S. 10

23.06.2020

Ich kann sie hören. Ich kann beide hören. Kino und seinen Vater. Beide, wie sie aufeinander einbrüllten. Es fing zwischen den beiden immer ruhig an, bevor sie beide die Geduld verloren und anfingen so laut zu werden, sodass alle im Haus sie hören konnten. Sie waren unten und ich oben. Meine Tür war zu. Aber ich hörte jedes einzelne Wort. Kino's Vater war wohl wütend. Wütend, weil sein Sohn irgendeine Aufgabe nicht gut machte. Er machte seinen Job nicht richtig. Das war öfter so. Öfter mal diskutierten beide, weil Kino meinte, seine Arbeit richtig gemacht zu haben, aber sein Vater behauptete, dass er es nicht tat. Ich wusste dabei nicht, über welche Arbeit gesprochen wurde und zu fragen... Das traute ich mich nicht. Ich beobachtete lieber nur, hörte zu und analysierte im Schweigen. Kino kam nach den Diskussionen meistens ziemlich erschöpft wieder. Er war danach immer sehr auf meine körperliche Nähe aus. Er wirkte nach einer Konfrontation mit seinem Vater nie wirklich wütend, sondern eher... Traurig und verletzt. Sein Vater schlug ihn ja auch ständig. Nicht immer, aber oft. Es kam nicht selten vor, dass Ärzte vorbeischauen mussten, um Kino zu verbinden oder zu kontrollieren. Sein Vater hatte ihn schon oft übel zugerichtet. Ihn. Kino's Bruder und Kino's Mutter. Mister Kang schreckte dabei nie zurück. Bei all der Gewalt, die um ihn herum geschah und „normal" war, wie könnte er auch? Ich war überrascht, dass Kino seinen Vater nicht zurückschlug. Das kam noch nicht vor, wobei ich das jedoch nicht ausschloss. Eines Tages würde er zurück hauen. Das hatte er mir selbst gesagt. Bis dahin... War es bloß Mister Kang. Der Vater, der wild auf seinen Sohn einschlug...

S. 11

So ähnlich, wie jetzt... Ich konnte hören, wie etwas durch die Gegend flog und zerbrach. Sicherlich aus Wut. Ich konnte mir schwer vorstellen, dass Gegenstände benutzt wurden, um jemanden zu schlagen. Obwohl... Das gar nicht unwahrscheinlich war. Kino wurde gerade windelweich geprügelt. Ich fühlte das. Ich hörte es, dadurch, dass das Gebrülle nachließ. Nur waren das meine Vermutungen, nichts sicheres... Ich konnte mir erst sicher sein, wenn ich es selbst sah. Sobald ich Kino mit Wunden sah, würde es mir bestätigt werden. Somit... Musste ich warten. Oft sagte mir Kino, sein Vater hätte ihn verkorkst. Aber ich wiederhole mich gerne noch einmal. Kino wurde Böse geboren. Sein Vater, nein, seine Familie. Seine Familie förderte diese böse Ader in ihm nur. Sie förderten es beieinander, durch ihre tägliche Gewalt, die sich gefühlt verstärkte. Kino brauchte nach keinen Erklärungen suchen. Er brauchte nach keinen Entschuldigungen suchen. Er war einfach böse. Das war eine Sache, die er nicht ablegen konnte, selbst, wenn er es gewollt hätte. Die Kaltherzigkeit wurde ihm angeboren, es floss durch sein Blut. Er lernte es nie anders. Er war mit Hass und Brutalität groß geworden. Kino würde es niemals verstehen. Er könnte niemals das sehen, was ich in ihm sah. Er glaubte... Weil er mit mir anders umging und mir Geschenke machen konnte, war er gut. Aber so lief das nicht. Man konnte nicht nur zu einer Person gut sein, während all die anderen Menschen dir egal waren. Zumal er mir gegenüber auch immer die schlimmste Version seiner Selbst sein konnte. Er war unberechenbar. Jemand, dem man besser nicht begegnen sollte...

