Kapitel 9 - Die Bärenkrallen
Veikkos Herz schlug ihm bis zum Hals, als er Kjartan und Liam folgte, die ihn aus Kilgrim in Richtung des Waldes führten. Wieso hatte er nicht einfach den Mund halten können? Es ging um seine Freunde, aber womöglich hatte er tatsächlich zu voreilig gehandelt.
»Mann, Veikko! Bart ist der Anführer der Bärenkrallen!«, schnaubte Liam entsetzt. »Was hast du dir dabei gedacht? Die hassen uns!«
Das war in der Tat eine gute Frage. Veikko wusste selbst nicht, wie er darauf antworten sollte, ohne sich wie einen vollkommenen Idioten darzustellen.
»Der Typ macht dich platt!«, ergänzte Kjartan die Bedenken seines Freundes, bevor er mit einem Hasenhüpfer über einen winzigen Bach hopste, der vor ihren Hufen lag.
Veikkos Ohren schwangen beleidigt nach hinten, als er seine Freunde so laut denken hörte. »Vielen Dank für euer Vertrauen!«
Er konnte es nicht leiden, wenn man ihm weniger zumutete, als das, zu was er sich selbst fähig fühlte. Es war sein elender Stolz, der ihn zu solchen Taten trieb und um nichts in der Welt würde er jetzt einen Rückzieher machen. Klar würde Bjame ihm den Kopf für diese Tat abreißen, andererseits hätte er wohl genauso gehandelt. Und wer könnte es ihm verübeln? Dieser Bart war ein Rüpel und ein Raudi. Er hackte mit seinem Gefolge vollkommen grundlos auf Pferden herum, die sich nicht wehren konnten und das nur, um sich mächtig zu fühlen.
Im Grunde genommen war er keinen Deut besser, als Eirik!
»Es ist nicht, dass wir glauben, dass du das nicht schaffst«, Besorgnis schwang in Liams Ton mit. »Wir denken nur, dass du womöglich-«
»Nicht das Zeug dazu hast, ihn zu schlagen«, japste Kjartan dem Kaltblutfohlen ins Wort. Liam kniff die Augen zusammen und warf dem Schecken einen äußerst mahnenden Seitenblick zu.
»Du denkst wohl auch nur von Feld bis Salat, oder Kjartan?«
Der gescheckte Junghengst atmete tief ein und blähte vor Beschämung seine Backen auf, ehe er die Luft zischend wieder durch seine Zähne entweichen ließ. Er hatte offenbar nicht bemerkt, dass Liam versucht hatte, die Situation mit seinen Worten etwas zu beruhigen.
»Soll er nur versuchen, mir was anzuhaben«, Veikkos Stimme war nunmehr ein Murren, als er seinen Freunden voraus eine seichte Anhöhe hinaufstieg. »Ich habe ja nicht vor, mich mit ihm zu prügeln.«
»Bist du dir da sicher?«, schnaubte Kjartan besorgt. »Denn ich glaube, dass er es genau so verstanden hat.«
»Wenn er nicht vollkommen hirnlos ist, wird er sich nicht mit Bjames Sohn anlegen.«
Liam und Kjartan brachen darauf augenblicklich in schallendes Gelächter aus. Überrascht wandte sich Veikko um, nur um zusehen zu müssen, wie seine Freunde sich über ihn lustig machten.
»Bart ist vielleicht der schlauste Hengst der Bärenkrallen«, kicherte der Schecke laut, ehe Liam seinen Satz ergänzte. »Aber bei denen ist das ungefähr vergleichbar damit, der größte aller Zwerge zu sein. Viele Muskeln, wenig Hirn. Wenn du die Wahl hast, suche dir ein Duell aus, in dem du dein Köpfchen einsetzen kannst.«
Das klang logisch. Veikko hatte schon bemerkt, dass Bart offenbar nicht die hellste Kerze am Kronleuchter zu sein schien. Aber er würde schon einen Weg finden, ihn zu schlagen.
