
Seine Lippen bewegen sich, aber ich verstehe ihn nicht. Und das liegt nicht an meinen Kopfhörern, der Junge hat die Musik nämlich längst pausiert so wie ich auch.
Ich kann meine Umgebung hören. Ich kann ihn hören.
Aber ich bin viel zu überwältigt von der umwerfenden Präsenz des Menschen vor mir, als dass ich mich auf seine Worte konzentrieren kann.
Er deutet auf den Sitz mir gegenüber und ich nicke ohne zu zögern. Mein Körper handelt wie von selbst und gewährt es dem Fremden, sich zu mir zu setzen. Was jetzt? Ich habe keine Ahnung, deshalb bleibe ich stumm ihm gegenüber sitzen und betrachte ihn aufmerksam.
Ich kann mir nicht erklären, wieso ich gerade keine Angst mehr habe.
Ich sitze mitten in der Nacht alleine mit einem Fremden im Zug, der wohlgemerkt doppelt so breit ist wie ich, aber ich fürchte mich nicht vor ihm. Im Gegenteil.
Vielleicht liegt es daran, dass ich seine Playlist gehört habe. Lieder erzählen viel über den Menschen, der sie hört.
Vielleicht ist es aber auch die Ruhe, die er ausstrahlt und die sich auf mich überträgt. Ich entspanne mich gänzlich unter dem warmen Blick, mit dem er mich betrachtet.
Seine etwas längeren blauen Haare umspielen seine weichen Gesichtszüge, die einen starken Kontrast zu seinem restlichen Aussehen bilden.
Dass ich ihn gerade hemmungslos anstarre und alles andere um mich herum vergesse, realisiere ich erst, als der junge Mann sich vorbeugt und sanft meine Kopfhörer absetzt.
Mein Herz macht einen kleinen Sprung bei der plötzlichen Nähe und ich habe den starken Verdacht, dass das auch meinem Gegenüber nicht entgeht, denn es bildet sich ein verschmitztes Lächeln auf seinen Lippen.
„Du hast einen tollen Musikgeschmack", sagt er leise und dieses Mal schaffe ich es, seinen Worten zu folgen.
‚Danke, du auch.' ‚Das kann ich nur zurückgeben.' ‚Und du erst.' Oh Gott, bloß nicht. Ist nur danke zu unhöflich? ‚Vielen Dank, deiner ist auch echt toll.'
Wieso klingt das alles so dumm? Aber ich kann nicht einfach nichts sagen.
„Dankeschön."
Wieso zittert meine Stimme so?
„Ist es wirklich okay, dass ich mich zu dir gesetzt habe?" Seine Stimme klingt besorgt und die Sterne in seinen Augen leuchten Verständnis aus. Es ist okay, wenn ich jetzt sage, dass ich alleine gelassen werden will. Er wird nicht böse sein, sagen die Sterne.
Aber seltsamerweise will ich das gar nicht.
„Ja."
‚Bitte ignorier meine Unfähigkeit.' ‚Es liegt nicht an dir.' ‚Ich will mit dir reden.' ‚Bitte geh nicht!'
„Reden ist schwierig, aber ich möchte... gerne mit dir reden."
Oh Gott, was war das denn? Wenn ich so weiter mache, bekommt er noch Angst vor mir. Wirklich toll gemacht, Yoongi.
„Das stimmt, reden ist schwer. Bitte nimm dir alle Zeit, die du brauchst. Ich möchte nämlich auch gerne mit dir reden."
Er streicht seine Haare zurück und sieht dabei plötzlich viel kleiner aus, als er bis eben noch gewirkt hat. Fast könnte man ihn als verlegen beschreiben...
Moment: reden. Ich bin jetzt an der Reihe, etwas zu sagen, oder? Was sage ich?
„Wie hieß das zweite Lied?", nimmt er mir diese Überlegung ab und bevor ich nachfragen kann, fängt er an die Melodie von 'Rise' zu summen.
Seine Stimme klingt wie das Leuchten seiner Augen und ich lausche ihm andächtig, bevor ich die Frage beantworte.
„Rise von Taemin. Du kannst sehr, sehr gut singen", kommt es wie automatisch aus mir. Und wow, ein vollständiger Satz ohne seltsamen Stotterer. Und ich habe gar nicht darüber nachgedacht, was ich sage. Hätte ich es anders sagen sollen?
„Dankeschön", unterbricht er die sich anbahnende Gedankenspirale galant und fasziniert nehme ich wahr, wie sich mein Inneres beruhigt. Mit einem einzigen Wort hat er es geschafft, meine Zweifel verstummen zu lassen. Wie macht er das?