S.12

So war er. Er-


Abrupt hielt ich im Schreiben inne. Mein Kopf schoss hinauf, als ich die Tür hörte. Wie von einem Blitz getroffen, schlug ich das Buch zu und schob es mit dem Stift direkt unter das kleine Bett. Ich war noch dabei es reinzuschieben, da wurde die Tür geöffnet und Kino stand im Raum. Das Blut, dass durch meine Adern floss, gefror zu Eis, sobald seine Augen zu mir runtersahen. Mein Herz hörte auf zu schlagen. In erster Linie, ja. Weil ich mich fragte, ob er gesehen hatte, wie ich das Buch drunter schob. Auch erstarrte ich, weil Kino aussah, wie er eben aussah. In seinem bleichen Gesicht konnte ich offene Wunden erkennen. Auf sein Nasenbein war eines vorzufinden und seine Unterlippe blieb auch nicht verschont. Mein Herz zog sich zusammen, obwohl es das nicht sollte. Ich lag mit meinen Vermutungen richtig. Sein Vater hatte ihn wieder einmal geschlagen, bis er blutete, wobei er dieses Mal sanfter war. Unter anderen Umständen fiel Kino sogar das Laufen schwer...

„Kino...?", sprach ich leise zu ihm.

Mit zusammengebissenem Kiefer drückte er seine Zimmertür zu, als er in meine Richtung nickte. Er ignorierte, dass ich zu ihm sprach.

„Was tust du da auf dem Boden?", fragte er stattdessen, dabei klang seine Stimme sehr tief.

„Was?", blinzelte ich.

Mein Herzschlag verschnellerte sich. Automatisch wich ich beiseite, weil er auf mich zukam.

„Warum sitzt du da? Hast du was unter dem Bett versteckt?"

Obwohl er eben geschlagen wurde und eigentlich keinen Kopf dafür haben sollte, beugte er sich zu mir runter. In die Knie gehockt, fasste er mit seiner Hand unter das Bett. Mit großen Augen beobachtete ich, wie er das Buch hervor holte. Nein... Nein! Innerlich schrie ich auf. Das konnte doch jetzt nicht wahr sein, oder? Er hatte es gefunden. Kino... Kino hatte mich erwischt. Er fand das Buch, welches andere als Tagebuch beschreiben würden. Das Buch, in das ich nicht immer gut über ihn sprach...

„Das Buch, hm? Das, was ich dir geschenkt habe..."

Durch große Augen sah ich, wie er es hin und her schwenkte, bevor er es mit beiden Händen fasste. Er blätterte es flüchtig durch.

„Du hast sogar reingeschrieben! Wow, Golden. Wann wolltest du mir das erzählen?"

Gar nicht! Das schrieen meine Gedanken. Er durfte nicht lesen, was drinnen stand. Seine Wut wäre nicht von dieser Welt, wenn er es täte. Ich hatte einige gemeine Sachen über ihn reingeschrieben. Er... Er wird mir weh tun... Die Erkenntnis traf mich wie ein Schlag ins Gesicht. Er wird mich verletzten! Schwer. Verletzen. Wie konnte ich nur so dumm sein!

„Was ist?", sah er zu mir. „Soll ich etwa nicht lesen, was drinnen steht?"

Er lachte auf. Dabei... Dabei war gar nichts an der Situation zum Lachen. Absolut nicht!

„Wir haben keine Geheimnisse voreinander. Vergiss das nicht.", erhob er sich.

„Aber...", versuchte ich es.

„Kein Aber. Ich bin gespannt darauf, was du reingeschrieben hast. Wird sicher interessant zu lesen."

Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Ich fing bereits an zu schwitzen. Vor allem dann, als er beschloss das Zimmer zu verlassen. Mit dem Buch! Ich schluckte. Oh, nein... Er war so schon wegen seinem Vater angespannt gewesen... Nun kam das Buch dazu... Ich war erledigt. Ich... Ich war definitiv erledigt... Ich... Ich würde sterben. Nach heute würde ich sterben...

———

Upps... Kino hat das Buch gefunden und möchte es nun lesen. Was meint ihr? Wird er wütend, wenn er weiß, was Golden reingeschrieben hat? Wird er es überhaupt lesen? Was denkt ihr?

In love, N 🥰

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