Seine Freunde trieben ihn weiter, in den Wald hinter Kilgrim hinein, bis sie in einer sumpfigen, leicht nebligen Senke ankamen. Hier roch es mufflig nach Pilzen, nassem Moos, feuchtem Gestein und Erde und das gespenstische Hämmern eines Spechtes hallte von irgendwoher aus dem Wald.
»Brr, hier ist es immer so gruselig«, japste Liam. Ein Schauer erfasste ihn, woraufhin er sich schüttelte, um das schreckliche Gefühl loszuwerden, dass sie beobachtet wurden. Veikko spürte es auch. Laina hatte ihm oft erzählt, dass hier im Wald Bären, Wölfe und Räuber lauerten und nur darauf warteten, dass Fohlen sich ganz allein hineinwagten und dass schon viele unartige Fohlen hier in den Wäldern verschwunden seien.
Ob das wirklich stimmte, stellte er infrage, aber er fühlte sich unwohl, beinahe ängstlich, als er hinunter in die Senke stieg und sich umblickte. Der Nebel verhüllte das, was sich in den Schatten des Unterholzes verbarg und andauernd ertönte ein weiteres, unheimliches Geräusch ganz in der Nähe.
»Wo bleiben die nur?«, wisperte Kjartan angespannt. »Bart würde sich niemals ein Duell entgehen lassen.«
»Der kommt schon noch«, zischte Liam seinem Freund zu, doch auch er zitterte am ganzen Körper. Flanke an Flanke standen sie da und warteten. Es war bald Sonnenuntergang. Da musste er zu Hause sein.
»Hoffentlich wurde Bart entführt oder gefressen«, schnaubte Kjartan bitter. »Dann hätten wir eine Sorge weniger.«
›Arooooouuuuuuuuuuuuu‹, ein klagendes Heulen erhob sich im Wald. Und es war ganz in der Nähe. Wölfe!
In Panik stoben die drei Fohlen auseinander, rasten in verschiedene Himmelsrichtungen, machten jedoch sofort kehrt, als sie merkten, dass sie zusammen bleiben mussten um zu überleben. Fast im selben Moment sprangen sie auf der Hinterhand herum und sausten zurück zur Mitte der Lichtung, wo sie zusammenprallten und über einen Haufen fielen.
Unterdessen regten sich nun auch Gestalten in den Schatten. Rascheln und Knurren war zu hören, als das Wolfsrudel sich zum Angriff bereit machte. Liam und Kjartan sprangen auf, als sie ihre verhedderten Beine neu sortiert hatten, dann halfen sie Veikko auf. Kein Wort musste nun mehr fallen, um die drei aus der Senke hinaus zurück ins Dorf rasen zu lasen, die Wölfe immer dicht auf ihren Fersen.
Veikko hatte schreckliche Angst und für einen Moment fühlte er sich in die Nacht zurückversetzt, in der er selbst aus dem Schloss geflohen war. Er hatte diese Wache mit Leichtigkeit abgehängt. Er durfte jetzt nicht müde werden.
Mit einem gewaltigen Schub von Kraft und Kondition, fegte er vorwärts. Damals waren seine Beine noch lang und ungeschickt gewesen, nun hob er förmlich ab und Flog in Richtung Kilgrim davon.
Erst, als er Liam laut aufschreien hörte, stemmte er alle Viere in den Boden und schlitterte zum Stehen. Gerade eben waren seine Freunde doch noch hinter ihm gewesen. Mit einem Mal waren sie beide verschwunden und hatten ihn alleine zurückgelassen. Aber er hatte doch einen Schrei gehört. Hatten die Wölfe sie erwischt? Der dunkle Wald um ihn herum war auf einmal so gespenstisch still. Beinahe ungewöhnlich. Nicht einmal ein Vogel sang hier, was ungewöhnlich war.
Veikko wagte ein paar Schritte auf dem Weg zurück, auf dem er gekommen war, dann traute er sich nicht weiter.