Die Zugdurchsage kündigt die nächste Haltestelle an und ich merke, dass ich mir wünsche, dass er noch nicht aussteigt. Dass er noch weiterfahren muss und wir uns noch unterhalten können.
Das Glück scheint auf meiner Seite zu sein, denn er macht keinerlei Anstalten dazu, aufzustehen.
Im Gegenteil, er beginnt eine Unterhaltung:
„Wieso bist du so spät unterwegs? Verzeih die Frage, du musst nicht antworten. Ich fahre nur immer um diese Uhrzeit und treffe nur selten Menschen hier", erklärt er und ich erzähle kurz und etwas holprig von meinem Nebenjob in der der Bücherei und meinem besten Freund, der mich heute aufgehalten hat, weshalb ich jetzt hier bin, wo ich bin.
„Was ein Glück", antwortet er und ich spüre, wie meine Wangen warm werden.
„Was machst du sonst so?", fragt er weiter, bevor ich anfangen kann zu überlegen, was ich jetzt sagen könnte.
„Ich studiere Musikwissenschaften im fünften Semester." Das war ein guter Satz. Oder ist es ein bisschen knapp geraten? Wirke ich abweisend?
„Wow wie spannend. Musik ist toll, ich hab auch überlegt, ob ich eher in diese Richtung was machen will, aber jetzt studiere ich Tanz und Performance und bin damit wirklich happy."
Kein Wunder, dass er so sportlich aussieht.
„Auch sehr spannend", antworte ich vorsichtig und er lacht glücklich als Antwort.
Ich will nicht, dass diese Unterhaltung nur von ihm ausgeht. Sonst will er bestimmt nicht mehr lange mit mir reden.
„Wie hieß das zweite Lied von dir?", stelle ich deshalb die Frage, die mir sowieso schon die ganze Zeit auf der Zunge gelegen hat.
„Boy with a star von Hyuk. Moment."
Er zieht sein Handy aus der Tasche und tippt kurz darauf herum, ehe das Lied erklingt.
Ich kann mich nicht daran erinnern, jemals laut in einem Zug Musik gehört zu haben. Generell Musik in der Öffentlichkeit ist schwierig, ich werde schon unruhig, wenn ich mit Arbeitskollegen oder Freunden von Taehyung unterwegs bin und die zu laut oder auffällig sind.
Aber jetzt gerade sind die einzigen hier und es gibt niemanden, den wir stören könnten. Es fühlt sich fast so an, als wären wir alleine auf dieser Welt.
Mein Gegenüber erhöht die Lautstärke und zusammen mit den Lichtern der Stadt vor unserem Zugfenster fühlt es sich fast an, als würden wir durch das Universum fliegen. Es ist atemberaubend.
Leise fängt er wieder an zu singen. Seine Stimme passt perfekt zu der des Sängers und dem Lied insgesamt, sie vereint all die Emotionen, die der Song enthält.
Am liebsten würde ich ihm ewig zuhören.
Aber unsere Zeit ist begrenzt. Meine Haltestelle kommt schon bald und wer weiß, vielleicht muss er ja noch früher aussteigen?
Ich will noch nicht gehen. Ich möchte hier bleiben in dieser einzigartigen, wundersamen Atmosphäre um kurz vor ein Uhr nachts in einem leeren Zug mit einem Menschen, den ich nicht kenne, der mir aber trotzdem das Gefühl gibt, dass er mich so akzeptiert, wie ich bin. Dass ich in seiner Anwesenheit nicht jedes Wort zu lange hinterfragen muss. Diese ganze Situation ist so seltsam und wunderschön, dass ich nicht anders kann, als leise zu lachen. Als er das Geräusch wahrnimmt, hält er im Singen inne, schaut mich mit großen Augen an, ehe sich ein glückliches Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitet.
Das hier wirkt gerade irgendwie ein ganzes Stück zu unrealistisch.
Vielleicht bin ich doch eingeschlafen und träume das alles nur?
„Sing mit", fordert er mich in diesem Moment auf und ich zögere nur kurz, bevor ich leise mitsumme.
Ich kenne den Text nicht, bin mir nicht sicher, ob ich die Melodie so richtig singe, aber es spielt keine Rolle.
Dieser einzigartige Junge, den die Sterne mir geschickt haben, sitzt vor mir und will mit mir zusammen singen. Wen kümmert es da schon, wenn meine Töne ein bisschen schief klingen im Vergleich zu seiner Engelsstimme. Mich ausnahmsweise nicht.