»Liam? Kjartan?«, rief er in den bereits immer dunkler werdenden Forst. Die Sonne war bereits kurz davor hinter den Bergen zu versinken, die das Tal eingrenzten doch zum Glück erhob sich bereits der strahlende Vollmond am Nachthimmel und tauchte den feuchten Waldboden in ein fahles, blasses Licht.
Veikko erhielt keine Antwort. Stattdessen huschte wieder etwas hinter ihm durch das Gebüsch und er spürte einen Luftzug direkt hinter sich. Der dunkelbraune Hengst trat aus und traf auf festes Fleisch und Knochen, die bei der Wucht seines Trittes knackten.
Ein schmerzverzerrtes Wiehern durchschnitt die Nacht und echote im Wald wieder. Es waren also doch keine Wölfe! Es mussten Räuber sein!
Er musste hier weg! Doch seine Verfolger versperrten ihm den Ausweg aus dem Wald und trieben ihn immer weiter ins Unbekannte hinaus. Veikkos Herz schlug wie wild in seiner Brust, als er versuchte, Haken zu schlagen und schließlich auf ein Dornengebüsch zuhielt, das ihm sehr bekannt vorkam. Es hatte schon einmal so funktioniert. Wieso sollte es nicht wieder klappen?
Doch bevor er das Gebüsch erreichte, traf ihn eine Masse mit solch einer Wucht in die Seite, dass er von den Hufen gerissen wurde und über den lehmigen Boden schlitterte.
Als er endlich still liegen blieb, hatte er nicht einmal Zeit, den Blick zu heben, als ihn ein mächtiger, dicht befiederter Huf mitten ins Gesicht traf.
»Bärenkrallen: Eins zu Null! Wie schade, Großmaul!«
Veikko brauchte gar nicht mehr zu sehen, um zu wissen, wer hier über ihm stand. Bart und seine Freunde hatten sie überlistet. Was hatten sie ihnen je getan, dass sie die so erschrecken mussten? Veikko verstand die Welt nicht mehr.
»Er hätte euch im Stich gelassen. Er hat sich nicht getraut, euch nachzugehen, ihr Trottel!«
Bart wandte sich um und blickte siegessicher zu Liam und Kjartan um, die von zwei seiner Gefolgsleute, einem Fuchs und einem Rappen, ebenfalls beide Kaltblüter, festgehalten wurden. Der dritte im Bunde, ebenfalls ein Rappschecke wie Bart, hatte eine blutige Nase und ließ die Zunge schlapp aus dem Maul hängen, um das laufende Rinnsal auflecken zu können, das sich aus seiner Nase ergoss. Nun wusste Veikko auch, wen sein Tritt vorhin getroffen hatte.
»Er hat nach uns gerufen und er ist zurückgelaufen!«, keifte Liam den hochmütigen Rappschecken giftig an. Seine Nüstern bebten vor Zorn, als er das Maul aufriss und seine schiefen Zähne entblößte. Doch Bart lachte nur.
»Das war nur ein Vorgeschmack auf Duell Nummer Zwei, Würstchen!«, schnaubte er höhnisch. »Aber für diese Prüfung brauchst du das!«
Er schnappte sich einen langen Stock vom Boden und warf ihn Veikko zu. Der junge Hengst versuchte den Stab mit den Zähnen zu fangen, bekam ihn jedoch mit voller Wucht im Gesicht ab und ließ ihn vor Schreck fallen.
Unterdessen hatte Bart einen zweiten Stock gefunden und damit eine gerade Linie zwischen die beiden auf den Boden gezeichnet, die die zwei Pferde voneinander trennte.
»Dieses Spiel, mein kleiner, waghalsiger Freund«, begann er grinsend, »nennt sich Klabauter.«
Angsterfülltes Schnauben war von Veikkos Freunden zu hören, als dieses neue Wort fiel. Von so einem Spiel hatte er noch nie etwas gehört.