Ich werde getragen von den Sternen in seinen Augen und plötzlich können meine Gedanken mir nichts mehr anhaben. Es wird nicht so bleiben, das weiß ich. Die Landung nach einem solchen Höhenflug wird schmerzhaft, auch das weiß ich.
Aber im Moment zählt nur die Gegenwart und in der greife ich mit dem Sternenjungen nach den höchsten Sternen. Ich fühle mich gut.
Das Lied endet viel zu schnell, aber was bleibt ist die leichte und befreiende Stimmung zwischen uns und plötzlich ist es so einfach, mit ihm zu reden. Und das tue ich.
Er dämpft meine negativen Gedanken zumindest für diesen Moment und das ist alles was ich brauche um zu wissen, dass ich diesen Jungen besser kennenlernen will. Besser, als eine einzige gemeinsame Zugfahrt das ermöglicht.
Ich nehme nur aus dem Augenwinkel wahr, dass wir an meiner Station einfahren, aber alles worauf ich mich konzentrieren kann, sind die Sterne in den Augen meines Gegenübers.
Also bleibe ich sitzen.
Und Jeongguk tut es mir gleich.
Im Hintergrund läuft leise seine Playlist und wir reden und reden und reden, haben die Zeit schon komplett vergessen.
Ich habe keine Ahnung, wo genau wir eigentlich sind, was zählt ist nur unser gemütlicher Vierersitz im warmen Zug.
Aber kein Zug fährt für immer und jede Fahrt findet irgendwann ihr Ziel.
„Endstation, bitte alle aussteigen", fordert die blecherne Stimme der Zugdurchsage uns auf, aber der Junge und ich - die einzigen Fahrgäste - bleiben beide noch auf unserem Platz sitzen.
„Das ist nicht deine Station, oder?", erkundigt Jeongguk sich sanft und ich schüttle den Kopf.
„Meine auch nicht. Aber ich wollte vorhin nicht aussteigen."
Ein Zwinkern und ein lockeres Lachen und schon fühle ich mich weniger lächerlich für meine Aktion, einfach sitzen zu bleiben, ohne zu schauen, ob um diese Uhrzeit überhaupt noch ein Zug zurückfährt.
Das nachzuschauen übernimmt Jeongguk, während wir Seite an Seite den Zug verlassen.
„Also, da der nächste Zug zurück erst in eineinhalb Stunden fährt, hast du Lust, mit mir einen Kaffee zu trinken? Da drüben ist ein Bistro, das hat laut Maps immer offen."
„Ja, sehr gerne."
Wir verpassen den nächsten Zug und machen uns erst kurz vor Sonnenaufgang wieder auf den Rückweg, voll mit Kaffee und so glücklich wie lange nicht mehr.
Als wir beide an unserer Station aussteigen tauchen die ersten Strahlen des neuen Tages die Stadt in ein warmes Licht.
~
Jeden Tag kann ein Wunder passieren.
Jeden Tag kann eine Katastrophe passieren.
Ich denke, das alleine ist ein Wunder.
Wir können nie einschätzen, was unser Handeln in der Zukunft für eine Rolle gespielt haben wird.
Also warum sollten wir uns Sorgen machen?
Wir können keinen Einfluss nehmen auf das, was uns passieren wird. Unser Leben hängt von viel zu vielen Faktoren ab, die wir nicht verändern können.
Wir können nur an uns selbst arbeiten. Und das ist eine Menge!
Wir können stolz und zufrieden sein auf das, was wir sind.
Den Menschen um uns herum ein Lächeln schenken.
Den Menschen Liebe schenken. Denn Hass gibt es schon viel zu viel.
Wir wissen nie, was für eine Bedeutung unser Lächeln auf andere haben kann. Vielleicht retten wir ein Leben, nur indem wir unsere Mundwinkel in die Höhe ziehen. Vielleicht können wir einer anderen Person, die wir nicht kennen und niemals kennen werden, Hoffnung schenken, die sie braucht.
Ich habe Hoffnung geschenkt bekommen, an einem Tag, an dem ich nie damit gerechnet habe, Hoffnung zu finden.
Ich habe ein Lied geschenkt bekommen.
Ein Lied, das mich daran erinnert, dass ich okay bin, so wie ich bin. Dass ich nicht alle Dinge zigfach überdenken muss.
Und ein Lied, das mich daran erinnert, wie ich meinen Freund kennengelernt habe. In einer kalten Winternacht, weil ich einen Zug später gefahren bin als normalerweise.
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In unserem nächsten Türchen erwartet euch:
Ein normaler Arbeitstag in der Schneiderei. Und ein Mann, der irgendwie eine viel zu ruhige Persönlichkeit hat, als dass Jimin ihn nicht mögen könnte.
(sunnbird)
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