»Wir werden diese Stäbe dazu benutzen, um uns gegenseitig über diese Linie zu treiben. Quasi wie bei einem Schwertkampf«, erklärte Bart nun, auf und ab schreitend. »Ziel des Spiels ist es, seinen Gegner zu schlagen – wortwörtlich. Und wie ein Klabauter wird das Spiel erst verlassen, wenn das Schiff – in diesem Fall der Gegner – untergeht.«
»Wozu dann die Linie, wenn der Gewinner doch ohnehin der ist, der den anderen zuerst in die Ohnmacht geprügelt hat?«, murrte Veikko verständnislos. Bart rümpfte die Nüstern, blickte zum Boden und wieder zurück und legte dann aggressiv die Ohren an.
»Wen juckt das? Weil ich das so sage!«
Liam und Kjartan wechselten verschwörerische Blicke, bevor sie mit den Augen rollten. Ja, in der Hinsicht mochten sie recht behalten. Bart war ein Idiot.
»Also, bereit?«
Nein, Veikko war nicht bereit. Er hatte noch nie einem anderen Pferd wehgetan und er wollte sich auch nicht prügeln. Aber wenn er nun floh, würden Bart und seine Kumpels ihren Zorn sicherlich an Liam und Kjartan auslassen und das musste er verhindern. Auch wenn das bedeutete, dass er sich in Stücke reißen lassen musste. Also nickte er nur.
Er wusste, wie man Holz mit einer Axt zerteilte. Das hier würde nicht anders sein. Weniger noch, schließlich hing an dem Stock nicht einmal das Gewicht der eisernen Axt.
»Gut, dann LOS!«
Bart machte sofort einen gewaltigen Satz nach vorne, um Veikko zurückzutreiben. Die Wucht seines Stockhiebes traf ihn an der empfindlichsten Stelle seines Halses und schmerzte, wie hundert Hornissenstiche. Tapfer biss Veikko die Zähne zusammen. Er konnte das schaffen! Er musste nur-
Ein weiterer Hieb traf ihn im Gesicht. Mittlerweile hatte Bart ihn schon weit über seine Markierung hinaus getrieben.
Schlag Nummer drei traf ihn an der Stirn. Warme Flüssigkeit rann dem Fohlen die Stirn herab, als er wieder zur Besinnung kam. Mittlerweile war Bart zu einer verschwommenen Silhouette geworden, die sich vor ihm wie in Zeitlupe bewegte.
Veikko hörte das Blut in seinen Ohren rauschen, hörte die Rufe von Barts Freunden, wie sie ihn entfernt anfeuerten und wie Liam und Kjartan seinen Namen riefen. Rote Flüssigkeit rann über seine Augen. Veikko schnappte nach Luft.
Bart hatte ihn verletzt. Völlig unbegründet, völlig sinnlos, einfach nur des Spaßes an der Grausamkeit willen. Genau, wie Eirik seine Mutter hatte töten lassen, obwohl sie nur Gutes im Sinn gehabt hatte.
Mit einem Mal färbte sich alles vor seinen Augen rot.
Kein Pferd sollte es jemals wagen, ihm oder irgendeinem anderen lieben, unschuldigen Pferd auch nur ein Haar zu krümmen!
Zornig biss Veikko fester auf seinen Stock, holte aus und schlug zu. Wieder und wieder und wieder.
Bart machte einen überraschten Satz zurück, als das wildgewordene Fohlen sich auf ihn stürzte, ihm mit dem Stab die Beine unterm Körper wegzog und schließlich den Stock wegwarf, um mit den Hufen nach ihm zu treten.
Der Zustand hielt nur wenige Sekunden an, doch als Veikko sein Werk sah, erkannte er erst das Ausmaß dessen, was er angerichtet hatte. Barts Nase war blutig und merkwürdig gewölbt. Vielleicht war das Nasenbein gebrochen. Außerdem fehlte ihm überall Fell und kleine Hautfetzen hingen lose an ihm herab, als er sich zappelnd freistrampelte.
Hatte Veikko gewonnen?
Das Fohlen stolperte rückwärts und spürte nur noch einen heftigen Tritt vor die Stirn, den Bart ihm verpasste, bevor die Welt vor seinen Augen verschwand.
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